Antje Schrupp im Netz

Um Gottes Willen – Rechtsruck in Kirche und Religion?

Was verstehen wir unter religiösen »Rechten« oder »Fundamentalismus«? Wahrscheinlich gibt es wichtige Unterschiede zwischen einem Rechtsruck oder Rückwärtsruck in der katholischen Kirche, evangelischem Fundamentalismus, jüdischer Ultraorthodoxie und Islamismus. Aber es handelt sich immerhin um einander recht ähnliche Religionen, sie sind monotheistisch, sie orientieren sich an einer Heiligen Schrift, sie haben Institutionen und Hierarchien, Gesetze und Ordnungen.

Ich mag das Wort »Fundamentalismus« (ich weiß gar nicht genau, ob Sie das im katholischen Kontext für den »Rechtsruck« auch verwenden) nicht so gerne. Denn für mich, eine Frau, die sich selbst durchaus als »fromm« versteht, ist das Problem an diesen Phänomenen nicht unbedingt, dass hier Menschen radikal, existenziell, »fundamental« sozusagen, ich wüsste gar nicht, wie man anders über Gott nachdenken sollte. Sondern das Problem ist aus meiner Sicht eher, dass hier bestimmte Hierarchien, Institutionen für sich beanspruchen, die Begegnung mit Gott und das Reden über Gott besser zu können als andere, und dass sie diese Position mit Macht, mit Gesetzen und teilweise sogar mit Gewalt versuchen, durchzusetzen.

Mich beschäftigt nämlich auch – als Feministin – das Phänomen, dass diese Bewegungen sehr patriarchal sind, also die Hierarchien und Institutionen sind alle von Männern dominiert und transportieren ein hierarchisches Geschlechterverhältnis, gleichzeitig finden sie aber gerade unter Frauen eifrige Unterstützerinnen. Woher kommt das? Welches Bedürfnis zeigt sich da bei den Frauen? Ich glaube, dass der Fehler im Bezug auf die Unterstützung des Fundamentalismus seitens der Frauen und seitens der Männer unterschiedlich gelagert ist. Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat einmal gesagt, die größte Sünde der Männer war es, dass sie sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt haben, und die größte Sünde der Frauen war es, dass sie das zugelassen haben. Das gilt bestimmt nicht für alle Männer und sicher gilt es nicht für alle Frauen, aber es ist ein zentrales Problem des Phänomens.

Deshalb sage ich statt Fundamentalismus lieber »patriarchaler Monotheismus«. Der Monotheismus, also die Betonung des »einen Gottes«, wurde auf diese Weise zu einem Streit darüber, welcher Gott der Richtige ist, zu einem Grund, andere Sichtweisen auf und Erfahrungen mit Gott auszugrenzen. Das kann sogar soweit gehen, dass man sich über das Recht zur Verwendung des Wortes »Gottes« streitet. Vielleicht haben Sie mitbekommen, dass vor zwei Wochen in Malaysia ein Gerichtsurteil über die Verwendung des Wortes »Gott« bzw. »Allah« zu entscheiden hatte. Die Islambehörde des Landes hatte einer katholischen Zeitung die Verwendung des Wortes »Allah« für Gott verboten, weil mit »Allah« nur der muslimische Gott gemeint sei. Ein Gericht hatte dieses Verbot wieder aufgehoben, daraufhin gab es Anschläge auf Kirchen.

Hier, bei uns, im Westen betrifft das Phänomen weniger den Streit darum, wessen Gott der »bessere« ist, sondern darum, ob es Gott überhaupt gibt. Der Streit ist einer zwischen Fundamentalisten und Säkularen, wobei im Westen die Säkularen inzwischen ziemlich in der Überzahl sind. Fundamentalismus wird bei uns in aller Regel interpretiert als das Gegenteil von Aufklärung. Fundamentalisten erscheinen als rückständige Leute, die noch immer einem veralteten Konzept anhängen – eben dem Irrglauben, es gebe einen Gott – und das bringt sie dazu, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, worüber die aufgeklärten Atheisten natürlich nur den Kopf schütteln können.

Meine Frage ist: Welche Bedeutung hat das Wort »Gott« überhaupt, heute in dieser Welt? Und wie sind vor diesem Hintergrund aktuelle Diskussionen und konfliktreiche Diskurse zu interpretieren? Und welche Möglichkeiten haben wir, überhaupt noch von Gott öffentlich zu sprechen?

