Antje Schrupp im Netz

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Wer hat Angst vor Victoria Woodhull?

Sie wollte Präsidentin von Amerika werden und wurde aus den Geschichtsbüchern getilgt

BildIn der amerikanischen »Wer wird Millionär«-Show war es kürzlich die 250.000-Dollar-Frage: Wie hieß die erste Frau, die Präsidentin der USA werden wollte? Die Frage war für den Kandidaten zu schwer – kein Mensch kennt heutzutage Victoria Woodhull.Noch schwieriger wäre wahrscheinlich die Frage gewesen, in welchem Jahr sich Woodhull als erste Frau für die Präsidentschaftswahlen der USA aufstellen ließ. Die meisten hätten wohl im sicheren Glauben, das könne ja frühestens nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1920 gewesen sein, wagemutig daneben getippt. Die richtige Antwort ist nämlich ziemlich unglaublich: 1872!

Victoria Woodhull war aber noch mehr als nur die erste Präsidentschaftskandidatin. Sie war auch die erste Frau, die an der Wall-Street eine Brokerfirma gründete, sie war eine bekannte Rednerin und Herausgeberin einer unkonventionellen Wochenzeitung, die erste Frau, die je vor einem Ausschuss des Kongresses sprach, und eine maßgebliche Führungsfigur der amerikanischen Arbeiterbewegung – unter anderem gründete sie die ersten englischsprachigen Sektionen der Ersten Internationale in New York.

Eigentlich unglaublich, dass eine solche Frau in Vergessenheit geraten konnte. Schuld ist nicht, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, die patriarchale, bürgerliche Geschichtsverzerrung. Victoria Woodhull ist vielmehr von den Fortschrittlichen, den Reform-Linken in der Frauen- und Arbeiterbewegung aus den Geschichtsbüchern getilgt worden.Sie war ihnen peinlich – und unheimlich. Denn sie verlangte von ihnen, dass sie selbstbewußt zu ihren Überzeugungen stehen und nicht mit Rücksicht auf Bündnispartner und die öffentliche Meinung die Wahrheit verschweigen – ein Thema, das auch heute noch aktuell ist: Kann man es sich als Grünenpolitiker erlauben, konsequent gegen militärische Gewalt zu sein? Kann man es sich überhaupt als Parteipolitikerin die öffentliche Meinung zu brisanten Themen ignorieren und die eigene Meinung ungeschminkt vertreten? Die Erinnerung an Victoria Woodhull ist keineswegs nur von historischem Interesse.

Victoria Woodhull stammte aus, wie man damals sagte, »unrespektablen« Verhältnissen – heute würde man vielleicht sagen, die Familie war »asozial«. Ihr Vater, Buck Claflin, war ein dubioser Kleinkrimineller und Erpresser, die Mutter Annie kommunizierte mit Geistern und trug zum Familienunterhalt bei, indem sie eine selbstgebraute Wundermedizin verkaufte. Schon mit 16 Jahren heiratete Victoria den Arzt Canning Woodhull, von dem sie sich aber einige Jahre später und nach der Geburt zweier Kinder trennte.

Bereits als Kind glaubte Victoria, wie ihre Mutter »mediale« Fähigkeiten zu haben. Jahrelang arbeiteten sie und ihre jüngere Schwester Tennessee in verschiedenen Städten des mittleren Ostens als spirituelle Heilerinnen und Wahrsagerinnen, doch anders als ihr Vater, der darin nur ein gutes Geschäft sah, nahmen sie ihre Visionen ernst. In tausenden von Gesprächen lernten sie viel über die Probleme der einfachen Menschen, vor allem der Frauen: Viele hatten im Bürgerkrieg ihre Männer und Söhne verloren, und bei Victoria und Tennessee bekamen sie neben einem Kontakt ins Jenseits auch das, was man heute eine psychosoziale Beratung und seelsorgerliche Begleitung nennen würde.

Als sie dreißig Jahre alt war, ging Victoria zusammen ihrem neuen Lebensgefährten, James Blood, und Schwester Tennessee nach New York. Der ehemalige Bürgerkriegs-Colonel und jetzige Kriegsgegner Blood, ein libertärer Intellektueller, machte Victoria mit den sozialen Theorien der Zeit bekannt. Er erzählte ihr von Kommunen, die ein neues Leben ohne Geschlechterhierarchie ausprobierten, von Sozialismus und Gütergemeinschaft, von der Frauenrechtsbewegung und von den »Abolitionisten«, die sich für die Rechte ehemaliger Sklavinnen und Sklaven einsetzen. In New York lernte sie solche Gruppen dann selbst kennen: Libertäre Anarchisten und Sozialisten aus der Arbeiterbewegung, Spiritualistinnen und Reformchristen, Feministinnen und alternative Heilkundler. Sie besuchte Kongresse der Frauenrechtlerinnen oder der Gewerkschaften – sie war fasziniert von dieser neuen Welt der Intellektuellen.

