Antje Schrupp im Netz

Das Kümmer-Gen

Woher nehmen Menschen die Motivation, für andere zu sorgen? Liegt sie auf den Genen? Warum die Volkswirtschaft aufhören muss, sich auf unbezahlte Sorge-Arbeit zu verlassen

in: Publik Forum, 23.1.2012

Dies ist die unbearbeitete Manuskript-Version. In der Zeitschrift ist der Artikel um zwei aktualisierte Beiträge ergänzt worden.

„Care“ (Englisch: sich um jemanden beziehungsweise für jemanden sorgen) ist das Stichwort, unter dem Arbeiten zusammengefasst werden, die Menschen für andere erbringen, weil diese dazu selbst nicht in der Lage sind: die Versorgung und die Erziehung von Kindern, die Pflege von Alten und Kranken, die Assistenz bei Behinderungen, aber auch alles das, was unter „haushaltsnahe Dienstleistungen“ firmiert – Putzen, Einkaufen, Kochen, oder ganz allgemein die umfassende Sicherstellung des täglichen Lebensvollzugs.

Das Thema ist brisant, denn es liegt zahlreichen aktuellen Debatten zugrunde – vom schleppenden Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung bis zur Angst vor einem drohenden „Pflegenotstand“. Allein, es fehlt das Instrumentarium, um die Dimensionen des Problems zu umschreiben.

Woher genau nehmen Menschen die Motivation, für andere zu sorgen? Liegt es ihnen in den Genen? Kann (und soll) der Markt das regeln? Leitet sich die Pflicht, für andere zu sorgen, aus der Gottesebenbildlichkeit aller Menschen ab? Oder genügt die reine Vernunft, um zu erkennen, dass jeder Mensch ein Zweck an sich ist, also beschützt und umsorgt werden muss?

Im Kern geht es bei Care um einen zentralen Aspekt der Ökonomie, nämlich um die Herstellung und Verteilung des Lebensnotwendigen, um Bedürfnisbefriedigung und Arbeitsteilung. Doch die Wirtschaftswissenschaften sind bei diesem Thema keine große Hilfe. Sie haben die größtenteils unbezahlt und informell geleisteten Care-Arbeiten bislang schlicht ausgeblendet: Wofür kein Geld fließt, hat die Volkswirte nicht weiter interessiert.

Auch die Politik erklärte sich lange für unzuständig: „Kinder kriegen die Leute sowieso“, war zum Beispiel Bundeskanzler Adenauer noch Ende der 1950er Jahre überzeugt. Die Sorge für die menschlichen Bedürftigkeiten, davon ging man lange aus, muss nicht öffentlich verhandelt und geregelt werden, sondern sie gehört in die Familie, ins Private, wo sie sich gewissermaßen „von selbst“ regelt (was bedeutete: Die Frauen sind dafür zuständig). Und für Ausnahmefälle gab es Spezialeinrichtungen, Hospitäler, Heime, in kirchlicher oder später auch staatlicher Trägerschaft.

Die Sphären waren also klar getrennt: Hier der sichtbare und öffentliche Bereich, wo „normale“, das heißt erwachsene, gesunde, eigenverantwortliche (und früher ausschließlich männliche) Individuen für ihr Zusammenleben Regeln und Gesetze aufstellen, forschen, miteinander konkurrieren und wirtschaften, dort der unsichtbare, nicht-öffentliche Bereich der Familie und der Spezialeinrichtungen, wo all jene versorgt werden, die nicht „autonom“ und selbständig genug sind, um mithalten zu können.

Doch dieser „Geschlechtervertrag“, wie die Politologin Carol Pateman das für die westlichen Gesellschaften grundlegende Arrangement genannt hat, ist heute aufgekündigt. Es funktioniert nicht mehr. Nicht nur, weil Frauen sich den Zugang zu den ehemals exklusiv männlichen Bereichen erobert haben und die anfallenden Care-Arbeiten nicht mehr einfach stillschweigend erledigen. Auch der demografische Wandel erzwingt ein Umdenken: Je höher der Anteil alter Menschen an der Bevölkerung ist, desto größer ist auch die Zahl derjenigen, die auf Unterstützung sichtbar angewiesen sind. Und sind Menschen etwa nicht mehr frei und „normal“, nur weil sie vielleicht beim Waschen Hilfe benötigen?

