Antje Schrupp im Netz

Hundert Jahre Womans Bible – (1895–1995)

Für mich war das Wort des Herrn immer etwas zum Disziplinieren, mich kleinzuhalten, mich wirklich auch zu unterdrücken, in dem Sinne: Er muß wachsen, ich aber muß abnehmen oder: Auf daß er in allen Dingen Vorrang habe, Texte, die ursprünglich überhaupt nichts mit Frauen zu tun hatten, die aber im Vollzug meiner Erziehung und meiner christlichen Sozialisation auf mich gemünzt wurden. Und das lief dann ganz schnell so: Er, der Mann, Gott, der Herr.

Anna Nocke aus Berlin hat in ihrem Leben mit der Bibel keine guten Erfahrungen gemacht. Sie wuchs in einem pietistischen Elternhaus auf und wurde schon früh mit Bibelsprüchen auf ihre spätere Rolle als Pfarrfrau und Mutter getrimmt; eine Rolle, die sie viele Jahre lang geduldig ausfüllte. An Auflehnung dachte sie nicht. Gegen gesellschaftliche Zwänge hätte sie vielleicht protestiert oder gegen ungerechte Gesetze. Aber gegen das Wort Gottes? Erst spät öffnete sich für Anna Nocke ein Ausweg, die eigene Identität als Frau und die heilige Schrift miteinander in Einklang zu bringen: Das Zauberwort hieß »Feministische Theologie«.

Für mich bedeutet die feministische Theologie auch eine ganz neue Befreiung zur Bibel, weil ich merke, daß ich mich diesem Machtanspruch des Herrn entziehen kann dadurch, daß ich unmittelbar selber gemeint bin. Zum Beispiel, wenn Gott Menschen sich zum Bilde schafft, dann bin ich eben auch ein Abbild Gottes, ein Ebenbild Gottes. Und auf der anderen Seite, wenn ich Texte unmittelbar in die feministische Form übersetze, dann bin ich direkt selber gemeint.

Eine simple Erkenntnis, eigentlich. Gott ist kein Mann, Frauen sind mitgemeint. Auch wenn Perikopenreihen und Sonntagspredigten oft einen anderen Eindruck erwecken: In biblischen Texten kommen Frauen durchaus vor, und gar nicht mal allzu selten: Da wären die Jüngerinnen, die als erste die Auferstehung Jesu bezeugen,die Schwestern Maria und Martha, später dann die die Apostelinnen Lydia und Junia. Und auch in der hebräischen Bibel spielen Frauen eine wichtige Rolle, wie die Prophetinnen Deborah und Mirjam, die Urmütter Sarah, Hagar und Tamar oder die Kriegerinnen Esther und Judith. Was viele heute nicht mehr wissen: All diese »Frauenstellen« der Bibel wurden schon vor hundert Jahren in einem Buch zusammengefaßt und kritisch kommentiert.

1895 erschien in den USA der erste Band der »Womans Bible«, der Frauenbibel also, herausgegeben von der Frauenrechtlerin Elizabeth Cady-Stanton. Zusammen mit einem Kreis von Autorinnen hat sie einen umfangreichen Bibelkommentar verfaßt, in dem alle Stellen aufgeführt sind, die für Frauen wichtig sind. Die Womans Bible war ein antikirchliches Buch. Sie sollte Frauen, die damals für Stimmrecht und ihre bürgerliche Gleichstellung kämpften, eine Argumentationshilfe an die Hand geben gegen die Kirchen, die an der gesellschaftlichen Unterordnung der Frauen festhalten wollten und sich dabei auf die Bibel beriefen. Die Womans Bible ist nicht in erster Linie ein theologisches, sondern ein politisches Buch – nach fünf Jahrzehnten Kampf für Frauenemanzipation war Elizabeth Cady-Stanton zu der Überzeugung gekommen, daß sich an der Stellung der Frau in der Gesellschaft nichts ändern läßt, wenn nicht auch die ideologischen und religiösen Frauenbilder hinterfragt werden.

