Antje Schrupp im Netz

Zugehörigkeit, Freiheit und die Liebe zu Gott und den Menschen

Vortrag bei einem Symposium in Dürnstein an der Wachau, 23.-26.2.2012

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Foto: Matejschek/photo-graphic-art.at

Im vergangenen Jahr machte ich eine Serie von Interviews mit den Mitgliedern des Rates der Religionen in Frankfurt. Ich sprach mit 15 Menschen aus unterschiedlichen Religionen und Konfessionen über ihren Glauben und ihre Werte. Und etwas war interessant: Sie alle hatten sich intensiv mit verschiedenen Religionen auseinander gesetzt. Und trotzdem entschieden sich fast alle letztlich ganz bewusst für den Glauben, dem auch ihre Eltern schon angehört hatten.

Ich finde das nicht überraschend. Es bedeutet auch keineswegs, dass wir Menschen von unserer Sozialisation quasi indoktriniert wären. Sondern hier zeigt sich, dass eine Religion mehr ist, als ein Glaubens- und Dogmenkanon, dem man nach vernünftigem Räsonnieren zustimmt oder nicht. Eine Religion ist vor allem Heimat, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Herkunft, zu einer Familie, zu einer Kultur.

Die Schweizer Theologin Ina Praetorius hat dafür das Wort „Matrixtheologie“ geprägt. Wir alle sind als kleines, hilfsbedürftiges Wesen an einem bestimmten Ort, in einer bestimmten Zeit, von einer bestimmten Frau in eine bestimmte Familie und Gesellschaft hinein geboren worden. In das, was Hannah Arendt das „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“ nennt. Es gibt uns bestimmte Möglichkeiten und Rahmenbedingungen, Werte und Glaubenspraktiken vor, die wir uns nicht selbst ausgesucht haben. Gleichzeitig ist jeder neu geborene Mensch aber auch etwas noch nie Dagewesenes, eine unvorhersehbare Besonderheit, und knüpft sich mit den eigenen Wünschen und Ideen in dieses Bezugsgewebe ein – und verändert es dadurch. Und das ist Matrixtheologie: Ein Nachdenken über Gott, das an genau diesem Schnittpunkt zwischen persönlicher Subjektivität und ererbten Glaubenssystemen stattfindet.

In einer globalisierten Welt haben wir heute die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Ausprägungen von Religiosität „aus erster Hand“ kennen zu lernen, weil wir häufiger als früher Menschen begegnen, die in anderen Kulturen und Glaubenssystemen groß geworden sind. Leider wird aber dieser Reichtum im so genannten interreligiösen Dialog oft verschenkt. Denn die entsprechenden Podien und Talkshows sind meist so konzipiert, dass dort Menschen miteinander diskutieren sollen, die ihre jeweilige Religion repräsentieren: Die Muslima diskutiert mit der Christin und der Jüdin.

Auf diese Weise stellen wir Schablonen her. Wir nutzen nicht die Fülle der „Matrixtheologien“, sondern versuchen zu unterscheiden, was christlich, muslimisch, jüdisch und so weiter angeblich ist. Das hat zwar einen gewissen Informationswert, etwa in Bezug auf dogmatische Details einer Religion, aber das meiste davon könnte man auch in einem Lexikon nachlesen. Ich persönlich komme dann meist schnell an einen Punkt, wo ich rufen möchte: Und du? Was glaubst du? Du selbst?

Wir wissen hier wohl alle, dass es unsinnig ist von den Christen, Muslimen, Mormonen, Atheisten zu sprechen. Die Religiosität jedes Menschen ist einzigartig, auch wenn sie eben nicht unabhängig und im luftleeren Raum entstanden ist. Und genau das ist es, worum es in Bezug auf Werte und Heimat geht: Wie Menschen ihre eigene Frömmigkeit, ihren Wertekanon und die Maßstäbe für ihr Handeln und die Gestaltung der Welt im Dialog mit anderen entwickeln und im Alltag praktizieren.

Meine Überlegungen dazu möchte ich in vier Schritte gliedern.

Erstens: Zugehörigkeit – die Bedeutung also, die die Tradition, das Erbe der Älteren, das Bezugsgewebe hat, in das ich hineingeboren bin und das ich im Lauf meines Lebens aufgerufen bin, aktiv mitzugestalten.

Zweitens: Freiheit – die Möglichkeit also, das Gegebene nicht einfach nur zu übernehmen, sondern mich davon unter Umständen auch zu distanzieren. Was bedeutet Freiheit, gerade in Bezug auf Werte, Heimat und Religion?