Hinzu kommt, dass die Vorstellung von „ökonomischer Eigenverantwortung“ für viele längst ein Hohn ist: „Von der eigenen Hände Arbeit“ kann heute niemand mehr leben, denn zumindest vom Arbeitsmarkt sind alle abhängig. Und nicht für alle steht eben ein auskömmlicher Vollzeit-Arbeitsplatz zur Verfügung. Die Zahl der prekär Beschäftigten oder Arbeitslosen steigt – auch sie können der Norm des „autonomen Selbstversorgers“ nicht genügen.

Die Lösung für das Care-Dilemma kann daher nicht einfach in einer Modifikation des Bestehenden liegen. Ins Wanken gerät vielmehr das Paradigma moderner westlicher Gesellschaften selbst, wonach Menschen „normalerweise“ für sich selbst sorgen können. Bedürftigkeit ist kein Ausnahmezustand, sondern der menschliche Normalzustand. Niemand kann sich selbst versorgen; was sich im Verlauf des Lebens verändert, ist lediglich der Grad und die Art und Weise der Abhängigkeit. „We all live subsidized lives“ hat die Soziologin Martha Fineman das auf den Punkt gebracht: Wir alle leben von Stütze.

Doch auf welchen Grundlagen könnte ein solches neues Menschen- und Gesellschaftsbild entwickelt werden, in dem „Care“ nicht ein Randthema ist, sondern zentraler Bestandteil? Die Soziologin Ute Gerhard schlug kürzlich bei einer Tagung vor, die bisherigen Menschenrechte um das Recht, versorgt zu werden und für andere zu sorgen, zu ergänzen. Entsprechende Vorschläge sind im Dezember 2011 bei der Jahreskonferenz der Europäischen Sozialplattform bereits diskutiert worden.

Dabei standen auch die globalen Dimensionen im Fokus. Denn die Versorgungslücken der wohlhabenderen Gesellschaften in punkto „Care“ werden derzeit vorwiegend mit Hilfe von Arbeitsmigrantinnen gestopft. Sie übernehmen – oft unter prekären, teils sogar illegalen Umständen – diejenigen Arbeiten, die liegenbleiben, wenn die Einheimischen vor lauter Erwerbsarbeit nicht mehr dazu kommen: Putzen, Alte pflegen, Kinder hüten. Auf diese Weise sind bereits regelrechte internationale Migrationsketten entstanden. Denn die Serbin, die in Deutschland alte Menschen versorgt, hinterlässt häufig zuhause selbst Kinder oder Schwiegereltern, um die sich wiederum Frauen kümmern, die aus noch ärmeren Ländern stammen, und so weiter. So ist die absurde Situation entstanden, dass es zwar nach wie vor Frauen sind, die den Löwenanteil der Care-Arbeit leisten – nur jetzt eben nicht mehr für die eigene Familie, sondern für Fremde.

Der Versuch, Care-Arbeit auf internationaler politischer Ebene in den Blick zu nehmen, ist auch eine Reaktion darauf, dass der Markt für diese Regulierung denkbar schlecht geeignet ist. Fürsorgearbeiten widersetzen sich den klassischen Parametern der Betriebswirtschaft. Sie lassen sich nicht im Minutentakt messen, und „Rentabilität“ ist kein sinnvolles Ziel in diesem Bereich. Betriebswirtschaftlich gesehen sind Care-Arbeiten ausgesprochen teuer, weil personal- und zeitintensiv. Das Versorgen von Kindern lässt sich vielleicht noch als „Investition in die Zukunft“ verbuchen, doch spätestens bei der Altenpflege kommt die Analogie an ihre Grenzen. Volkswirtschaftlich „rechnet“ sich das nicht, und betriebswirtschaftlich nur, wenn man es mit sehr wohlhabenden Alten zu tun hat.

Doch es ist fraglich, ob Gesetze hier substanziell etwas ändern können – auch wenn jede Verbesserung auf diesem Gebiet natürlich zu begrüßen ist. Aber auch Gesetze und erst recht die Idee der Menschenrechte haben in ihrem Zentrum unweigerlich das Individuum stehen, dem Rechte und Pflichten zugesprochen werden.

