Antje Schrupp im Netz

Du sollst nicht stehlen. Die Ordnung der Wirtschaft

Lo tignob – stiehl nicht. Zwei kleine Wörter nur, ein sehr kurzes Gebot ist dieses achte aus dem Dekalog. Lo tignob, stiehl nicht. Nicht besonders eindeutig, denn: Was heißt schon stehlen?

Klar ist nur, dass es hier um die Eigentumsfrage geht, um das Verhältnis der Menschen zu den Dingen also. Man könnte auch sagen: um Wirtschaftsfragen. Für Norbert Walter, Chefökonom der Deutschen Bank und bekennender Christ, ist das Gebot eindeutig – es schützt das Recht auf Eigentum.

O-Ton 1: Wenn jemand das Eigentumsrecht Dritter nicht beachtet, dann ist das Sünde, ob es sich dabei um einen kleinen Dieb oder um ein großes Unternehmen handelt, in gleichem Maße … Wer bei den so genannten kleinen Dingen das Eigentum nicht beachtet, der kann in großen Dingen auch das Eigentum nicht beachten, und eine Wirtschaftsordnung, die auf dem Eigentum aufgebaut ist und bei der faktisch im Kleinen dagegen verstoßen wird oder das als Kavaliersdelikt angesehen wird, eine solche Ordnung kann nicht funktionieren.

Friedhelm Hengsbach, Professor für christliche Gesellschaftsethik an der katholischen Hochschule St. Georgen und Leiter des Oswald von Nell Breuning-Instituts für Wirtschaftsethik, sieht das ein wenig anders.

O-Ton 2: Die Situation, dass ein Einzelner gleichsam einen Raubüberfall startet oder in die Wohnung eines anderen einbricht, ist ja relativ, bei dem, was insgesamt an gesellschaftlichem Reichtum vorhanden war, eigentlich zu vernachlässigen. Das wären also wirklich Peanuts…. Es geht eher um Fragen der Gerechtigkeit, um die Entstehung von Reichtum, und um die Verteilung von materiellen aber auch immateriellen Gütern, und nicht so sehr um die Frage, wie jetzt ein Bestand und eine Aufteilung materieller Güter möglicherweise durch kriminelle Energie korrigiert wird.

Ist es Diebstahl, wenn ein Mädchen den Apfel aus Nachbars Garten klaut? Wenn sich ein Manager zweistellige Millionenbeträge als Abfindung zahlen lässt? Wenn jemand falsche Angaben macht, um Sozialleistungen zu bekommen? Wenn Menschen, die jahrzehntelang Beiträge eingezahlt haben, der Anspruch auf Arbeitslosenhilfe weggekürzt wird? Auch Wolfgang Kessler, Wirtschaftsredakteur der christlichen Zeitschrift Publik Forum, sieht durch das achte Gebot vor allem die Wirtschaft in die Pflicht genommen:

O-Ton 3: Stehlen im Sinne der Wirtschaft bedeutet, dass ich eine überlegene Machtposition dazu nutze, meinen Reichtum zu vermehren und den von anderen zu vermindern.

Natürlich lässt sich ein Gebot, das dreitausend Jahren alt ist, nicht ohne weiteres als Anleitung für die Wirtschaft von heute nehmen, die auf völlig anderen Mechanismen beruht. In der agrarischen Gesellschaft des alten Israel gab es noch keine starken Gerichte, keine gut organisierte Polizei, keine soziale Absicherung. Deshalb war jeglicher Besitz etwas äußerst Prekäres: Eine Missernte, eine Seuche unter dem Vieh, und schon war der ehedem Reiche wieder arm, lief sogar Gefahr, versklavt zu werden. Die Freiheit der Menschen war damals unmittelbar mit dem Schutz ihres Eigentums verknüpft. Die evangelische Theologin und Ethikerin Ina Praetorius möchte deshalb das achte Gebot auf seinen ursprünglichen Sinn zurückführen.