Ihren Lebensunterhalt verdienten Victoria und Tennessee weiterhin mit Wahrsagerei, aber auch mit Dienstleistungen im Prostituierten-Milieu, etwa dem Verkauf von Verhütungsmitteln oder von Pasten mit betäubender Wirkung gegen die Schmerzen beim Geschlechtsverkehr. Das Leben der Schwestern änderte sich schlagartig, als sie einen sehr reichen Kunden für ihre Dienste fanden: Der millardenschwere Eisenbahnmagnat Cornelius Vanderbilt nahm sich Tennessee zur Mätresse und machte Victoria zu seiner spirituellen Beraterin. Sie sagte ihm die Börsenkurse voraus; ob wirklich mit Hilfe der Geister oder doch eher mit Insider-Informationen aus dem Rotlichtmilieu (sie kannte die Mätressen der wichtigsten Börsenheie), sei dahingestellt. Für ihre Börsentipps handelte Victoria Woodhull eine prozentuale Gewinnbeteiligung aus – Ende 1869 war sie reich.

Mit dem Geld und mit Vanderbilts Unterstützung gründeten die Schwestern eine Broker-Firma an der Wallstreet und vermehrten ihren Reichtum. Den Gewinn investierten sie in eine eigene Zeitung, das »Woodhull and Claflin’s Weekly«, in der sie in unkonventioneller Mischung über die Börsenentwicklung, neue Verhütungsmethoden oder Initiativen aus der Frauen- und Arbeiterbewegung berichteten. Gefördert von ihren intellektuellen Freunden und Freundinnen wurde Victoria Woodhull bald zur bekanntesten Frau New Yorks. Die Reporter der wichtigsten Zeitungen standen Schlange, um sie zu interviewen, und wenn sie Vorträge über »freie Liebe« und ähnliche Themen hielt, füllten sich Hallen mit mehreren tausend Menschen.

Bald war sie auch eine führende Figur in der Frauenrechtsbewegung. Die war damals in einer Krise. Kurz zuvor war das Wahlrecht für afroamerikanische Männer eingeführt worden, und es bestand kaum Hoffnung, dass es in Kürze zu einer erneuten Wahlrechtsänderung zu Gunsten der Frauen kommen könnte. Victoria Woodhull hatte aber eine andere Idee. Man brauche gar keine erneute Wahlrechtsänderung, so ihr Argument, denn das bestehende Wahlgesetz schließe die Frauen gar nicht explizit aus – in der Tat war in dem Gesetzestext an keiner Stelle vom Geschlecht der Wahlberechtigten die Rede. Der Kongress müsse also nur dafür sorgen, dass Frauen nicht länger an ihrem legitimen Recht, zu wählen, gehindert würden. Das »Woodhull-Memorial«, das sie dank guter Beziehungen zu Senatoren sogar vor dem Rechtsausschuss des Kongresses präsentieren konnte, wurde zum neuen Leitbild der Frauenrechtsbewegung und Victoria Woodhull zu ihrer gefeierten Anführerin.

Woodhulls Rede vor dem Repräsentantenhaus

Victoria Woodhulls Rede vor dem Rechtsausschuss (aus »Frank Leslie's Illustrated Weekly vom 4.2.1871)

Aber damit war ihr Ideenreichtum noch keineswegs erschöpft. Schon lange war in den amerikanischen Reformbewegungen eine Diskussion darüber im Gange, ob man nicht eine neue Partei gründen sollte, da die Republikaner zu konservativ, die Demokraten aber als ehemalige Sklavenhalterpartei auch nicht wählbar waren. Victoria Woodhull setzte die Idee in die Tat um. Sie sammelte ein Bündnis aus Teilen der Frauen- und der Arbeiterbewegung, aus dem Lager der Libertären und der Spiritualisten hinter sich und gründete die »Equal Righs Party«, die Partei für gleiche Rechte – und kürte sich selbst zur Präsidentschaftskandidatin für die Wahlen im Jahr 1872.

Doch bald holte Victoria Woodhull ihre Vergangenheit ein. Ihre plötzliche Berühmtheit hatte die Klatschreporter der Zeitungen in Bewegung gesetzt gesetzt, immer neue Skandalgeschichten aus dem Leben der ehemaligen Wunderheilerin erschienen in den Zeitungen. Der Nachschub an Material war gesichert, weil der gesamte vielköpfige Familienclan der Claflins inzwischen nach New York gekommen war. Eltern, Schwestern und Brüder, Schwager, und zahlreiche Nichten und Neffen wollten vom plötzlichen Reichtum Victorias etwas abzubekommen, sogar der verlassene Ex-Mann Woodhull stand plötzlich wieder vor der Tür. Keine respektable Gesellschaft aus Sicht der Frauenrechtlerinnen, die zunehmend auf Distanz gingen und Victoria Woodhull drängten, sich im Interesse der Bewegung zurückzuhalten.