Beim Thema Fürsorge geht es aber gerade nicht um Individuen, sondern um Beziehungen, und zwar auch noch um Beziehungen der Ungleichheit. Es geht um Abhängigkeit und Verantwortung, um Sympathien und Wünsche. „Satt und sauber“ reicht nicht als Maßstab für gelungene Fürsorge, denn es ist nicht egal, von wem ich gefüttert werde, wer mir auf die Toilette hilft oder mir die Haare wäscht. Care braucht Vertrauen, Zuneigung, Zeit und Respekt – alles Dinge, die weder vom Markt geregelt noch per Gesetz verordnet werden können.

Die Frage ist naheliegend, ob vielleicht Religionen ein anderes Paradigma zur Verfügung haben. Denn hier steht ja nicht allein das Individuum im Fokus, sondern die Gemeinde. Die muslimische Theologin Amina Wadud zum Beispiel hat in ihrem Beitrag zum Tagungspodium darauf hingewiesen, dass der Islam auf einem „Set“ von Beziehungen aufbaue: der Beziehungen der Individuen zu Gott, der Beziehungen von Menschen untereinander, der Beziehung von sozialen Gruppen zu Gott und schließlich der Beziehung zum Rest der Schöpfung. Und „Care“ ist für alle diese Beziehungsformen eine zentrale Qualität.

Welch große Bedeutung „Care“ auch im frühen Christentum hatte, haben kürzlich Rita Nakashima Brock und Rebecca Ann Parker in ihrem Buch „Saving Paradise“ untersucht: Sie glauben, dass die Sorge für Bedürftige ursprünglich nicht nur im Sinne von „Wohltätigkeit“ verstanden wurde, sondern ihr geradezu eine spirituelle Bedeutung zukam: Die Bedürftigen, so Brock und Parker, seien in den ersten christlichen Jahrhunderten nicht als passiv wahrgenommen worden, sondern hätten eine aktive Rolle gespielt – indem sie um Hilfe baten und sich versorgen ließen, gaben sie den anderen die Möglichkeit, „ethische Anmut“ unter Beweis zu stellen und so das „Reich Gottes auf Erden“ real werden zu lassen.

Die Stärke religiöser Motivationen für „Care“ liegt vor allem darin, dass sie nicht nur theoretische Konzepte und Begründungen liefern, sondern auch die praktische Einübung fürsorglicher Praxis ermöglichen. Doch es lauern dabei natürlich auch Fallstricke. Alle Religionen sind von starken patriarchalen Traditionen überformt. Die konkrete Fürsorgearbeit weisen sie im Allgemeinen ebenso wie der säkulare Modernismus den Frauen zu, und in ihren weltlichen Organisationsformen haben sie Hierarchien herausgebildet, in denen nicht der Geist gegenseitiger Fürsorge, sondern die Logik der Macht vorherrscht. Als Korrektiv gegen einen ausufernden Individualismus sind religiöse Traditionen deshalb nur bedingt geeignet.

Die Lösung für das Care-Dilemma wird nicht einfach sein, und es ist heute noch nicht auszumachen, wie sie aussehen wird. Sagen lässt sich aber schon etwas über das Vorgehen auf dem Weg dahin. Der wichtigste Punkt ist, in den notwendigen Debatten auf diejenigen zu hören, die Erfahrungen auf diesem Gebiet haben: Krankenschwestern, Erzieherinnen, Hausfrauen, pflegende Angehörige, Mütter und aktive Väter, aber vor allem auch diejenigen, die wissen, wie es ist, Hilfe anzunehmen: kranke, alte, bedürftige Menschen. Sie kennen sich mit den praktischen Erfordernissen von „Care“ aus, und ohne ihre Expertise werden alle Zukunftskonzepte ins Leere laufen.

Bei diesen Debatten wiederum ist es wichtig, das zu beherzigen, was Amina Wadud vor allem den Frauen als Aufgabe gestellt hat: Da sie heute sowohl auf dem Gebiet der Religionen als auch auf dem Gebiet der säkularen Menschenrechte mit Traditionen zurechtkommen müssen, die fast ausschließlich auf der Grundlage männlicher Erfahrungen entwickelt worden sind, sollten sie den Anspruch erheben, sowohl die Bedeutung der Menschenrechte als auch die Bedeutung der ihrer jeweiligen Religion selbst neu zu bestimmen – und zwar, indem sie von ihren eigenen Erfahrungen ausgehen.