O-Ton 4: Also ich glaub, dass beim Diebstahlsgebot nicht so sehr um das Eigentum geht, das ist eher sekundär, sondern um das gute Zusammenleben der Menschen. im Zentrum … geht’s darum, dass meine Vorfahrinnen und Vorfahren mir Weisheit mitgeben wollen, wie ich mein Zusammenleben oder unser Zusammenleben gestalte. Und eine dieser Weisheiten heißt eben, dass es sinnvoll ist, das Eigentum anderer nicht zu verletzen. Wenn ich richtig verstehen will, was heute ein Gebot heißt, geht’s immer drumm zu fragen, was ist heute das gute Leben. Das heißt, dass ich das Eigentum nicht irgendwie zum Selbstzweck mache, sondern immer zum Zweck für das gute Leben.

Heute hat Eigentum längst nicht mehr nur etwas mit den konkreten Dingen zu tun, die jemand besitzt: ein Haus, Werkzeuge, Vieh. Vielmehr besteht es zum großen Teil aus virtuellen Zahlen, aus Bilanzen, aus Papieren. In der globalisierten Wirtschaft, so Wolfgang Kessler, sei der unbedingte Schutz des Eigentums deshalb sogar eher eine Gefahr für die Freiheit der Menschen, für das gute Zusammenleben geworden:

O-Ton 5: Was sich wirklich geändert hat, ist die Macht der Finanzmärkte. Da stehen wir im Augenblick in der Gefahr, dass sich eine indirekte Diktatur bildet. … Inzwischen werden an der Börse Renditen von 25 Prozent erwartet. Manche Unternehmen gefallen sich darin, 40 Prozent zu erzielen. (.) Das bedeutet aber, dass diese Renditen bezahlt werden müssen, und sie werden bezahlt von den ArbeitnehmerInnen. Es fließt nämlich dann mehr Geld zu den Kapitaleignern an den Börsen, zu den Aktionären, das dann im Betrieb nicht mehr zur Verfügung steht. Und so kommt es, dass wir immer häufiger erleben, dass … Unternehmen geschlossen werden, die schwarze Zahlen schreiben. Aber sie erzielen nicht die Renditen, die an der Börse erwartet werden. Und die Leute sind arbeitslos.

Aber nicht erst in Zeiten von Globalisierung und Finanzspekulationen stellt sich die Frage nach der Legitimation des Eigentums. In der christlichen Tradition hing die Auslegungsgeschichte des achten Gebots schon immer sehr eng mit der Frage zusammen, wem eigentlich was zu Recht gehört, betont Friedhelm Hengsbach:

O-Ton 6: In der Zeit der Kirchenväter ging man davon aus, dass die Reichen, also diejenigen, die über großes Eigentum verfügten, im Grunde das eigentlich zurückgeben müssten oder einen Teil jedenfalls zurückgeben müssten an die Armen. Dh Almosen geben war, so wurde es von einigen Kirchenvätern verstanden, nichts anderes als die Wiedergutmachung gegenüber denen, die nichts haben, weil, so hieß es, ihr, die reich seid, habt den Armen das geraubt, was ihnen zusteht, und euer Reichtum ist nichts anderes, als der Raub.

Auch in der Bibel selbst wird an vielen Stellen deutlich, dass sich das Diebstahlsverbot nicht an die Armen und Habenichtse richtet, sondern vor allem an die Besitzenden, an die Kapitaleigner und Arbeitgeber würde man heute sagen:

Sprecher: Ihr sollt nicht stehlen, nicht täuschen und einander nicht betrügen. Der Lohn des Tagelöhners soll nicht über Nacht bis zum Morgen bei dir bleiben. In deinem Weinberg sollst du die abgefallenen Beeren nicht einsammeln. Du sollst sie dem Armen und dem Fremden überlassen. (3. Mose 19)