Wer heute in einen Buchladen geht und nach der Womans Bible fragt, wird vermutlich nur ein bedauerndes Achselzucken ernten. Noch immer gibt es keine deutsche Übersetzung und selbst in theologischen Universitätsbibliotheken sucht man die Womans Bible in der Regel vergebens. Als in den siebziger Jahren die Frauenbewegung auch in den Kirchen Fuß fasste, mußten Christinnen deshalb aufs Neue entdecken, was Elizabeth Cady-Stanton und ihre Mitarbeiterinnen im vorigen Jahrhundert bereits zusammengetragen hatten: Die biblischen Frauengeschichten. Eine, die damals mit dabei war, ist die Kasseler Neutestamentlerin Luise Schottroff:

Also ich denke der Anfang der neuen Frauenbewegung in den 70er Jahren war, sofern die Frauen sich auf Kirche bezogen, ganz stark geprägt von Auseinandersetzung mit der biblischen Tradition. Und zwar grade auch mit den Geschichten um Jesus, Frauen in der Umgebung Jesu, weil diese Geschichten einfach eine Faszinationskraft haben, und diese Faszinationskraft haben sie heute immer noch. Sie erzählen von Frauen, die sich nicht unterdrücken lassen, sondern ihren eigenen Weg gehen, und das hat Frauen immer dazu befreit, auch ihren eigenen Weg zu suchen.

Frauen in der Bibel, Frauen in der Kirchengeschichte, Frauen im Urchristentum – hundert Jahre nach dem vergessenen Kommentarwerk von Cady-Stanton sind solche Themen inzwischen zum Renner geworden. Kirchen und Verlage haben das Potential erkannt, das hier schlummert: Die feministische Theologie bescherte den Verlagen hohe Auflagen und den Kirchen volle Gottesdienste und engagierte Kirchenfrauen. Anders als bei der Womans Bible sind es diesmal nämlich nicht weltliche Feministinnen, die sich die Bibel kritisch vornehmen, sondern Christinnen, die in den Frauenfiguren der Bibel Vorbilder und Ermutigung suchen.

Feministische Theologinnen sind nur halb glücklich über diesen sichtbaren Erfolg. Elizabeth Schüssler-Fiorenza, Professorin an der Harvard-University in den USA und so etwas wie die Urmutter der feministischen Theologie, hat schon Anfang der achtziger Jahre davor gewarnt, nur die positiven Stellen aus der Bibel herauszupicken. Ihr Buch »In Memory of her« – das in Deutsch unter dem Titel »Zu ihrem Gedächtnis« erschienen ist – gilt inzwischen als unverzichtbares Standardwerk.

Ich ging damals davon aus, daß eine feministische Geschichtsschreibung anders strukturiert und andere Denkrahmen erarbeiten muß und nicht nur sich auf die Frauenstellen zu konzentrieren hat. Was ich feststelle, wenn ich mir Deutschland anschaue und auch wieder in den Staaten, daß es eigentlich einen Rückschritt wieder hinter »In Memory of her« gibt, dahin, daß wieder sehr stark auf Frauenstellen, Frauen in der Bibel abgehoben wird, und diese Engführung wollt ich gerade ablösen, um zu sagen, daß es nicht ne Frage ist, nur Texte sich anzusehen, die über Frauen sprechen, sondern Texte über Frauen mehr wie die Spitze eines Eisberges zu lesen, und nicht als Informationstexte.

Schüssler-Fiorenzas Methode, die inzwischen von vielen Theologinnen aufgegriffen und weiterentwickelt wurde, läßt sich mit dem Stichwort »Hermeneutik des Verdachts« zusammenfassen. Der Verdacht der Forscherinnen besteht darin, daß die sogenannten frauenfeindlichen Stellen in der Bibel viel interessantere Informationen enthalten können, als all die netten Geschichten über Jesus und die Frauen. Das klassische Beispiel ist der Satz »Das Weib schweige in der Gemeinde«, über den sich Frauen durch alle Jahrhunderte der Kirchengeschichte geärgert haben. Daß aber Paulus – oder einer, der in seinem Namen schreibt – den Frauen das Mitreden in der Gemeinde verbieten muß, ist für Schüssler-Fiorenza gerade der Beweis, daß es Frauen gegeben hat, die eben nicht geschwiegen haben – denn sonst wäre das Verbot ja überflüssig. Eine solche Interpretation bedeutet allerdings, daß die biblischen Schriften nicht mehr als letzte Autorität gelten, sondern eher als Fundus von historischem Material über die Anfänge des Christentums.

Paulus möchte sich gerne als Autoritätsperson darstellen, weil es ihm um seine Autorität ging und die war damals umstritten, und da können Sie sagen, ja es gab Prophetinnen in Korinth und wie hätten die denn den Text von Paulus gehört, wenn Paulus sagt, ihr sollt in der Versammlung schweigen. Würden die das gemacht haben oder hat Paulus Erfolg gehabt, haben die das so genommen wie die spätere Kirchengeschichte das als Gesetz genommen hat oder wie war das wohl, und da wissen wir vom 2. Konrintherbrief, daß die Korinther und die Korintherinnen sich wirklich nicht viel um Paulus gekümmert haben, weil er sich darüber beklagt.