Doch da waren sie an die Falsche geraten – Victoria Woodhull ging im Gegenteil in die Offensive. An ihrem Leben, so meinte sie, war nichts falsch, und an ihren Theorien auch nicht. Je größer der Druck der Wohlanständigen wurde, desto provokativer wurden ihre Reden über »freie Liebe«, über die bevorstehende sozialistische Revolution. Dass sie mit zwei Ehemännern – einem aktuellen und einem ehemaligen – unter einem Dach lebte, war für die einen ein Skandal, für Victoria aber ein Akt der Nächstenliebe. Sie war diejenige, die nach hohen moralischen Maßstäben lebte, weil sie sich nur aus Liebe einem Mann hingab. Ehefrauen dagegen, die aus materiellen Gründen bei ihren Männern bleiben, obwohl sie sie nicht mehr lieben, die verkauften laut Victoria ihren Körper ebenso wie Prostituierte – natürlich waren die ehrbaren Damen entsetzt.

Der Konflikt schaukelte sich hoch – ein Konflikt, in dem Victoria Woodhull langfristig unterlag. Vor allem deshalb, weil sie sich mit den Ehrbarsten der Ehrbaren anlegte – der Familie Beecher, einer vielköpfigen Geschwisterschar aus einer Predigerfamilie, der Ausbund der Tugendhaftigkeit. Damals kursierte das Sprichwort, es gebe drei Sorten von Menschen: »The good, the bad, and the Beechers« – die Guten, die Schlechten und die Beechers. Die Beechers waren über jeden Verdacht erhaben, daher konnten sie in Wirklichkeit auch tun, was sie wollten.

Vor allem zwei Beecher-Schwestern polemisierten gegen Victoria Woodhull: Harriet Beecher-Stowe, die mit dem Anti-Sklaverei-Roman »Onkel Toms Hütte« berühmt geworden war, und Catherine Beecher, eine sehr bekannte Autorin von Hauswirtschafts-Ratgebern. Beide nutzten ihre Popularität und ihren Einfluss, um Victoria Woodhull zu diffamieren und anzuklagen. Sie verhinderten, dass ihr Hallen vermietet wurden, intrigierten durch Briefe an andere Frauenrechtlerinnen, schrieben Zeitungsartikel und mehr.

Victoria suchte verzweifelt eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren – und besann sich auf die alten Gepflogenheiten in ihrer Familie: Die beiden Beecher-Schwestern hatten einen Bruder, Henry Ward Beecher, einen als fortschrittlich gerühmter Prediger einer großen presbyterianischen Kirche in Brooklyn und einer der einflußreichsten Männer im damaligen Amerika. Und es war allgemein bekannt, dass Beecher zahlreiche außereheliche sexuelle Beziehungen pflegte, mit Vorliebe zu weiblichen Bewunderinnen aus seiner Gemeinde. Victoria Woodhull begann, Henry Beecher zu erpressen: Wenn er sich nicht auf ihre Seite schlüge und seine Schwestern zum Schweigen brächte, werde sie seine ehebrecherische Affäre mit der bekannten Frauenrechtlerin Liz Tilton publik machen, drohte sie. Und da alles nichts fruchtete, machte sie ihre Drohung war: Die Ausgabe des Woodhull and Claflin’s Weekly mit dem »Beecher-Tilton-Fall« im Sommer 1872 war in Amerika die größte Mediensensation seit der Ermordung Lincolns.

Doch der Beecher-Clan war stärker als Victoria. Mit Hilfe von dubiosen Mittelmännern, bestochenen Richtern und an den Haaren herbei gezogenen Anklagen wurde Victoria Woodhull wegen »obszöner Postsendungen« hinter Gitter gebracht. Es war das Ende ihrer Karriere in den USA. Fast alle Reformerinnen und Reformer distanzierten sich nun von Victoria Woodhull und gingen dazu über, sie totzuschweigen. In den folgenden Jahrzehnten wurden Tagebucheinträge herausgerissen, Protokolle gefälscht, und Chroniken der Arbeiter- und Frauenbewegung geschrieben, in denen der Name Victoria Woodhull fehlt. Erst in den letzten Jahren haben einige Frauenforscherinnen in den USA die Geschichte von Victoria Woodhull wieder ausgegraben, die Zeitungen von damals durchforscht, ihre Schriften entdeckt und Biografien geschrieben. Demnächst, so hört man, soll ihr Leben sogar in Hollywood verfilmt werden. Vielleicht könnte also die Frage nach der ersten amerikanischen Präsidentschaftskandidatin bald auch im deutschen Millionärsquiz gestellt werden – und nicht erst dann, wenn’s schon um die Viertelmillion geht.

aus: Publik Forum, 22. Februar 2002