»Du sollst nicht stehlen« ist ein Gebot für Landeigentümer, für Weinbergbesitzer etwa, die Tagelöhner beschäftigen. Auch im alten Israel ging es also bereits um Machtverhältnisse. Und das Eigentum zu schützen bedeutete damals wie heute, die Eigentümer auch in die Verantwortung zu nehmen, meint Wolfgang Kessler:

O-Ton 7: Es ist so, dass die Wirtschaft immer einen Machtkampf darstellt. Wenn dieser Machtkampf mit fairen Mitteln ausgetragen wird, Streik Aussperrung Tarifverhandlungen, Interessengleichheit zwischen Arbeit und Kapitel, dann kann man von stehlen eigentlich nicht reden. Aber im Augenblick ist die Situation eine ganz andere. … Es gibt durch die Globalisierung einen riesigen Machtvorsprung für die Kapitaleigner. Es gibt große Nachteile für die ArbeitnehmerInnen und in dem Augenblick ist es so, dass die Kapitaleigner, die Aktionäre und einige Unternehmer versuchen, Ihre Macht brutal durchzusetzen. Über eigene Fehler hinwegzusehen, falsche Modelle zu produzieren, etwa im Automobilbereich, und dann aber dafür nicht selbst zu bezahlen, sondern die Arbeitnehmer mit längeren Arbeitszeiten bezahlen zu lassen. Da würd ich sagen, da stiehlt jemand schon dem anderen was weg.

Ina Praetorius geht sogar noch einen Schritt weiter:

O-Ton 8: Es ist ja nicht nur so, dass die Kapitalbesitzer legitimiert werden, den Lohnabhängigen ihr Eigentum wegzunehmen, sondern diese ganze … Geldwirtschaft, die ruht ja auf einem Sockel von Leistungen, die überhaupt nicht bezahlt werden, zum Beispiel in Privathaushalten, aber auch im Ehrenamt, zum Teil auch in der bäuerlichen Landwirtschaft, die massiv unterbezahlt wird, und solche Tätigkeiten, die ja alle strukturverwandt sind, die werden systematisch unsichtbar gemacht. Schon in der Bibel ist an einigen Stellen klar, dass das Geld sich entwickelt von dem, wofür es ursprünglich gedacht war, nämlich vom Tauschmittel, zu einem Symbol, und zwar ist es ein Symbol für Potenz. Männliche Potenz. Wenn ich das sehe, dann bedeutet der Satz »Du sollst nicht stehlen« noch einiges mehr, er bedeutet nämlich, du sollst das Geld und das Eigentum nicht in die Mitte der Aufmerksamkeit rücken. Sondern du sollst überlegen, was für ein gedeihliches Zusammenleben der Menschen notwendig ist, und das bedeutet dann, dafür zu sorgen, dass diejenigen Menschen, die unverzichtbare Leistungen für die Gesellschaft erbringen, z.B. Kinder groß ziehen, nicht in wirtschaftliche Armut geraten dürfen.

Folgt man hingegen dem Wortlaut des deutschen Strafgesetzes, dann fällt ungerechtes Wirtschaften nicht unter den Tatbestand des Diebstahls. Denn dort heißt es ganz formal:

Sprecher: Wer eine fremde, bewegliche Sache in der Absicht, sie sich rechtswidrig zuzueignen, wegnimmt, wird wegen Diebstahl bestraft.

Das Strafrecht und mit ihm die landübliche Auffassung vom Stehlen interessiert sich weder für die Frage der Gerechtigkeit, noch für die Nöte des Diebes oder dafür, woher der Eigentümer sein Eigentum eigentlich hat. Das ist nach Auffassung von Norbert Walter von der Deutschen Bank auch durchaus richtig so:

O-Ton 9: Moral ist sicherlich nicht allein mit positiven Gesetzen beschrieben, das ist etwas darüber Hinausgehendes, was ethisch ist, ist nicht nur das, was im Gesetzbuch steht. Und apropos Gesetzbuch ist natürlich klar, wir haben auch ein Grundgesetz, in dem steht etwas von sozialer Verpflichtung des Eigentums, das drückt so etwas wie die Philosophie hinter diesen Dingen aus. Aber das ist ein moralischer Anspruch und diesen moralischen Anspruch, den gilt es vor allem vor dem ewigen Richter einzuhalten, und vielleicht auch, um sich Anerkennung Wertschätzung, Liebe anderer Gesellschaftsmitglieder zu verschaffen, und dieser Anerkennungsmarkt ist ja etwas, der dann auch die Reputation, den Ruf einer Institution oder Person ausmacht. Insofern ist es relevant, es ist aber nicht relevant vor dem diesseitigen Richter und vor den Gerichten.