Selbst wenn die Schriften der Bibel nicht mehr als letzte Autorität gelten: Das Bemühen, in der Bibel Ermutigung und Anregung zum richtigen Leben heute zu finden, bleibt schwierig. Denn im Urchristentum gab es zwar auch Gemeinden und Gruppen, in denen Frauen mitredeten und führende Positionen hatten, aber es gab eben auch andere, die sie in untergeordnete Positionen zwingen wollten. Die Entscheidung, heute die einen besser und die anderen schlechter zu finden, ist letztlich subjektiv und nicht wissenschaftlich zu begründen. Die Herausgeberinnen der Womans Bible vor hundert Jahren hatten da noch keine Skrupel. Sie teilten die Texte entsprechend ihren politischen, emanzipatorischen Überzeugungen in gute und schlechte ein. Eine Unterscheidung, die sich jedoch im Lauf der Zeit für feministische Theologinnen als problematisch erwiesen hat. Denn: Was genau ist ein freuenfreundlicher und was ist ein frauenfeindlicher Text? Zum Beispiel das schöne Gebot: Du sollst deinen Nächsten lieben, wie dich selbst. Auch die größte Skeptikerin kann darin erstmal nichts frauenfeindliches finden. Wenn das Gebot aber einer Ehefrau gesagt wird, die von ihrem Mann geschlagen und ausgenutzt wird, und der Seelsorger setzt es ein, um sie davon abzuhalten, diesen Mann zu verlassen, dann wirkt es heute als Herrschafts-Gebot, als frauenfeindliches Gebot. Manche Theologinnen, wie die Dänin Lone Fatum, Professorin an der Universität von Kopenhagen, bezweifeln, daß es überhaupt frauenfreundliche Texte in der Bibel gibt.

Es ist eine patriarchalische Konstruktion von androzentrischen Symbolwerten, es ist eine hierarchische Konstruktion, definiert von Ehre und Scham oder Schande. Es ist eine Konstruktion, die außerordentlich hierarchisch etabliert ist. Es gibt Bibelstellen, die schlechter sind, aber es gibt nicht Bibelstellen, die besonders geeignet sind, Frauen zu christlicher Erbauung zu helfen.

Daß die Evangelien von auffällig vielen Frauen im Umfeld Jesu berichten, ist nach Meinung von Lone Fatum nicht unbedingt ein Zeichen dafür, daß Frauen auch tatsächlich eine besondere Rolle in der Jesusbewegung spielten. Die Evangelien beschreiben nämlich nicht die Wirklichkeit ihrer Zeit, sondern sind literarisch komponierte Erzählungen. Die symbolhafte Betonung der weiblichen Anhängerinnen vor allem im Markusevangelium ist nach Meinung von Lone Fatum nur ein literarisches Element, das Markus anwendet, um Jesus als Außenseiter der Gesellschaft zu charakterisieren, ähnlich dem der Zöllner und Aussätzigen. Weil Frauen nach einem in der Antike verbreiteten Stereotyp unrein und weniger wert sind als Männer, können sie von Markus gewissermaßen als Stilmittel eingesetzt werden, ohne daß er diese Wertung damit in Frage stellt.

Für viele Christinnen ist diese grundsätzliche Skepsis gegen die Bibeltexte jedoch unbefriedigend. Luise Schottroff zum Beispiel findet, daß es durchaus »gute« Stellen gibt, die heute noch ihre Gültigkeit haben, wie zum Beispiel die Passage im Galaterbrief, an der Paulus schreibt: Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus.

Ja, also die Autorität von Galater 3,28 kommt für mich nicht daher, daß der Text da steht, Die Autorität kommt daher, daß ich mir überlege, als Lydia mit Paulus Krach hatte, wie in Apg. 16 zu lesen ist, weil er nämlich nicht in das Haus der Lydia gehen wollte und das Haus der Lydia nicht zum Ort der Gemeinde in Philippi machen wollte, da hat die Lydia mit Paulus argumentiert und hat gesagt, wenn ihr mich erst getauft habt und der Meinung seid, ich bin gläubig, dann müßt ihr jetzt auch in mein Haus kommen. Das heißt, Lydia hat mit Gal. 3,28 argumentiert und offensichtlich den Paulus damit auch genötigt ins Haus zu kommen, wie die Geschichte erzählt. D.h., ich isoliere nicht die Geschichte, die Texte von den Menschen in ihrer Praxis von ihrem gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang. Wenn ich die Texte isoliere, kann ich alles damit machen.