Die Debatten darüber, speziell im Bezug auf den christlichen und den islamischen Fundamentalismus, identifizieren die »allzu Religiösen« auf der einen und die Säkularen auf der anderen Seite. Dabei scheint es vor allem um die Frage zu gehen, wie viel Einfluss Religion und Gottesglaube auf die Politik und das öffentliche Leben haben (dürfen). Die Fundamentalisten werden als solche gesehen, die ihre religiösen Überzeugungen zur Grundlage von Gesetzen und gesellschaftlichen Institutionen machen wollen – Beispiel Evangelikale in Lateinamerika, Islamisten in Nordafrika, Katholiken in Polen oder Irland. Und das stimmt zu einem Großteil durchaus mit ihrem Selbstbild überein, wie man ja auch an dem Konflikt in Malaysia sieht.

Die Säkularen hingegen gelten als diejenigen, die den Bezug auf einen Gottesbegriff für die öffentliche Sphäre ablehnen – Beispiele sind die Diskussion um den Gottesbegriff in der Europäischen Verfassung. Säkulare wollen Religion nur im Privatleben, in der persönlichen Innerlichkeit bzw. religiösen Zusammenschlüssen zulassen und treten dafür ein, dass Religionen keine öffentliche Unterstützung erhalten sollen.

Diese Gegenüberstellung von Fundamentalismus und Säkularismus ist aber nicht hilfreich, um die Konflikte, die sich daraus ergeben, zu verstehen. Im Prinzip religiöser Fundamentalismus und ebenso selbstüberzeugte säkulare Aufklärung nicht zwei einander entgegen gesetzte ideengeschichtliche Strömungen, sondern es handelt sich vielmehr um zwei Seiten derselben Medaille handelt, bei der die eine aus der anderen folgt, die sich gegenseitig verstärken und sich voneinander nähren.

In seiner politischen Erscheinung ist das, was im Allgemeinen als religiösen Fundamentalismus bezeichnet wird, keine religiöse Bewegung im eigentlichen Sinne, also der einer spirituellen Praxis. Es geht hier nicht um das Nachdenken über Gott, also um die persönliche oder auch kollektive Öffnung von Menschen für etwas Höheres, das die menschliche Erkenntnis- und Gestaltungsfähigkeit innerhalb der vorgefundenen Welt übersteigt. Es geht nicht darum, dem innerweltlichen Maßstab etwas Transzendentes zur Seite zu stellen, wodurch Menschen sich selbst immer wieder in Frage gestellt sehen und sich ihrer Endlichkeit und Begrenztheit bewusst werden.

Sondern es sind rein innerweltliche Themen, die hier verhandelt werden: Kreuze in Klassenzimmern, das Tragen von Kopftüchern, Gesetzgebung zu Abtreibung oder Homosexualität, die Pflicht zur Teilnahme von Kindern am Schulunterricht (Biologie für Kinder christlicher Kreationisten, Schwimmen für muslimische Mädchen) oder gar bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen staatlichen und religiös-fundamentalistischen Gruppierungen. All diese Themen betreffen ja nicht das Verhältnis der Menschen zu Gott, sondern das Verhältnis von Menschen zu religiösen und weltlichen Institutionen, zu Politik und gesellschaftlichen Strukturen, sowie den Einfluss religiöser Institutionen auf das öffentliche Leben insgesamt.

Als Begriff ist das Wort Fundamentalismus abgeleitet von einer gleichnamigen Zeitschriftenreihe: Zwischen 1910 und 1915 wurde in den USA, finanziert mit der Unterstützung kalifornischer Ölmillionäre, eine christlich-konservative Schriftenreihe herausgegeben und kostenlos an nichtkatholische Pastoren, Evangelisten und Missionare und verteilt. Ihr Titel lautete »The Fundamentals«. Der Anspruch war aus dem, was als »Fundamente« des christlichen Glaubens galt, dezidierte philosophisch-politische Haltungen abzuleiten, die aus Sicht der Verfasser nicht zur Diskussion gestellt werden können. Speziell waren das die Ablehnung einer historisch-kritischen Erforschung der Bibel sowie das moderne Weltbild der Natur- und Sozialwissenschaften, die Ablehnung der Evolutionstheorie von Darwin, die mit dem Schöpfungsbericht nicht vereinbar sei. Bis heute sind dies die maßgeblichen Punkte im christlichen Fundamentalismus, und sie werden konkretisiert in der Verpflichtung auf bestimmte politische Positionen (Ablehnung von Homosexualität, von Abtreibung) sowie bestimmte Lebensstile (kein Sex vor der Ehe, traditionelle Rollenaufteilung zwischen Frauen und Männern, kein Drogenkonsum).