Anders dagegen viele christliche Sozialethiker, die fordern, dass sich ethische Grundsätze auch in den Gesetzen und politischen Rahmenbedingungen niederschlagen sollen. Denn, so Friedhelm Hengsbach, es gehe hier nicht nur um Moral, sondern auch um Gerechtigkeit und um die Frage, woher das Eigentum, das jemand hat, überhaupt kommt:

O-Ton 10: Man ging früher davon aus, dass jeder Mensch durch seine eigene Leistung sich privates Eigentum erarbeitet. Im Zuge der gesellschaftlichen Verflechtung ist es ja immer mehr deutlich, dass Reichtum gemeinschaftlich, also kollektiv erarbeitet wird. Und dann ist die Frage, wie dieser neu geschaffene Reichtum durch Arbeit, durch kollektive Arbeit in den Unternehmen, in den Betrieben, wie der verteilt wird. Und da gibt es ganz erhebliche Auseinandersetzungen über das, was den jeweiligen Leuten zusteht und was sie verdienen. Die Frage nach dem gerechten Lohn ist eine Frage, die gleichsam vorweg, bevor es um stehlen oder um rauben oder um Umverteilung geht, eine große Rolle spielt.

Güter werden heute mehr denn je kollektiv erwirtschaftet. Die steigende Produktivität führt dazu, dass vor allem ungelernte Tätigkeiten kaum noch benötigt werden und die Löhne entsprechend sinken, während andererseits Manager oder Spitzensportler Einkommen erzielen, die ins Unermessliche steigen. Das hat weniger mit der individuellen Leistung zu tun, als vielmehr mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Eigentum, das aus ungerechten Strukturen hervorgegangen ist, sei aber nicht durch das Diebstahlsverbot gedeckt, meint Hengsbach.

O-Ton 11: Weil der gesellschaftliche Reichtum ja nicht weniger geworden ist. Das Volkseinkommen, die Wertschöpfung, die gesamtwirtschaftliche Wertschöpfung wächst ja, dh es ist auch mehr an Gütern da, was für alle eigentlich bereit steht. Nur die Verteilung ist problematisch, weil der Reichtum bei den einen wächst und auch die Einkommen bei den einen wachsen, auf der anderen Seite wächst auch die Armut und wächst also auch die Ausgrenzung und der Ausschluss.

In der Tat: An materiellem Wohlstand herrscht heute, zumindest in westlichen Gesellschaften, eigentlich kein Mangel mehr. Güter können mit einen minimalen Aufwand an Arbeit produziert werden, es gibt sie in Hülle und Fülle – nur beim Konsum hapert’s: Die einen haben zu wenig Geld zum Einkaufen, die anderen haben so viel, dass sie gar nicht wissen, wofür sie es ausgeben sollen. Wie sieht der Christ und Bankenvorstand Norbert Walter die auseinanderdriftende Schere zwischen Arm und Reich, etwa in Bezug auf überhöhte Managergehälter?