Drittens: Die Liebe zu Gott – Damit habe ich jetzt schon mein Hauptkriterium genannt. Warum ich finde, dass mehr über Gott und weniger über Religionen gesprochen werden sollte, werde ich in diesem Punkt erläutern.

Und viertens: Die Liebe zu den Menschen – damit meine ich nicht nur die Zuwendung zur Welt, also gesellschaftliches Engagement aus religiösen Motiven heraus, sondern unter diesem Punkt möchte ich die Frage stellen, was es bedeutet, Religionen, also die Liebe zu Gott, in der Welt institutionalisieren, ihr feste Formen etwa als Kirchen oder als Moscheegemeinden zu geben oder offizielle „Geistliche“ zu beauftragen.

Zugehörigkeit

Menschen können nicht allein, als Einzelne, überleben. Dieses grundsätzliche Angewiesensein auf andere ist keine abstrakte Angelegenheit, sondern sehr konkret. Wir sind nicht nur in einem allgemeinen Sinn auf „Gemeinschaft“ oder „Gesellschaft“ angewiesen, sondern wir sind auf bestimmte andere Menschen angewiesen. Auf Menschen, die wir namentlich benennen können. Zu allererst auf unsere Mutter, die eingewilligt hat, uns „zur Welt“ zu bringen. Dann auf sie und auf andere Erwachsene, die uns materielle und geistige Nahrung gaben, uns die Sprache schenkten, uns kleideten, uns trösteten. Und später auf unsere Freundinnen, auf die Kollegen, auf die Nachbarinnen, den Bäcker, die Ärztin. Spätestens als Erwachsene haben wir natürlich einen gewissen Spielraum, dieses Bezugsgewebe zu gestalten, wir können alte Freundschaften aufkündigen und neue knüpfen, wir können die Arbeitsstelle wechseln oder sogar in ein anderes Land umziehen. Das bedeutet aber nicht, dass wir dann unabhängig wären, wir gestalten nur die Abhängigkeit. Und diese Gestaltbarkeit hat immer gewisse Grenzen, sie ist zu keiner Zeit unbegrenzt beliebig.

Zugehörigkeit ist gleichzeitig eine Folge und eine Voraussetzung dieser menschlichen Grundbedingtheit. Zugehörigkeit bedeutet, dass ich selbstverständliches Anwesenheitsrecht habe, das weitgehend unabhängig ist von dem, was ich tue. Meine Mutter hat mich auch dann versorgt, wenn ich nicht brav war, sondern ungehorsam. Auch das sprichwörtliche schwarze Schaf gehört zur Familie. Ich bin Deutsche, auch wenn ich mich vom deutschen „Mainstream“ distanziere.

Man könnte dazu auch „Heimat“ sagen. Heimat bedeutet, dass ich dazu gehöre. Das entsteht nicht von heute auf morgen, es gibt dabei eine zeitliche Komponente. Heimat ist immer historisch gewachsen, oft schon ererbt, sie spielt sich ein, man denkt nicht dauernd darüber nach. Heimat ist gewohnt, vertraut. Gerade deshalb, weil sie uns so vertraut und selbstverständlich ist, besteht allerdings auch die Gefahr der Ignoranz. Man hält leicht das, was in der eigenen Heimat üblich ist, für so normal, dass man daraus einen allgemeinen, universellen Maßstab macht.

Zugehörigkeit kann sich nicht nur auf Gruppen von Menschen oder auf Orte beziehen, sondern auch auf Ideen oder Weltanschauungen. Ich selbst zum Beispiel habe schon einmal einer Weltanschauung den Abschied erklärt und eine neue Heimat gefunden, und zwar, als ich mich von der patriarchalen symbolischen Ordnung, in der ich aufgewachsen bin, und die bevölkert war von den Ideen „großer“ Denker und Philosophen, verabschiedet habe, um zusammen mit anderen Frauen und auch mit einigen Männern an einer neuen, postpatriarchalen symbolischen Ordnung zu arbeiten. In dieser meiner neuen Heimat ist die Freiheit der Frauen nicht eine Nebensächlichkeit, um die man sich kümmern kann oder auch nicht, sondern der selbstverständliche Ausgangspunkt, die Basis.