Daraus ergibt sich aber noch ein anderes Problem: Es ist gar nicht so leicht, etwas über diesen gesellschaftlichen Zusammenhang herauszufinden. Gerade die interessantesten antiken Texte haben nämlich nicht den Weg in den offiziell abgesegneten Kanon, die Bibel, wie wir sie heute kennen, gefunden. Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, daß Texte, in denen Frauen eine führende Rolle spielen, nicht einfach zufällig verloren gegangen sind, sondern systematisch aus der Bibel ausgeschlossen wurden. Deshalb beschränken sich die Forscherinnen längst nicht mehr auf die klassischen Bibeltexte, sondern ziehen andere Schriften aus der Zeit der frühen Jesusbewegung zu Rate. Ein Jubiläumsband, den Elisabeth Schüssler-Fiorenza jetzt zur Erinnerung an die Womans Bible herausgegeben hat, trägt daher den programmatischen Titel: Searching the Scriptures: Auf der Suche nach den Schriften.

Ich hab ja schon herausgestellt, daß Kanonbildung im Interesse von Machtverhältnissen und Herrschaftsverhältnissen entstanden ist, der Kanon fiel ja nicht vom Himmel. Der Kanon hat sich im Verlauf von Jahrhunderten gebildet und man kann das nicht direkt beweisen, aber was historisch gesehen werden kann ist, daß der Kanon sich zu gleicher Zeit herausgebildet hat, als auch die Frauen die fühernden Frauenstellen in den Frühkirchen, zurückgedrängt worden sind. Und da find ich es wichtig, zum Bewußtsein zu bringen, daß es ne Zeit gab, wo viel mehr Bücher zum Kanon gehört haben, als wir heute noch wissen, zum Beispiel die Akten von Thekla und Paulus waren lange umstritten in der Frühkirche, ob die kanonisch waren oder nicht kanonisch waren. Dadurch, daß sie nicht in den Kanon gekommen sind, wissen wir oft nichts davon, daß Thekla als Missionarin gesehen wurde, wie Paulus, und in der Frühkirche bis ins 5. Jhd. gab es einen großen Thekla-Kult und von daher ist es für mich wichtig, die Schriften, die wir historisch verloren haben, wieder zu Bewußtsein zu bringen, z.B. das Evangelium von Maria Magdalena, davon wissen die meisten Christinnen nichts. Aber was das Evangelium uns zu Bewußtsein bringt ist, daß Evangelien unter Frauennamen überliefert worden sind, darin gibt es den ganzen Streit über die Führungsposition von Maria von Magdala und die Frage, ob ihr Jesus mehr anvertraut hat, als den Männern.

Die historische Forschung über die frühen judenchristlichen Gemeinden ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist die Praxis der Bibelauslegung in den offiziellen Kirchen. Die Illusion, durch profunde Bibelkenntnis und historisch-kritische Forschung könnten sie eingefahrene Kirchenpositionen verändern, haben die meisten Frauen längst aufgegeben. Noch immer halten die katholische und die orthodoxen Kirchen daran fest, daß Frauen keine Priesterinnen werden können, weil Jesus angeblich nur Männer zu Ämtern berufen habe und die urchristlichen Gemeinden dieser Praxis gefolgt seien – eine Behauptung, die schlichtweg falsch ist. Daß Frauen in vielen frühchristlichen Gemeinden höchste Ämter innehatten, ist eine wissenschaftlich inzwischen unbestreitbare Tatsache. Nur hat sie eben keine Auswirkung auf die Praxis der Kirchen. Auch in der evangelischen Kirche helfen Bibelzitate den Frauen nicht weiter, weiß Luise Schottroff:

Ich bin an den Texten als Legitimation null interessiert, das interessiert mich nicht, ja, weil meine Erfahrung ist ja, ich kann die Bibel zehnmal so gut kennen, wie die Leute, die die Macht haben, damit erreiche ich nichts, das ist überhaupt nicht die Ebene, auf der ich rede.