O-Ton 12: Das ist eine schwierige Frage, und selbst wenn man dazu eine Antwort hat im Sinne des Moralischen, wäre es die Frage, ob es eine kluge Antwort ist, dass die Gesellschaft das, was sie da für sittlich hält, dann auch justiziabel macht. Oder ob es klüger ist, durch eine Predigt am Sonntag, die man auch anhört, weil man in die Messe geht, einen inneren und einen äußeren Anspruch zu bekommen, von dem Reichtum, den man im Markt erwirbt, mit anderen, als eigene persönliche Entscheidung, etwas zu teilen, wie das in den USA durch Sponsoren ganz natürlich ist, während es bei uns in Deutschland fast nicht mehr geht. Denn wenn man sich einmal outet als jemand, der eine Spende macht, ist man auch gleich als Reicher diffamiert und wird man fast immer als jemand, der zu Unrecht zu diesem Einkommen oder Vermögen gekommen ist, angesehen. Es ist also eine schwierige Frage, ich neige, … nicht dazu, dass eine Gesellschaft justiziabel machen soll, was man maximal verdienen darf. Es wäre mir nicht nur sympathischer, mir erschiene es auch produktiver für eine Gesellschaft, dass man einen Wertekanon entwickelt, in dem es selbstverständlich ist, dass jemand, der durch eigene Leistung und Glück zu besonders viel Einkommen und Vermögen kam, es für ethisch hält, davon zu teilen.

Für diejenigen, die nicht viel Glück im Leben hatten, vielleicht auch weniger leistungsfähig sind, ist es jedoch kaum eine verlockende Aussicht, ihr Schicksal in die Hände derer zu legen, die möglicherweise freiwillig etwas von ihrem Wohlstand abtreten oder eben auch nicht. Ina Praetorius schlägt daher eine weiter gehende Lösung vor: Sie fordert einen Abschied von dem Mythos, dass nur diejenigen Geld bekommen dürfen, die etwas leisten.

O-Ton 13: Also diese Frage, wer wofür überhaupt etwas verdient und wem was zusteht, die war nie einfach, die war immer kompliziert, und heute wird sie wie so vieles andere, noch komplizierter. Ich glaub, dass es dafür früher oder später nur einen sinnvollen Umgang gibt mit all diesen Rechenaufgaben, mit denen sich die Politik ja ununterbrochen heute beschäftigt, und zwar glaube ich, dass es ein Umdenken braucht in Richtung auf ein leistungsunabhängiges Grundeinkommen für alle. Das heißt, dass wir dieses Prinzip, nur wer etwas leistet bekommt Geld, sozusagen außer Kraft setzen. …Wir haben ja auch jetzt schon in Sozialstaaten die Situation, dass niemand verhungert, dh, es gibt die Sozialhilfe, nur ist die symbolisch falsch bewertet, dh sie wird immer als ne Notlösung oder als ne Zwischenstation angesehen, bevor ich dann wieder mein Leben durch eigene Arbeit verdienen kann. Dieser Grundsatz stimmt ja aber schon in unseren Gesellschaften nicht, und deshalb mein ich, dass die Gesellschaft an diesem Punkt sehr viel lernen könnte zum Beispiel oder vor allem von den Hausfrauen, weil die Hausfrauen ja schon immer Leistungen erbringen, ohne dafür Geld zu erwarten geschweige denn zu bekommen. Und ich meine, das könnte man wirklich mal ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, dass ein großer Teil unserer Gesellschaft dieses Prinzip ja eigentlich schon verwirklicht und von daher diese Angst, die Leute leisten nix mehr, wenn sie kein Geld bekommen, unbegründet ist.

Vor allem feministische Denkerinnen haben in den letzten Jahren begonnen, nicht nur ungerechte Machtstrukturen und die größer werdende Schere zwischen Arm und Reich zu kritisieren, sondern auch die traditionelle »linke« Antwort darauf zu hinterfragen, die Besitz und Reichtum als etwas grundsätzlich Verdächtiges ansieht. Wurde noch in den fünfziger Jahren das achte Gebot Kindern vorgehalten, die in der Speisekammer Schokolade genascht hatten, so versuchten Pädagogen in nach-68-er Zeiten, das Diebstahlverbot zu relativieren. Eine Praxis, mit der die Freiburger Pädagogin und Philosophin Dorothee Markert schlechte Erfahrungen gemacht hat:

O-Ton 14: In den siebziger Jahren, so in Folge der Studentenbewegung usw, antiautoritäten Bewegung, wurde ja dann sehr argumentiert, dass Diebstähle nicht so schlimm sind, dass ja Sachen nicht so wichtig sein dürfen wie Menschen und Beziehungen, und …da fehlt mir was, weil ich auch die Erfahrung gemacht hab, dass wenn mir was gestohlen worden ist, dass das ne ganz tiefe Erschütterung bringt, also sowohl was die Beziehungen angeht, als auch des grundsätzlichen Vertrauens eigentlich. Und dass es auch einfach sehr, sehr schmerzhaft ist, weil eben Dinge nicht belanglose Dinge für einen sind normalerweise, sondern weil man auch eine Bindung an diese Dinge hat.

In ihrer Zeit als Lehrerin in Haupt- und Sonderschulen hat sie beobachtet, dass Kinder sehr darunter leiden, wenn Dinge, die ihnen gehören, von anderen geklaut oder kaputt gemacht werden – häufig ohne, dass ein Lehrer einschreitet. Schon aus Selbstschutz vermeiden sie es dann, bestimmte Sachen lieb zu gewinnen und an ihnen zu hängen – was wiederum dazu führt, dass sie auch das Eigentum der anderen nicht achten. Auch die christliche Tradition hatte ihren Anteil an einer solchen Kultur, wenn sie den Verzicht auf weltlichen Besitz idealisierte und geistigen, spirituellen Reichtum höher schätzte, als die konkreten, materiellen Dinge des Alltagslebens:

O-Ton 15: Ich denk, das hat schon auch mit dieser sehr stark durch Männer geprägten Auslegung dieser ganzen Geschichten zu tun, die ja gerne einfach diese ganzen materiellen Notwendigkeiten, die überhaupt Voraussetzung sind für Denken und weiteres, gerne ignorieren, weil sie selber nichts damit zu tun haben, sondern das von Frauen gemacht kriegen. Und weshalb ja auch in unserer Kultur genau diese Tätigkeiten, diese Hausarbeitstätigkeiten, die die Pflege von Dingen angehen und das Reparieren und das eben die Dinge zu erhalten, die mit der Bindung an Dinge zu tun haben, also die Bindung entsteht ja auch durch die Pflege von Dingen, dass man sie halt nicht wegschmeißt, dass man sie repariert, dann hat man eine größere Bindung, und das ist eine Erfahrung, die Männer ganz wenig gemacht haben, weil diese Dinge, mit denen hatten sie nichts zu tun.

So entstand eine Tradition, in der die Sorge um Geistiges, um Freundschaft und Spiritualität hoch geschätzt, die Sorge um Dinge, um materiellen Besitz hingegen für unwichtig gehalten oder gar als kleinkrämerisch diffamiert wurde. Eine Tradition, die sich übrigens auch in der Auslegungsgeschichte des achten Gebots selbst niedergeschlagen hat. So sind viele jüdische wie christliche Ausleger der Meinung, das Diebstahlsverbot richte sich eigentlich gar nicht so sehr gegen den Diebstahl von Dingen, sondern vielmehr gegen den Diebstahl von Menschen: Du sollst keine Menschen stehlen, du sollst andere nicht versklaven, sei damit eigentlich gemeint. Zur Begründung führen sie an, dass doch auch alle anderen Gebote sich mit den zwischenmenschlichen Beziehungen beschäftigten. Ein Argument, das Dorothee Markert für wenig stichhaltig hält.

O-Ton 16: Weil die Bindung an Dinge meiner Meinung nach nicht zu trennen ist von der Bindung an Beziehungen. Die entsteht eigentlich gleichzeitig: Mit der Bindung an die Mutter lernt das Kind ja auch bestimmte Dinge lieben und wertschätzen und von daher ist das überhaupt gar nicht grundsätzlich zu trennen und darf deswegen meiner Meinung nach auch überhaupt nicht gegeneinander ausgespielt werden.