Zugehörigkeiten sind immer beidseitig. Sie bestehen nur, wenn beide – die Gruppe und der Einzelne – es so sehen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum mir dieser Wechsel der „Denkheimat“ nicht schwer gefallen ist. Denn irgendwann wurde mir klar, dass meine Zugehörigkeit zu einer patriarchalen Tradition prekär ist. Diese Tradition hatte mich, eine Frau, in Wahrheit über weite Strecken gar nicht als wirklich zugehörig angesehen. Die oben genannten Denker und Theologen haben zum Beispiel in der so genannten „Querelle des Femmes“ im 15. und 16. Jahrhundert ernsthaft darüber diskutiert, „ob die Weiber Menschen seyen“. Die Aufklärung entwickelte eine Vorstellung von menschlicher Freiheit, die für Frauen nur eingeschränkt gelte sollte. Ich, die ich ja eine Frau bin, konnte mich in dieser Denktradition nur solange heimisch fühlen, wie ich die Tatsache meines Frau-Seins verdrängte und mich sozusagen an eine männliche Kultur „assimilierte“ oder integrierte, also die Formel akzeptierte, dass Frauen den Männern „gleich“ sind.

Eines der wesentlichen Probleme der so genannten „Integrationspolitik“ westlicher Staaten ist genau das: Sie missachtet häufig, dass Zugehörigkeit zweiseitig ist. Wir verlangen Bekenntnisse von den hierher eingewanderten Menschen, und auf diese Weise signalisieren wir ihnen ständig die Nicht-Zugehörigkeit. Die Leute sollen erst einmal Deutsch lernen. Sie sollen erst einmal den westlichen Wertekanon unterschreiben.

Wer so argumentiert, sitzt einem Denkfehler auf: Er verwechselt Zugehörigkeit mit Mitgliedschaft. Statt zu sehen, dass Zugehörigkeit sich im Lauf der Zeit aufgrund von Beziehungsnetzen und Verwobenheit mit anderen Menschen herausbildet, tut man so, als ginge es um einen Antrag auf Mitgliedschaft, bei dem man natürlich erst einmal die Statuten des Vereins unterschreiben muss, in den man eintreten will.

Zugehörigkeit als menschliche Beziehungsform ist etwas grundsätzlich anderes als eine Mitgliedschaft. Wenn ich der Satzung eines Vereins nicht zustimme, sollte ich dort in der Tat auch nicht Mitglied sein. Wenn mein Arbeitgeber keine Verwendung mehr für mich hat, werde ich entlassen. Jede vertragliche, also freiwillige Mitgliedschaft ist prekär, weil sie an Bedingungen geknüpft ist.

Zugehörigkeit hingegen ist nicht von einem bestimmten Wohlverhalten abhängig, sondern von der Tragfähigkeit eines Beziehungsnetzes. Es muss schon etwas sehr Dramatisches passieren, um das aufzukündigen – etwa eine Tochter oder einen Sohn aus der Familie zu verstoßen, jemandem die Staatsbürgerschaft zu entziehen oder eine Gläubige zu exkommunizieren. Das ist natürlich möglich, aber es ist eben nicht ein gewöhnliches, alltägliches Verfahren wie die Auflösung eines Vertrags, sondern eine dramatische Ausnahme von der Normalität. Andererseits garantiert mir auch Wohlverhalten und Anpassung keine wirkliche Zugehörigkeit, wenn die konkreten Beziehungen beschädigt sind.

Leider ist uns diese Bedeutung von „Heimat“ in den westlichen Kulturen verloren gegangen – und zwar erstaunlicherweise oder traurigerweise oftmals gerade bei denen, die sich als angebliche Verfechter des Heimatgedankens verstehen, während sie sich in Wahrheit wie eifersüchtige Überwacher von Vereinsstatuten verhalten.

Aber genauso wenig schätzen die politisch eher links Stehenden die Zugehörigkeit, denn sie tendieren dazu, die freiwillige und jederzeit aufkündigbare Mitgliedschaft der nicht frei gewählten und dauerhaften Zugehörigkeit vorzuziehen.

Ich will die Vorzüge auch gar nicht bestreiten, die es hat, dass ich selbst entscheiden kann, mit wem ich mich befreunde, in welchem Verein ich mich engagiere und in welcher Stadt ich wohne.