Nach all den Jahren feministisch-theologischer Forschung hat sich in den offiziellen Kirchen und auch in der theologischen Wissenschaft noch äußerst wenig geändert. Was Elizabeth Cady-Stanton nicht gelang, nämlich mit ihrer Bibelinterpretation Einfluß auf die religiösen Institutionen zu nehmen, versuchten auch ihre Nachfolgerinnen in den siebziger und achtziger Jahren vergeblich. Vor allem in Deutschland steht man der feministischen Theologie immer noch skeptisch bis ablehnend gegenüber. Es zeigt sich immer deutlicher, daß gute Argumente nicht unbedingt zählen, wenn es um den Erhalt liebgewonnener Machtpositionen und Vorurteile geht. Die historische Forschung über das frühe Christentum verliert daher gerade bei jüngeren Theologinnen zunehmend an Popularität. Stattdessen rückt die Frage in den Vordergrund, wie die Interpretation biblischer Texte vom jeweiligen Zusammenhang abhängig ist, in dem sie gelesen werden – kontextuelle Theologie ist das Stichwort. Und dabei greifen sich die Feministinnen durchaus auch an die eigene Nase. Zum Beispiel hat es sich gezeigt, daß die feministische Bibelinterpretation lange von der Sicht weißer, wohlhabender Frauen geprägt war – und daß zum Beispiel schwarze Frauen beim Lesen der Bibel auf ganz andere Ideen kommen. »Womanist Theology« nennen in den USA schwarze Frauen ihre Arbeiten, um sie von der weißen feministischen Theologie abzugrenzen. Sheila Briggs, die an der University of South Carolina in Los Angeles lehrt und dort das Zentrum für Frauenforschung leitet:

In womanist theology meint man, daß sehr vieles, was in der feministischen Theologie als androzentrisch oder sexistisch, das stimmt nicht für die schwarze Theologie und die schwarzen Kirchen, daß weiße Frauen von ihrer gesellschaftlichen Stellung aus, haben also Christus als diesen unterdrückenden Mann, also diesen Vergewaltiger erfahren, aber das ist eine ganz andere Erfahrung, als Schwarze, daß Jesus für schwarze Frauen ist kein Herr, daß Jesus dort ein Mitleidender, also daß das Geschlecht, das männliche Geschlecht von Jesus von Nazareth ist nicht strittig bei schwarzen Frauen, weil ihre Erfahrung von ihren Männern ist, daß ihre Männer also nicht mit vollen patriarchalen Privilegien verkleidet sind.

Elizabeth Cady-Stanton’s Womans Bible selbst ist ein gutes Beispiel: Für die weißen Frauen der bürgerlichen Mittelschicht war vor hundert Jahren die rechtliche Gleichstellung mit den Männern das wichtigste Thema: Wahlrecht, Bildung, gleiche Chancen im Beruf. Die Womans Bible untersucht die Bibel ausschließlich unter dieser Perspektive: Wo wird die Gleichheit der Geschlechter betont, wo übernehmen Frauen Führungsrollen, wo zeigen sie sich gelehrt und gebildet? Das sind die Fragen der Autorinnen der Womans Bible, und das sind auch heute noch die Fragen vieler weißer Frauen in den Industrieländern. Wenn aber schwarze Frauen, Frauen in Lateinamerika oder in Afrika eine Womans Bible schreiben würden, hätten sie ganz andere Fragen. Über die Autorität der Schrift läßt sich wissenschaftlich abstrakt vielleicht in Europa oder den USA trefflich streiten, für Lateinamerika hilft das aber kaum weiter, meint die brasilianische Theologin Regene Lamb:

Für meinen Kontext ist das zu wenig konkret, mein Ausgangspunkt ist auch die konkrete Realität von Frauen und die Überlebenskämpfe und da muß es irgendwie ne Wirkung, welche Wirkung zeigt es und daran ist es bemessen. Ich sag für Lateinamerika ist die Frage, ob Bibel ne Autorität hat oder nicht, eine Luxusfrage, weil die Bibel als Instrument der Unterdrückung, als Unterdrückungsinstrument funktioniert und gekommen ist und für die Prägung der gesamten Kultur eine bedeutende Rolle spielt.

Eine wichtige Rolle spielt bei diesen Forschungen die Dekonstruktivismus-Theorie des französischen Philosophen Michel Foucault. Nach Foucault ist Wissen immer untrennbar mit Macht verbunden. Jede Literatur – und also auch die Bibel – ist eine Konstruktion von Wahrheit, meistens im Sinne der Herrschenden. Die Aufgabe einer kritischen Auslegung ist es, diese vorgebliche Wahrheit als Machtmittel zu entlarven. Die niederländische Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal hat dazu eine Methode entwickelt, die sehr gut für Bibelauslegungen geeignet ist und von vielen Theologinnen inzwischen aufgegriffen wird.