Das Verhältnis der Menschen zu ihrem Besitz hängt untrennbar zusammen mit ihrem Verhältnis zueinander. Das Gebot: »Stiehl nicht!« hat daher durchaus seinen Platz in einem Dekalog, der Ratschläge für die Art und Weise gibt, wie Menschen ihre Beziehungen zueinander gestalten sollen. In einer hoch technisierten und immer globaler agierenden Gesellschaft wird jedoch das Eigentum zunehmend von den konkreten Beziehungen der Menschen untereinander getrennt. Die Manager in einem Großkonzern kennen die Leute nicht, die aufgrund ihrer Entscheidungen arbeitslos werden. Die Finanzspekulanten, die an den internationalen Börsen agieren, haben keine persönliche Beziehung zu den Menschen in den Ländern, deren Volkswirtschaften durch ihre Kapitalverschiebungen ins Schleudern geraten. Und die Jugendlichen, die sich im Kaufhaus die Klamotten der neuesten Mode holen, ohne zu bezahlen, wissen gar nicht, wen sie hier beklauen. Stiehl nicht – dieses Verbot ist nur schwer einzuhalten, wenn man die Beziehungen hinter den Dingen nicht mehr sehen kann. Ein Grund dafür, warum Diebstahl mehr und mehr zum Kavaliersdelikt wird, meint Friedhelm Hengsbach:

O-Ton 17: Wenn also zum Beispiel bestimmte Auslagen schon auf der Straße, auf dem Bürgersteig Anreize geben, zuzugreifen ohne jetzt in den Laden und zur Kasse gehen, dann denke ich, kann man nicht nur den einzelnen Menschen vorwerfen, dass sie also die Regeln verletzten, sondern man muss auch fragen, welcher massive Druck existiert von Seiten der Anbieter, oder wie leicht machen sie es den Menschen, die mal eben vorbeigehen, zuzugreifen und weiter zu laufen. Also ich denke, das ist ein wechselseitiges Verhältnis. Eine Gesellschaft, die das Ökonomische, die den Konsum dermaßen in den Vordergrund rückt, darf sich am Ende auch nicht wundern, dass Kinder, Jugendliche und auch erwachsene Menschen jede Gelegenheit wahrnehmen, gleichsam unter Preis einzukaufen oder ohne zu bezahlen, sich bereichern.

Doch nicht nur das Wissen um die enge Verknüpfung zwischen Eigentum und menschlichen Beziehungen ist verloren gegangen. Das achte Gebot gründet auch auf einem tiefen Wissen, dass kein Mensch unabhängig und autonom ist, dass niemand sich sein Eigentum ganz allein erarbeitet hat, wie leistungsstark er auch immer sein mag. In der Bibel heißt es:

Sprecher: Wenn dich nun dein Gott in das Land bringen wird mit großen und schönen Städten, die du nicht gebaut hast, und Häusern voller Güter, die du nicht gefüllt hast, und ausgehauenen Brunnen, die du nicht ausgehauen hast, und Weinbergen und Ölbäumen, die du nicht gepflanzt hast – und wenn du nun isst und satt wirst, so hüte dich, dass du nicht Gott vergisst, der dich aus Ägypten, aus der Knechtschaft geführt hat, sondern du sollst deinem Gott dienen. (Dtn. 6, 10 ff)

Die Freiheit, in Wohlstand und Sicherheit leben zu können, von Sklaverei und Fronarbeit frei zu sein, ist von Gott geschenkt, und das achte Gebot richtet sich an Menschen, die das wissen und die diese Werte und diesen Wohlstand erhalten möchten. Das ist, meint Ina Praetorius, auch heute noch die Voraussetzung dafür, seinen Sinn wirklich zu verstehen.