Aber die Zugehörigkeit hat eben auch ihre Vorteile. Denn gerade weil Zugehörigkeit nicht prekär ist, ermöglicht sie Dissidenz. Wenn ich die Ziele und die Satzung eines Vereins nicht akzeptiere, wird man mir mit einem gewissen Recht nahelegen, doch auszutreten und einen eigenen Verein zu gründen. Wenn ich aber die Ziele und die Regeln einer Gemeinschaft, die meine Heimat ist, nicht akzeptiere, dann werde ich nicht austreten, sondern versuchen, sie zu verändern. Und ich werde das sogar besser können als Außenstehende. Die Sitten und Gebräuche, die Rituale und Gewohnheiten, die ungeschriebenen Gesetze und unsichtbaren Regeln einer Gemeinschaft kennen nur diejenigen wirklich gut, die dort beheimatet sind. Die eingebunden sind in das komplexe und vielfältige, historisch gewachsene und undurchschaubare Beziehungsgewebe, das diese Heimat trägt und stabil hält.

Ich behaupte deshalb, dass sich am Grad der Zugehörigkeit die Fähigkeit entscheidet, mit dem eigenen Erbe kritisch und souverän umzugehen. Es weiterzuentwickeln, damit es in der Lage ist, auf neue zeitgemäße Herausforderungen und Veränderungen zu reagieren, Fehler aufzugeben, aus Sackgassen wieder herauszukommen. Nur wer sich zuhause fühlt, kann wirklich offen sein für Anregungen von außen, für Einwände und Anfragen der Anderen.

Nicht ein Kanon von Gesetzen und Werten, nicht der genaue Wortlaut „Heiliger Schriften“ oder festgeschriebene Glaubenssätze garantieren die Überzeugungskraft und Vitalität einer Kultur, sondern ihre Fähigkeit, Menschen Heimat zu sein. Dass sie einen Ort bietet, wo Menschen sich sicher und geborgen fühlen, und zwar – und das ist der entscheidende Unterschied zu Sekten und fundamentalistischen Gruppen – auch in Situationen, wo sie nicht mit der Mehrheit übereinstimmen. Was ja unweigerlich immer wieder der Fall ist, weil wir eben alle einzigartige Subjekte sind, mit einer ganz speziellen „Matrix“. Weil wir uns von allen anderen Menschen unterscheiden – auch und vielleicht gerade von denen, mit denen uns eine gemeinsame Heimat verbindet.

In dem Moment aber, wo diese Beziehungen nicht mehr funktionieren, wo ihr Wert nicht gesehen und gepflegt wird, in dem Moment verlieren wir unsere Heimat, und die Gemeinschaft wird nichts anderes als ein Verein, dessen Satzungen wir entweder zustimmen oder aus dem wir besser austreten sollten.

Genau das ist der Punkt, an dem sich das Einfallstor für Dogmatismus, Ideologie und Fundamentalismus öffnet. Denn der Wunsch nach Zugehörigkeit kann, wenn diese nicht selbstverständlich ist, sondern prekär, dazu führen, dass Menschen sich Gruppen anschließen, die ein Gefühl der Zusammengehörigkeit daraus gewinnen, dass sie sich von anderen abgrenzen oder sogar aggressiv gegen andere vorgehen.

Freiheit

Aus dem Gesagten ist wohl klar geworden, dass Freiheit und Zugehörigkeit keine Widersprüche sind, sondern im Gegenteil: Zugehörigkeit ist die Basis für Freiheit.

Die christliche Mystikerin und Anarchistin Simone Weil hat in diesem Zusammenhang von „Einwurzelung“ gesprochen und betont, wie wichtig die Verbundenheit in einer Kultur, mit ihren regionalen und jeweils besonderen Riten und Gewohnheiten, die Muttersprache vor allem, für die Menschen ist, und zwar gerade für ihre Freiheit. Freiheit, so betont Simone Weil, ist nicht die Abwesenheit jeglicher Zwänge, ist nicht die Möglichkeit, alles zu tun, was mir in den Sinn kommt – eine Möglichkeit, die angesichts der prinzipiellen Bezogenheit der Menschen auch ohnehin nicht existiert. Sondern frei bin ich, wenn mein Handeln mit meinem Denken übereinstimmt, wenn ich also das, was ich für richtig erachte, auch in meinem Handeln zum Ausdruck bringen kann.

Unfrei bin ich, wenn ich zum Beispiel von etwas überzeugt bin, dann aber nicht entsprechend handele. Vielleicht aus Feigheit, weil ich die Unannehmlichkeiten des Konflikts scheue. Vielleicht aber auch aus der berechtigten Angst heraus, dann verstoßen zu werden, weil meine Heimat bereits dominiert ist von Fundamentalisten und Ideologen, die Abweichungen unbarmherzig sanktionieren. Zugehörigkeit ermöglicht es, Konflikte auszutragen – weil damit nicht gleich der Verlust des Beziehungsnetzes verbunden ist.