Heute wird dieser Begriff »Fundamentalismus« nicht nur für christlich-evangelikale, sondern auch für katholische, für muslimische und für jüdische so genannte »Strenggläubige« verwendet, manchmal ist auch von »Hindufundamentalismus« die Rede. Was die inhaltliche Positionierung des islamischen oder auch des jüdischen Fundamentalismus betrifft, da kenne ich mich allerdings nicht gut genug aus, es wäre mal spannend, darüber einen »Trialog« zu führen, aber ich denke, es ist plausibel zu sagen, dass auch hier die vorwiegend politische Orientierung deutlich zu Tage tritt.

Dem Fundamentalismus – wie ich meine in allen drei Religionen – ist außerdem eigentümlich, dass dazu eine starke Bindung an eine konkrete Gemeinde oder religiöse Gemeinschaft gehört, deren Veranstaltungen, etwa Gottesdienste, verpflichtend und regelmäßig besucht werden und in dessen Mittelpunkt meistens eine charismatische Führungspersönlichkeit steht, ein mitreißender Prediger, ein beliebter Imam. Es gibt kaum »einzelgängerische« Fundamentalisten. Das ist auch verständlich, denn nur klar umrissene Gemeinschaften können den sozialen Druck aufbringen, der notwendig ist, um die Leute gewissermaßen »bei der Stange« zu halten.

Nach Ansicht der katholischen Theologin Elisabeth Schüssler-Fiorenza weisen fundamentalistischen Bewegungen bestimmte gemeinsame Züge auf: Sie setzen sehr geschickt moderne Medientechnologie ein und befürworten allgemein nationale oder religiöse Ausschließung (konstruieren also ein »Wir« und ein »Die«). Sie verstehen sich einerseits als konservativ, nutzen aber dennoch moderne Technologien.

Vor allem aber lehnen sie viele der politischen und ethischen Werte moderner Demokratie ab, und zwar zunächst einmal ihre Ausbreitung auch innerhalb der religiösen Institutionen, dann aber auch in der Gesellschaft generell. Insofern der Fundamentalismus eine Gegenbewegung gegen den modernen Liberalismus ist – sowohl gegen den Politischen als auch den Religiösen – ist er selbst ein modernes Phänomen. (Schüssler Fiorenza 2008, S. 137f) Und er ist im Übrigen inzwischen sogar in der Postmoderne angekommen, wenn etwa in den USA christliche Fundamentalisten sich auf die Pluralität und die Meinungsvielfalt berufen und daraus das Recht ableiten, in ihren Schulen Kreationismus statt Evolution zu unterrichten oder Propaganda gegen Homosexualität machen und so weiter.

Es gibt verschiedene soziologische oder auch psychologische Erklärungen, die die Faszination und den Zulauf fundamentalistischen Denkens erklären. Viele sehen die Ursache in einer zunehmenden Verunsicherung in einer komplexen und unübersichtlichen Welt, die feste Positionen und die Geborgenheit einer engen Gemeinde attraktiv erscheinen lassen. Tatsächlich schließen sich viele Menschen gerade in Sinn- und Lebenskrisen einer solchen Gruppe an.

Ein anderer Nährboden für einen Aufschwung fundamentalistischer Bewegungen ist das (reale oder auch eingebildete) Gefühl, die eigenen kulturellen Wurzeln zu verlieren und »Kolonialisiert« zu werden. Die Philosophin Simone Weil hat bereits in den 1930er Jahren einen erstarkenden fundamentalistischen Nationalismus in Nordafrika vorausgesagt, der ihrer Ansicht nach eine unausweichliche Folge der französischen Kolonialherrschaft und ihres Kulturimperialismus war. Die Entstehung der Muslimbruderschaft in Ägypten war zum Beispiel eine direkte Reaktion darauf, dass westlich-aufklärerische Weltanschauungen in Nordafrika die eigene Geschichte und Kultur bis hin zur Muttersprache entfremdeten. Ähnlich kann man auch auf Afghanistan blicken, wo die Entstehung der Taliban eine Reaktion auf die sowjetische Besatzung gesehen werden können, die ein westlich-egalitäres Gesellschaftsmodell ohne Rücksicht auf kulturelle Wurzeln den Menschen übergestülpt und mit Militärgewalt durchgesetzt haben. Wobei hier natürlich noch dazu kommt, dass die Taliban als Widerstandsbewegung gegen die Sowjetbesatzung mit US-amerikanischer Hilfe gezielt aufgebaut worden sind, sodass der spezielle Fundamentalismus in Afghanistan, der vielen Menschen heute als »typisch islamisch« gilt, das genaue Gegenteil ist: Nämlich ein Nebenprodukt inner-westlicher Weltanschauungskämpfe zwischen Kapitalismus und Kommunismus.