Jede Erzählung ist eine Darstellung von Ereignissen, mit Handelnden, Leuten die Dinge tun. Und jede Erzählung kann anhand von drei Fragen analysiert werden: Wer spricht? Wer schaut? Wer handelt? In anderen Worten: Wer erzählt die Geschichte? Wessen Version, welche Sicht der Dinge wird vorgestellt? Und wer tut die verschiedenen Dinge in der Erzählung? Und wenn Sie diese drei Schlüsselfragen nehmen, einschließlich ihrer Negative: Wer spricht nie? Wer kommt nicht dazu, zu handeln? Welche Charaktere spielen nur eine untergeordnete Rolle? Dann bekommen Sie einen recht guten Überblick über die Machtverhältnisse in dem Text. Und wenn Sie das dann nicht nur mit dem Text selber machen, sondern auch in späteren Neufassungen davon, in Kinderbibeln zum Beispiel, dann sehen sie sehr schnell die Manipulationen.

Biblische Erzählungen haben eine außerordentliche Wirkung entfaltet. Frauenfiguren wie die verführerische und sündhafte Eva, die heilige Maria oder die Hure Maria Magdalena rufen auch bei nicht-religiösen Menschen Assoziationen hervor, auf die Malerei, Filme, Literatur und Werbung setzen können. Diese Frauentypen haben mit dem Bibeltext, dem sie entlehnt sind, gar nichts mehr zu tun. Die Wirkkraft dieser Bilder kann deshalb auch nicht dadurch ausgeschaltet werden, daß Frauen aufzeigen, was da in der Bibel wirklich steht und wie es ursprünglich gemeint war. Sie kann höchstens relativiert werden, indem Frauen andere Interpretationen, ihre eigenen Bilder dieser frauenfeindlichen Tradition entgegensetzen. Ute Knie zum Beispiel, Dozentin für Bibliodrama im Burkhardthaus in Gelnhausen, versucht, die Erkenntnisse der feministischen Theologie praktisch umzusetzen.

Ich würd keine Geschichte spielen von Herrn Lot, sondern ich mach nen Bibliodrama zur feministischen Revision, und da steht Frau Lot im Zentrum. Wir machten neulich nen Bibliodrama, das hieß: Drehn sie sich um, Frau Lot. Also entgegen dem biblischen Text nochmal zu gucken, was wäre in dem biblischen Text von der Perspektive einer Frau zu sehen.

Ein weiteres sehr wichtiges Gebiet ist die Pädagogik. Gerade Kinderbibeln, die die Texte kindgerecht nacherzählen wollen, verdrehen und verfälschen gerade die Darstellung von Frauen meist erheblich. Wie selbstverständlich wird etwa das bürgerliche Ehe- und Familienideal der Frau, die sich um die Kinder kümmert und für die Familie sorgt, in die antiken Texte hineininterpretiert. Dennoch sind Religionspädagoginnen recht zuversichtlich, daß sich da in absehbarer Zeit etwas ändern läßt. Denn wo andere beklagen, daß christliches Grundwissen immer mehr verloren geht, haben sie die Hoffnung, daß gerade dadurch Lehrerinnen die Möglichkeit haben, den Kindern ein neues Bild vom Urchristentum, von den Frauen und von den in der Bibel erzählten Ereignissen nahezubringen. Ob im Bereich der Pädagogik, der Forschung, der Gemeinde – wenn Frauen feministische Theologie treiben oder praktisch anwenden, dann wollen sie die Kirche und damit auch die Gesellschaft verändern. Und so sind sie heute wieder an einem Punkt angekommen, der auch schon hinter dem Projekt der Womans Bible vor hundert Jahren stand. Elizabeth Schüssler-Fiorenza:

Elizabeth Cady-Stanton, die Herausgeberin der Womans Bible, hat im letzten Jhd. argumentiert,daß biblische Interpretation wichtig ist, nicht nur im Interesse religiöser Menschen, sondern daß Religion ein Teil der Gesellschaft ist, und daß Sie nicht Gesellschaft reformieren können, wenn Sie nicht alle Teile der Gesellschaft reformieren, und von daher hat sie darauf bestanden, daß Feministinnen oder Frauenrechtlerinnen sich mit Religion befassen müsen und das war ihr Argument, warum sie die Womans Bible herausgegeben hat, und ich finde, das Argument trifft immer noch sehr.


Mitschrift einer Radiosendung, die 1995 im Hessischen Rundfunk (hr2) lief.