Das festzustellen ist eine große Errungenschaft der Aufklärung. Ich meine natürlich das berühmte Wort von Voltaire, der sagte: „Ihre Meinung ist das genaue Gegenteil der meinigen, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie sagen dürfen.“ Oder eben auch das Diktum von Rosa Luxemburg, wonach Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist.

Ich würde jedoch noch betonen, dass diese Freiheit nicht einfach postuliert werden kann, sondern dass es ein Bewusstsein für das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit braucht, um dieser Freiheit eine reale Basis zu geben. Menschen in prekären Beziehungsnetzen werden sich nicht trauen, eine abweichende Meinung laut zu sagen, auch wenn sie formal das Recht dazu haben.

Insofern prägt Zugehörigkeit auch Privilegien. Mir zum Beispiel schenkt meine selbstverständliche, von Geburt an bestehende Zugehörigkeit zum Christentum oder auch mein unhinterfragter Status als deutsche Staatsbürgerin die Souveränität, auszusprechen, wenn ich an einem Punkt anderer Meinung bin als die christliche oder deutsche Mehrheitslinie. Viele andere haben dieses Privileg der Zugehörigkeit nicht.

Gleichzeitig aber bedeutet Zugehörigkeit, dass ich Verantwortung übernehme für das, was ich sage – weil mir eben die Zukunft und das Schicksal der christlichen Religion nicht egal ist, denn es ist ja meine Heimat.

Um es an einem konkreten Beispiel deutlich zu machen: Ich bin momentan am Hadern mit dem Monotheismus und frage mich, ob die Rede von Gott als dem Einen wirklich so eine gute Idee ist. Ich kann die Gründe dafür hier natürlich nicht ausführen, aber Sie können sich vorstellen, dass die Infragestellung des Monotheismus durchaus an die Grundfesten dessen geht, was das Christentum ausmacht. Wäre das Christentum ein Verein, so müsste ich jetzt eigentlich austreten. Ich würde die Vereinsziele ja nicht mehr teilen. Aber das Christentum ist kein Verein, sondern meine Heimat, und deshalb kann ich meine Zweifel ohne Angst eingestehen und mit anderen darüber diskutieren. Vielleicht wird es jetzt auch deutlich, warum „Matrixtheologie“ so wichtig ist. Matrixtheologie bedeutet, dass ich, Antje Schrupp, eine nicht-monotheistische Christin, existiere, auch wenn sämtliche Lexika dieser Welt behaupten, dass es so etwas nicht gibt. Und genau das – dass es in der Realität Dinge gibt, die es laut Definition eigentlich gar nicht geben kann – ist ein Beweis dafür, dass Freiheit nicht nur ein leeres Wort ist.

Meine Freiheit besteht natürlich nicht darin, zu beschließen, dass das Christentum sich vom Monotheismus abwendet. Sondern sie besteht darin, dass ich diese dissidente Meinung ausspreche und öffentlich vertrete – und dass meine Glaubensgeschwister deshalb nicht anfangen, mein Christin-Sein prinzipiell anzuzweifeln. Nicht aus falsch verstandener Toleranz heraus, sondern weil sie und ich eine gemeinsame Geschichte haben, weil wir zusammengehören.

Dieses Privileg der Zugehörigkeit wertzuschätzen und dafür einzutreten, dass alle Menschen es haben, ist ein Dreh- und Angelpunkt für Freiheit in der Welt.

Liebe zu Gott

Damit komme ich zu meinem dritten Punkt: Der Liebe zu Gott.

Um im gerade angesprochenen Beispiel zu bleiben: Meine Auffassungen zum Monotheismus haben ihre Grundlage nicht in meiner Autonomie, also dem Anspruch, dass ich alles ablehnen und hinterfragen kann, was mir momentan nicht einleuchtet oder nicht gefällt. Sondern mein Bezugspunkt ist etwas, das über mich und meine eigenen Wünsche hinausgeht und auch „höher ist als alle Vernunft“, wie die Pfarrerinnen in der evangelischen Liturgie am Ende jeder Predigt sagen. Ich nenne das Gott, benutze also jenes Wort, dass in meiner Kultur der Platzhalter für genau jenen Bezug zu etwas Höherem bezeichnet.

Meiner Ansicht nach liegt ein Problem säkularer Gesellschaften gerade auch darin, dass dieser Bezug verloren gegangen ist – wobei man noch fragen kann, ob er in vorsäkularen Gesellschaften wirklich so bestanden hat oder ob die Rede von Gott nicht auch damals allzu oft bloß Machtspielchen bemäntelt hat, aber das ist eine andere Frage. Logisch, so behaupte ich, ist dieser Bezug notwendig, um Zugehörigkeit und damit eben Freiheit und Dissidenz zu ermöglichen.