Die »Fundamentalisierung« des Islam in Deutschland wiederum ist eine direkte Folge der antiislamischen Stimmung in der Folge von 9/11 sowie der sozialen Unsicherheit und gefühlten Perspektivlosigkeit in migrantischen Bevölkerungsschichten. Auch dies zeigt deutlich, dass es beim Fundamentalismus gerade nicht um die Bewahrung alter Traditionen geht, sondern gewissermaßen um ihre Reaktivierung zu einem Zeitpunkt, wo sie eigentlich schon längst verschwunden und bedeutungslos geworden sind. Viele der in Deutschland lebenden Muslime, die sich heute speziell »islamisch« verstehen und Wert legen auf äußerlich sichtbare Bekenntnisse zu »ihrer« Religion wie das Kopftuch oder den Bart, haben zuvor säkular gelebt. Ihr religiöses Bekenntnis ist ganz klar eine Reaktion auf ausdrückliche Appelle an die Muslime, sich zu integrieren oder auch zu assimilieren, die besonders nach dem 11. September zugenommen haben und dann aber eben paradoxerweise gerade nicht die Integration befördert haben, sondern im Gegenteil Teile der Muslime genau in die Arme der Fundamentalisten getrieben haben.

Ähnlich ist es auch mit den fundamentalistischen Strömungen im Christentum, die häufig einen demonstrativen Charakter haben. Ich erinnere mich zum Beispiel noch an die Slogans und Sticker und Aufkleber, mit denen in den 1970er Jahren die Leute vom »Entschiedenen Christentum« aufgetreten sind. Damit sprechen sie auch ein Bedürfnis in Menschen nach einer gewissen Radikalität im Hinblick auf das Religiöse an. Viele junge Menschen haben den Wunsch, etwas Existenzielles zu tun, das kann sich politisch, aber auch religiös äußern, etwa in dem Wunsch, Nonne zu werden, oder auch einer anderen Religion beizutreten. Dieses »Bekehrungserlebnis«, etwa im Bekenntnis zu einer fundamentalistischen Sekte (in Abgrenzung zur langweiligen normalen Kirchengemeinde) oder im Übertritt zum Islam, verspricht dem eigenen Leben etwas Besonderes, Bedeutendes, eben Existenzielles zu verleihen. Daher wird es gezeigt, nach außen sichtbar gemacht durch bestimmte Kleidung, durch äußere Zeichen, die diese Zugehörigkeit und damit Besonderheit deutlich demonstrieren.

Eine jüdische Interviewpartnerin hat mir vergangene Woche gerade erzählt, dass es in Frankfurt neuerdings eine sehr aktive Gemeinde von ultraorthodoxen jungen Familien gibt, die sich in einer eigenen Synagoge treffen (obwohl schon die »normale« Synagoge orthodox ausgerichtet ist), wo sie besonders radikal bestimmte Regeln anwenden, zum Beispiel sitzen Frauen und Männer nicht nur während des Gottesdienstes getrennt, sondern auch beim anschließenden Essen, und die Frauen tragen Perücken, was selbst unter Orthodoxen in Deutschland nicht mehr üblich ist.

Dieser Wunsch nach Radikalität, nach einem religiösen Bekenntnis, dass nicht nur oberflächlich ist, sondern die gesamte Existenz betrifft, ist meiner Ansicht nach für sich genommen noch nicht fundamentalistisch. Sondern wird das erst, so meine These, wenn daraus Regeln abgeleitet werden, die für alle gelten sollen, wenn versucht wird, diese Regeln politisch abzusichern. Mit anderen Worten: Wenn genau dieser Wechsel passiert von einer persönlichen Gottesbeziehung, die eine Person dazu bringt, sich so oder so zu verhalten und damit vom gesellschaftlichen Mainstream abzuweichen, hin zu einer Haltung, die beansprucht, Gottes Willen ganz genau zu kennen und dann an seiner Stelle Herrschaft über andere auszuüben.