O-Ton 18:Also für mich gibt es ein Zentrum, das das gute Verstehen dieser Gebote überhaupt erst möglich macht. Und das ist dieses Wissen, dass ich grundsätzlich, und zwar alle, nicht nur die Schwachen, in Bezogenheit lebe, dh, dass ich mich nicht selbst gemacht habe, … ich bin geboren, dh ich bin in Form einer Beziehung in die Welt rein gekommen, und das bleibt so. … Die moderne Ethik geht eigentlich von einem Menschenbild aus, da sind die Menschen immer schon erwachsen und damit autonom. Dh Kindheit und Abhängigkeit wird gar nicht oder falsch, sozusagen als Schwäche, thematisiert. Ich glaub, dass ne sinnvolle Ethik nur von diesem Grundverständnis her möglich ist, dass ich mich nicht selbst gemacht hab, dh dass ich aus einem Zusammenhang kommen und dieser Zusammenhang gibt mir die Gebote sozusagen mit. Und dann kann ich die auch richtig verstehen.

Stiehl nicht – dieses Verbot ist zu kurz, um ein Gesetz, ein politisches Programm daraus zu machen. Eher zielt es auf eine innere Haltung, den Willen, sich im Bezug auf wirtschaftliche Fragen ethisch gut zu verhalten. Anders als im Strafgesetzbuch ist deshalb in der Bibel auch der Diebstahl, also das heimliche sich Aneignen von Dingen, sehr schlimmer bewertet als der Raub, also das gewaltsame sich Aneignen von Dingen. Das Gebot nimmt nicht die Perspektive der Opfer ein, für die es ja schlimmer ist, nicht nur bestohlen, sondern auch noch körperlich angegriffen zu werden, sondern die Perspektive der Täter: Wer stiehlt, hat sich nicht nur die Sachen fremder Leute angeeignet, er hat zugleich auch noch gelogen, indem er seine Tat verschleiert, verheimlicht, oder eben auch rechtfertigt. Menschen, die das Gebot »Du sollst nicht stehlen« auch im heutigen, globalisierten Wirtschaftsleben noch ernst nehmen, gibt es überall: bei den Reichen wie bei den Armen, bei den Unternehmern und in der Arbeiterschaft. Und überall findet man auch solche, die das Gebot missachten, indem sie nehmen, was sie kriegen können. Wolfgang Kessler:

O-Ton 19: Also der entscheidende Unterschied liegt darin, dass es eben Leute gibt, für die es extrem wichtig ist, zu sich stehen zu können. Das muss nicht bedeuten, dass die zu einer anderen Macht stehen, also zb zu einer Macht, die man jetzt Gott nennen könnte. Oder zu einer Macht, die man anders nennen würde, aber die wollen zu sich selbst als Persönlichkeit stehen können, und sich auch in ihrer Position nicht verbiegen und vertreten dieses selbstbewusst nach außen. Und es gibt Leute, die sehen ihre Karrierepflicht darin, einfach zu dienen. Und diese Leute gehen in den Sachzwängen auf und rechtfertigen letztlich ihr eigenes Tun mit den Sachzwängen. Und das hört sich dann so an, hier stehe ich und kann nicht anders. Die Realität zeigt aber, dass man immer anders kann.

Lo Tignob, Du sollst nicht stehlen. Zwei kleine Wörter, ein kurzes Gebot. Am nächsten kommt seinem Sinn vielleicht das Wort, das sich aus dem hebräischen Wortstamm für stehlen, ganab, in der deutschen Sprache erhalten hat: Ganove. Sei kein Ganove, kein Schlitzohr. Kein cleverer Finanzstratege, der noch die letzte Gesetzeslücke ausnutzt. Rede dich nicht damit heraus, dass doch die Versicherung den Schaden bezahlt und auch nicht damit, dass du grade noch im Rahmen der Legalität bist. Es geht nicht darum, ob du erwischt wirst, und auch nicht darum, was die Konkurrenz macht. Stiehl einfach nicht. Sei fair im Umgang mit den Dingen, die anderen gehören. Verwende dein Eigentum verantwortungsbewusst. Ohne Spitzfindigkeiten, ohne Heimlichtuerei, ohne Ausreden.

Sendung in hr2 am 10. Juli 2005