Die italienische Philosophin Annarosa Buttarelli hat das am Beispiel von Antigone verdeutlicht, die sich den Befehlen ihres Vaters, des Herrschers Kreon, widersetzt hat und ihren abtrünnig gewordenen Bruder beerdigte, obwohl Kreon das verboten hatte. Sie berief sich dabei nicht auf ihre eigene Vernunft (nach dem Motto: „Ich bin aber der begründeten Meinung, dass Tote beerdigt werden müssen“), sondern, wie Buttarelli herausarbeitet, auf „unsichtbare, ewige Gesetze“, die auch ein legitimer Herrscher nicht außer Kraft setzen kann.

Die Orientierung an diesem „souveränen Guten“, wie die atheistische Philosophin Iris Murdoch es nennt, und das ich mit vielen anderen Gott nenne, umreißt die Legitimität von Widerstand und Dissidenz.

Der Dialog der Religionen wäre viel interessanter und fruchtbarer, wenn er sich weniger mit Gemeinsamkeiten und Unterschieden in den Traditionen und Glaubenssätzen beschäftigen würde, sondern mehr mit der Frage, wie wir etwas von Gott wissen können. Oder vom „souveränen Guten“, auf das hin wir uns orientieren möchten. In der evangelischen Tradition könnten wir da an Dietrich Bonhoeffer anknüpfen, der die Formulierung geprägt hat, man müsse „religionslos von Gott“ sprechen. Auch im Diskurs mit dem Atheismus wäre es spannend, nicht immer die „Religiosität“ zu verteidigen, sondern zu vermitteln, warum wir als fromme Menschen es wichtig finden, dass Gesellschaften nicht nur selbstbezüglich sind, sondern eine Größe wie „Gott“ auf dem Schirm haben.

Die Vielfalt religiöser Traditionen ist ganz offensichtlich eine Ressource bei dieser Suche, weil verschiedene religiöse Traditionen unterschiedliche Erkenntnisse dazu beisteuern können. Um ihnen ein Beispiel aus meiner „Matrixtheologie“ zu geben:

Ich schätze am Christentum, dass es – im Unterschied zu den meisten anderen Religionen – die Vorstellung betont, dass Gott sich als schwacher, ohnmächtiger, am Kreuz leidender Mensch inkarniert hat. Ich bin der Meinung, dass Jesu Tod am Kreuz keine heilsgeschichtliche Notwendigkeit war, sondern ein kontingentes Ereignis. Es ist eben geschehen. Doch dieses Ereignis brachte eine Gruppe frommer Jüdinnen und Juden, die Jesus nachfolgten, weil sie seine Gottverbundenheit erkannten, dazu, neu darüber nachzudenken, was Gott ist. Sie mussten die Frage beantworten, warum eben diese Gottverbundenheit Jesus nicht vor dem Kreuz gerettet hat. Und dabei entdeckten sie, dass Gott nicht als großer Zampano auf dieser Welt handelt, um es mal etwas flapsig zu sagen, sondern dass Gott ein Teil dieser Welt ist, selbst schwach und niedrig. Gott tut nicht nur so, als wäre er bei den Menschen, Gott IST tatsächlich bei den Menschen, Gott ist selbst ein Mensch.

Diese Einsicht halte ich für sehr wichtig, um den Willen Gottes auf dieser Erde zu verwirklichen. Aber sie wird von vielen nicht geteilt. Zum Beispiel von Muslimen und Musliminnen nicht, die, soweit ich weiß, eher die Größe und Allmacht Gottes betonen. Aber auch von vielen Christinnen und Christen nicht, die die Menschwerdung Gottes als freiwillige Selbsterniedrigung interpretieren und nicht als echte Schwäche, was meiner Ansicht nach nur ein Trick ist, um sich der Wucht des Gedankens nicht zu stellen.

So oder so ist der Aspekt der Menschwerdung Gottes, sein wahrhaftes Mitleiden mit den Schwachen, eine Facette Gottes, die einerseits speziell christlich ist, andererseits aber, so behaupte ich, nicht nur für das Christentum stimmt, sondern generell. Die Schwäche Gottes zu denken, das ist etwas, das ich im interreligiösen Dialog zur Debatte stellen möchte. Nicht, um das Christentum zu verteidigen, sondern weil ich das wichtig finde, wenn wir uns an Gottes Willen orientieren möchten.