In dieser Hinsicht finde ich im übrigen momentan die Musliminnen richtig gut, die die »Kopftuchdebatte« in Deutschland zum Anlass nehmen, um uns als Gesellschaft genau diesen Unterschied wieder zu erklären: Dass es bei ihrem Entschluss, ein Kopftuch zu tragen, eben nicht darum geht, sich einem Gesetz oder den Männern zu unterwerfen, sondern um eine persönliche religiöse Entscheidung, die nicht missionarisch gemeint ist, die nicht meint, jetzt müssten alle Frauen oder zumindest alle Musliminnen ein Kopftuch tragen. Aber das ist schwer zu vermitteln, gerade weil wir eine säkulare Welt sind. Wenn zum Beispiel Gerichte die Diskriminierung von Kopftuchtragenden Frauen, etwa ihren Ausschluss aus Laufbahnen des öffentlichen Dienstes, damit begründen, dass es nach den Regeln des Islam doch gar nicht zwingend notwendig sei, dass eine Frau Kopftuch trägt. Dieses Argument geht am Kern gerade vorbei, wenn man Religion eben als eine persönliche, wenn auch natürlich kulturell geprägte Gottesbeziehung versteht. Da stehen sich dann zwei Gesetzesordnungen gegenüber, und sie streiten bloß darüber, ob nach den Gesetzen des Islam Frauen Kopftuch tragen müssen oder nicht. Genau das interessiert wirklich fromme Menschen aber gar nicht. Die interessiert bloß, was Gott von ihnen will.

Luisa Muraro vertritt die Auffassung, dass genau dieser ideengeschichtliche Wandel in Europa von einschneidender Bedeutung war: Der Wandel von einer Gesellschaft, in der Religiosität bedeutete, sich dem Willen Gottes anzuvertrauen in dem Bewusstsein, dass Gott die Welt, so wie sie ist, gut geschaffen hat und die Aufgabe der Menschen darin bestand, möglichst den Willen Gottes so gut wie möglich zu erkennen, hin zu einer Gesellschaft, in der von Menschen, von Männern gemachte Institutionen die Welt regieren und Gottes Willen in ihr erst einmal durchsetzen müssen.

Dieser Wandel vollzog sich so etwa um das 14. Jahrhundert und läutete eine der brutalsten Epochen der europäischen Geschichte ein, die Hexenverfolgungen. Luisa Muraro erforschte zwei Inquisitionsprozesse im 14. Jahrhundert. Vor dem Mailänder Inquisitionsgericht wurden damals im Abstand von zehn Jahren zwei Prozesse gegen zwei Frauen geführt, Sibilla und Pierina, die eine weibliche Gottheit, Madonna Oriente, verehrten. Das erste Mal wurden die beiden Frauen zu einer Bußübung verurteilt, das zweite Mal, weil sie rückfällig wurden, zum Tod auf dem Scheiterhaufen.

Diese Prozesse gegen Sibilla und Pierina in Mailand sind unter Historikern bekannt, weil sie viel altes Material über die vorchristliche magische Kultur und den alten Glauben enthalten. Aber Muraro hält den Prozess aus einem ganz anderen Grund für viel bedeutender, nämlich, so schreibt sie, »weil er den leisen Zusammenbruch einer männlichen geistigen Ordnung zeigt, die Gott die Sorge um die Welt anvertraut hatte, und an dessen Ort sich jetzt die Männer selbst stellen in Form ihrer öffentlichen Funktionen und ihrer Wissenschaften.« Also, kurz gesagt, die Entwicklung von einer männlich dominierten Glaubenskultur hin zu einer ebenfalls männlich dominierten säkularen Kultur, in der Männer für sich selbst die Stelle des obersten Richters und Maßstabs beanspruchen.

Muraro ist nämlich aufgefallen, dass sich die Argumentation der Kirchenjuristen zwischen dem ersten und dem zweiten Prozess grundlegend geändert hatte. In den Jahrhunderten zuvor hatten sich die Kirchenmänner dem diffusen Volksglauben an magische Mächte und Kräfte von Hexen mit einem Dokument entgegengestellt, das als »Canon episcopi« bekannt ist. Darin hieß es: »Wer an die Hexen und ihre magische Kraft glaubt, glaubt nicht an unseren Herren, sondern an den Teufel, weil vom Herrn geschrieben ist, dass jedes Ding sein Werk ist und jede Sache ihm gehorcht«. Dieses Prinzip gilt auch noch im Prozess von 1380, der die beiden Frauen schuldig spricht, sie hätten behauptet, bestimmte magische Dinge getan zu haben. Ihnen wird also vorgeworfen, dass sie behaupten, magische Kräfte zu haben, obwohl doch nur Gott Wunder wirken kann und Menschen nicht. Doch im zweiten Urteil, von 1390, heißt es, dass die beiden Frauen verurteilt werden, weil sie die Dinge gemacht hätten.