Und aus genau diesem Grund interessiere ich mich auch dafür, welche anderen Facetten in anderen Religionen und Kulturen über Gott entdeckt worden sind. Aufgrund anderer historisch kontingenter Ereignisse und Entwicklungen, von denen sie geprägt sind, ich aber nicht.

Dass also der interreligiöse Dialog sich mehr um Gott drehen sollte und weniger um Religionen, ist das eine.

Das Problem besteht nun ganz offensichtlich darin, dass wir den Willen Gottes nicht kennen können, weil Gott ja die Transzendenz markiert, das, was die menschliche Vernunft gerade übersteigt. Fundamentalismen und Ideologien sind deshalb wahrhaft gotteslästerlich, weil sie behaupten, sie würden Gottes Willen kennen und darüber keine Debatten mehr zulassen.

Interessanter Weise liegt genau an dieser Stelle eine Gemeinsamkeit zwischen säkularer Rechtsstaatlichkeit und religiösem Fundamentalismus. Darauf hat die Philosophin Luisa Muraro hingewiesen, die Hexenprozesse im Mailand des 13. Jahrhunderts untersucht hat. Damals waren zwei Frauen, Mayfreda und Wilhelmina, der Hexerei angeklagt, und es wurden zwei Prozesse gegen sie geführt. Im ersten Prozess wurden sie verurteilt, weil sie behaupteten, zaubern zu können, was nach Auffassung der Kirche Gotteslästerung war, da eben nur Gott Wunder wirken kann. In einem zweiten Prozess ein gutes Jahrzehnt später wurde erneut gegen die beiden prozessiert – diesmal wurden sie zum Tode verurteilt – aber in der Begründung hatte sich eine Verschiebung ergeben: Nun wurde ihnen nämlich vorgeworfen, dass sie gezaubert hätten, unter Anwendung kirchenrechtlich verbotener Praktiken. Das heißt, Gottes Souveränität und Autorität, die der erste Prozess noch sicherstellen wollte (nur Gott kann zaubern, also Wunder tun) war bereits unterhöhlt. An ihre Stelle war die Souveränität und Autorität kirchlicher Gerichtsbarkeit getreten (das Kirchengericht entscheidet, wer zaubern darf und wer nicht).

Muraro vertritt die Ansicht, dass diese Verschiebung den Keim für die Entstehung von säkularen Gesellschaften enthält, indem nämlich nicht mehr Gottes Wille diejenige Instanz ist, die über Wahr und Falsch, Erlaubt und Verboten urteilt, sondern ein aus Menschen zusammengesetztes Gericht. Und so wird die Orientierung am Willen Gottes folgerichtig bald überflüssig und die Gerichtsbarkeit rein innerweltlich, säkular.

Ich habe das Beispiel so ausführlich geschildert, weil es einen Hinweis enthält für die virulente Debatte zur Vereinbarkeit von säkularer Rechtsstaatlichkeit und Scharia, die nämlich – wenn man hier Muraro folgt – gar nicht so unvereinbar sind, wie immer getan wird. Wenn Scharia bedeutet, sich bei der Suche nach Recht und Gerechtigkeit an Gottes Willen zu orientieren, wäre dagegen aus meiner Sicht nichts einzuwenden. Das Problem besteht vielmehr in der Institutionalisierung einer innerweltlichen Gerichtsbarkeit, die für sich beansprucht, den Willen Gottes zu vertreten (oder das souveräne Gute, wenn man es unreligiös ausdrücken möchte), dabei aber unweigerlich scheitert und Fehler macht.

In anderen Worten, die spannende Frage ist: Wie können wir die Orientierung am Willen Gottes institutionalisieren, also in der Welt verankern, ohne Gott zu lästern, indem wir uns selbst an seine, an ihre Stelle setzen?

Damit komme ich zu meinem vierten und letzten Punkt, der ganz kurz wird.

Liebe zu den Menschen

Religionen sind immer ein Teil der Welt, und der Bezug auf Gott ist kein Selbstzweck, sondern wir brauchen ihn, um das Zusammenleben der Menschen zu gestalten. Man könnte es auch anders sagen: Ob Gott existiert, ist nicht die Frage. Sondern es geht darum, die fundierte Erfahrung in der Welt zu verbreiten, dass ohne Bezug auf Gott die Welt sinnlos ist und keine gute Ordnung existieren kann.

Gott existiert, wenn wir uns an Gott orientieren, oder, um es mit der Mystikerin und Begine Margarete Porete zu sagen: Frömmigkeit bedeutet, um Gott zu betteln, zu wünschen und zu hoffen und darauf zu vertrauen, dass Gott uns beisteht.

Religiöse Institutionen sind immer weltliche Institutionen – weil Gott sich nämlich auch ihrer Definitionsmacht entzieht. Sie können sich sozusagen nicht darauf berufen, dass sie im Namen des Herren unterwegs sind, sondern sie müssen ihren positiven Einfluss in der Welt unter Beweis stellen. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Und da stehen sie noch lange in der Beweislast, denn sie können zwar vorbringen, dass säkulare Institutionen nicht besonders gut funktionieren, religiöse Institutionen funktionieren aber erfahrungsgemäß auch nicht besser.

Ecclesia semper reformanda, die Kirche muss ständig reformiert werden. Religiöse Institutionen stehen, weil sie weltliche Institutionen sind, immer in der Gefahr, ihren Selbsterhalt und die eigene innerweltliche Macht über das Streben nach Gottes Willen zu stellen. Anstatt geistesgegenwärtig zu bleiben und Gott in immer wieder neuen konkreten Situationen zu bezeugen, sind sie versucht, den einfachen Weg zu wählen und Dogmen und starre Regeln herauszubilden, um ihre Macht zu festigen. Deshalb muss jede religiöse Institution den Selbstzweifel und die Hinterfragung der eigenen Prinzipien in ihren institutionellen Verfahren selbst vorsehen und aktiv betreiben.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich habe nichts gegen Dogmen, Regeln und überlieferte, verbindliche Glaubenssätze. Ich sage nur, dass wir ihrem Gebrauch gegenüber wachsam sein müssen, weil wir in der Welt stehen, sie also niemals in ihrer Reinform vorliegen haben – außer vielleicht im Zustand einer unmittelbaren mystischen Erkenntnis. Alle unsere Offenbarungstraditionen sind immer vermischt mit innerweltlichen, menschlichen und damit potenziell irrenden Strukturen und Phänomenen.

Ich schließe mich da einem Bild von Ina Praetorius an: In unserem alltäglichen Leben sitzen wir Menschen zusammen an einem Tisch und verhandeln über unsere Angelegenheiten, wir diskutieren, erarbeiten Regeln, tauschen uns aus, lösen Probleme, so wahr uns Gott helfe. Dabei können die Dogmen, die überlieferten Traditionen, die Heiligen Schriften, die Gutachten der Religionsexperten äußerst hilfreich sein, denn sie sind ja Zeugnisse einer reichen Erfahrungsgeschichte der Menschen mit Gott. Allerdings nicht, wenn wir sie mitten auf dem Tisch stapeln, sodass wir uns gegenseitig gar nicht mehr sehen. Wir müssen sie in greifbarer Nähe im Regal stehen haben, damit wir sie bei Bedarf jederzeit konsultieren können, aber wir dürfen nicht zulassen, dass sie unsere Sicht aufeinander und auf die Welt versperren.

Um auf meine Anfangsfrage zurückzukommen: Sich frei in das Bezugsgewebe einzuknüpfen, in das wir hinein geboren wurden, bedeutet, im konkreten Alltag Zeugnis abzulegen von Gottes Liebe, von Gottes Weisheit, von Gottes Beistand. Zeugnis ablegen, nicht Bekenntnisse nachsprechen. Bekenntnisse sind zwar durchaus notwendig, denn ein Bekenntnis zu sprechen vergewissert mich meiner Zugehörigkeit, meiner Heimat, meiner Werte. Bekenntnisse zu sprechen verhindert, dass sich mein Ego in den Vordergrund strebt, dass mir meine eigene Meinung wichtiger wird als der Wille Gottes.

Im Dialog mit anderen jedoch sind nicht Bekenntnisse gefragt, sondern Zeugnisse in einer gegebenen, konkreten Situation. Im interreligiösen Gespräch mit Menschen, die einen anderen Glauben haben als ich oder auch im Gespräch mit Menschen, die überhaupt nicht glauben, da muss ich nicht predigen, sondern Beispiele geben. Da muss ich Gott nicht verteidigen und rechtfertigen, sondern im Gegenteil, da kann ich darauf vertrauen, dass Gott mir beisteht, mich rechtfertigt, mir Kraft und Geistesgegenwart schenkt. Und ich muss immer mit der Möglichkeit rechnen, dass vielleicht ich es bin, die sich irrt.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.