Plötzlich verschwindet also eine symbolische Distanz. Es geht nicht mehr darum, den christlichen Glauben zu verbreiten, wonach nur Gott allein übernatürliche Kräfte hat. Sondern die Kirchenmänner selbst scheinen jetzt an Hexenkräfte zu glauben. Sie haben, so schreibt es Muraro, den Glauben »in das Gutsein des Universums insofern es Gottes Werk ist« verloren.

Man könnte also sagen, dass der Anfang der Hexenverfolgung den Abfall der Kirche vom Glauben an Gott markiert. Nicht Gott regiert die Welt, sondern die kirchliche Inquisition, die behauptet, ohne ihre Gerichtsbarkeit könnte Gott nichts machen. In diesem Kontext ergibt die Mahnung etwa von Teresa von Avila »Gott allein genügt« einen wirklich auch politischen Sinn. Und obwohl sie heilig gesprochen wurde, hat man auf ihre Mahnung nicht gehört. Die Männer haben sich quasi an die Stelle Gottes gesetzt, nicht Gott richtet über die Menschen, sondern die Inquisition. Überlebenswichtig für die Menschen ist nun nicht mehr, was Gott von ihnen will, sondern was die Kirchenhierarchie von ihnen will.

Muraro ist der Ansicht, und ich finde das sehr plausibel, dass genau dieser Umschwung letztlich den Boden bereitet hat für den modernen, säkularen Staat und eine Weltanschauung, die diesen überflüssig gewordenen Gott dann auch offen aus ihrem Vokabular gestrichen ist. Gott ist tot, der Bezug auf sie oder ihn überflüssig geworden. Und so ist die Beziehung zwischen Säkularismus und Fundamentalismus nicht nur eine, die sich daraus ergibt, dass sich beide durch ihre Gegnerschaft gegenseitig bestärken und am Leben erhalten, sondern auch eine ganz direkte: Nachdem Gott im Zuge der Inquisition als Bezugsgröße und Orientierungspunkt faktisch schon bedeutungslos geworden war, hat die Säkularisierung diesen Schritt dann nur konsequent zu Ende gebracht.

Und dabei muss man ihr immerhin zugute halten, dass sie wenigstens versucht hat, die offensichtlichen Ungerechtigkeiten und das Leid, das der menschliche, letztlich männliche Anspruch, an Stelle von Gott Urteile über andere zu fällen, verursacht, institutionell einzudämmen und durch bestimmte demokratische Verfahrensweisen der Willkür einzelner Herrscher und Kirchenfürsten zu entziehen.

Ich verstehe dieses Beispiel des Mailänder Hexenprozesses und der beschriebenen Entwicklung jedoch nicht nur als ein historisches, sondern eher als ein systematisches, das wir sozusagen als Kriterium anlegen können bei der Beurteilung und auch der notwendigen Abwehr gegen patriarchalen Monotheismus: Die Frage ist nicht, ob jemand besonders »fromm« ist und in einer existenziellen und nicht nur beiläufigen Weise nach einer Gottesbeziehung sucht. Sondern die Frage ist, ob er oder sie sich wirklich Gott anvertraut, also wirklich offen ist für die damit einhergehende Transzendenz und das Urteil darüber in Gottes Hände legt, oder ob er oder dieses Vertrauen nicht hat und stattdessen die Verantwortung in die Hände der Männer und ihrer Institutionen legt (im Falle der Frauen) bzw. für sich selbst und die eigenen Institutionen beansprucht (im Falle der Männer).

Der Weg, der derzeit in unserer westlichen Gesellschaft gegangen wird, ist aber ein anderer. Und zwar erhofft man sich den Ausweg von so etwas wie einem »Kulturchristentum«. Wenn zum Beispiel im Kruzifixstreit gesagt wird, Kreuze in Klassenzimmern würden die weltanschauliche Neutralität des Staates nicht stören, weil sie ja kein dezidiert religiöses Symbol seien, sondern Teil der europäischen Kultur. Oder wenn aus demselben Grund Nonnen im Habit unterrichten dürfen, Muslimas mit Kopftuch aber nicht. Oder wenn Kirchen meinen, sie wären immer noch relevant und wichtige Kulturträger unserer Gesellschaft, weil sie soziale Arbeit professionell organisieren und ihre Orgelkonzerte so gut besucht sind.

Erstens glaube ich, das wird nicht funktionieren, weil solche Argumente letztlich den wirklich säkularen Menschen nur noch ein müdes Lächeln abringen. Und außerdem bedeutet das tatsächlich den Abschied von der eigenen Relevanz als religiöse Gemeinschaft.

Hinzu kommt, dass es auch in »moderaten«, nicht fundamentalistischen religiösen Kreisen durchaus den starken Wunsch gibt, in Zeiten, in denen die eigene Religion angegriffen wird, »Profil« zu zeigen, sich dazu öffentlich zu bekennen. Manchmal wird das versucht, um in der Konkurrenz um religiöse Sexyness, sag ich mal, mithalten zu können. In Brasilien zum Beispiel sind charismatische Strömungen innerhalb der katholischen Kirche als direkte Reaktion auf die Konkurrenz evangelikaler Pfingstkirchen entstanden – man wollte deren Anspruch, lebendiger, toller, radikaler im Glauben zu sein, etwas entgegenhalten. In der Evangelischen Kirche in Deutschland gibt es seit einigen Jahren in manchen Landeskirchen den Slogan »Evangelisch aus gutem Grund«, erfunden von Leuten, die keineswegs fundamentalismusverdächtig sind, aber die offenbar doch meinen, nach außen die eigene Besonderheit sichtbar machen zu müssen.

Ich halte diese »Bekenntnisreligion« dennoch für problematisch, und zwar gerade weil auch sie nach außen gerichtet ist, auf die Mission. Allerdings nicht in dem Sinne, wie ich Mission verstehe: Ich habe eine Beziehung zu Gott und erzähle anderen Menschen davon und vielleicht gelingt es mir, sie zu begeistern. Sondern im Sinne von: Ich stelle mich hin und erzähle, was für ein toller Hecht mein Gott bzw. meine Glaubensgemeinschaft ist, und warum er toller ist als die Götter der anderen und warum meine Kirche am nützlichsten für die Allgemeinheit ist und eigentlich alle ihr beitreten müssten. Natürlich sagt das so platt niemand. Aber ich denke zum Beispiel an diese Studien, die es immer mal wieder gibt, und die beweisen, dass religiöse Menschen alle möglichen Vorteile haben, dass sie im Alter weniger einsam sind oder mit Krankheiten besser zurecht kommen oder glücklichere Ehen führen und so weiter.

Simone Weil hat betont, wie sehr diese Hoffnung auf Nützlichkeit der Gottesbeziehung, also etwa die Sehnsucht, darin Trost zu finden, uns daran hindert, wirklich mit Gott in eine Beziehung zu treten, was nämlich nur geht, wenn man ihr oder sein Anderssein akzeptiert. Es ist keine Kunst, einen Gott zu lieben, der mir nützt. Wenn Gott mir nützt, so ihr vielleicht etwas übertriebener, aber in der Logik eben durchaus zutreffender Gedanke, dann laufe ich Gefahr, sie oder ihn nicht um ihretwillen, sondern um meinetwillen zu lieben und damit also gar nicht zu lieben.

Wer mit der Nützlichkeit Gottes sozusagen Werbung macht, begeht letztlich genau diese Sünde, sich an seine oder ihre Stelle zu setzen: Was, wenn Gott etwas anderes mit uns vorhat, als das, was wir da in seinem oder ihrem Namen behaupten und versprechen?

Oft wird von »gemäßigten« religiösen Institutionen, also den evangelischen Landeskirchen, den normalen Moscheegemeinden, dem Mainstream der katholischen Kirche, so getan, als liege das Problem mit dem Fundamentalismus darin, dass seine Anhänger und Anhängerinnen irgendwie übereifrig sind in dem, was sie verlangen und predigen. Und tatsächlich sind die offiziellen religiösen Positionen oft von der Richtung her, von der Logik ihrer Argumentation her ganz ähnlich wie die jeweils fundamentalistischen Strömungen ihrer Religion, nur eben bewegen sie sich mehr im Mainstream, nehmen Rücksicht auf das allgemeingesellschaftlich Plausible und Durchsetzbare. Abtreibung soll zwar nicht radikal verboten sein, aber man hält sie doch für Sünde. Homosexualität soll zwar toleriert werden, aber eine kirchliche Trauung verweigert man lesbischen und schwulen Paaren trotzdem. Oder im Islam: Die hundertprozentige Gleichberechtigung von Frauen lehnt man in vielen Moscheegemeinden ab, aber man formuliert es mit Rücksicht auf westliche Empfindlichkeiten etwas gemäßigter.

Die »gemäßigten« religiösen Institutionen erwecken also den Anschein, als hätten die Fundamentalisten zwar im Prinzip schon irgendwie recht, würden aber zu weit gehen und es übertreiben. Als Alternative suchen sie dann tolerantere, gemäßigtere Formen von Politik und Religion. Also: Natürlich wollen wir nicht so klare »Fundamentals« haben in unseren Glaubensrichtlinien, aber mehr »Evangelisches Profil« darf es schon sein. Auf diese Weise geraten diese »gemäßigten« Institutionen aber in eine Zwickmühle: Die Fundamentalisten in ihren eigenen Reihen können ihnen immer Anpassung an den Zeitgeist vorwerfen. Sie werden zerrissen zwischen ihren aufgeklärten und liberalen Mitgliedern auf der einen Seite und der radikalen Fundamentalisten auf der anderen Seite, und faktisch bewegt sich der Mainstream dann da, wo diese Fliehkräfte ihn einbalancieren.

Meine These ist hingegen, dass es hier nicht um ein Mehr oder Weniger, um die Unterscheidung zwischen »radikalem« und »gemäßigtem« Glauben geht. Im Prinzip, um es jetzt mal etwas überspitzt zu sagen, gibt es keinen Unterschied zwischen einem bibeltreuen Christen, der an die Verbalinspiration glaubt und alle für gotteslästerlich erklärt, die ein Jota von seinen Glaubenssätzen abweichen, und einem Papier wie dem EKD-Papier »Kirche der Freiheit«, wo auch versucht wird, das Christentum auf »Kernbotschaften« festzulegen und bestimmte »Essentials« zu definieren. Beides ist letztlich fundamentalistisch, bloß dass das eine mit dem gesellschaftlichen Mainstream kompatibel ist und das andere nicht. Der Unterschied ist aber nicht prinzipieller Natur, sondern besteht nur darin, dass die einen vom bürgerlichen, unreligiösen Kulturchristentums-Mainstream abgelehnt werden und den anderen applaudiert.

Natürlich ist dieser Unterschied durchaus wichtig, denn zu einem politischen und gesellschaftlichen Problem werden religiöse Fundamentalisten tatsächlich erst dann, wenn sie sich außerhalb des gesellschaftlichen Konsenses bewegen, also zum Beispiel sich nicht an Gesetze halten. Aber vom ideengeschichtlichen Kern her bewegen sich die Gemäßigten in derselben Argumentationslinie.

Meine These, die ich mit Ihnen diskutieren möchte, ist also folgende: Es geht beim Fundamentalismus nicht darum, einen »radikalen, überspitzten« Glauben gegen einen »gemäßigten« Glauben zu stellen. Sondern dass man die fundamentalistische Art und Weise, Religion zu verstehen – nämlich als unverrückbaren Bezug auf bestimmte »Fundamente«, die von einer legitimen Hierarchie zweifelsfrei ausgelegt werden soll – grundsätzlich hinterfragen muss.

Stattdessen erscheint es mir viel versprechend, aus dieser Logik der Konkurrenz um die beste, richtigste Weltanschauung, um die öffentliche Meinung, um »Sexyness« auszubrechen und stattdessen das Hören auf das Andere als spirituelle und politische Praxis wieder einzuüben. Dieses Andere, dessen Stelle gerade nicht besetzt wird, und das religiöse Menschen Gott nennen können, das aber eine allgemeine Notwendigkeit beschreibt: das, was ich nicht wissen kann, das, was vor der menschlichen Ratio kommt, das Kontingente und Zufällige, das sich nicht in fixe Regeln gießen lässt, das persönliche Intime, die Unio Mystica, die mir Weisheit bringt, die ich anderen aber nicht argumentativ vermitteln kann, jenes Nachdenken, mit dem ich eigene Gewissheiten und Überzeugungen an einem höheren Maßstab immer wieder überprüfe und so weiter. Oder, wie Luisa Muraro es in ihrem Buch »Der Gott der Frauen« beschreibt, die Beziehung zu jenem ersten, die »uns in die Nähe des Unsichtbaren bringt und den Ton des Unendlichen hörbar macht.«

Und mit dieser Haltung, gestärkt aus dieser Gottesbeziehung, können wir dann ich die politischen Auseinandersetzung gehen – sowohl mit den Säkularen, als auch mit den Fundamentalisten, als auch mit den Mainstream-Gemäßigten. Ohne dabei Prinzipien zu verfolgen, sondern mit der Geistesgegenwart, die der dann jeweilige Kontext verlangt.


Vortrag 20.1.2010, Kath. Hochschulgemeinde Edith Stein, Freiburg