Antje Schrupp im Netz

Was ist Fundamentalismus?

Vortrag am 25.5.2017 beim Kirchentag in Berlin

Vielen Dank für die Einladung. Du hattest mich ja als Politikwissenschaftlerin eingeführt. Das hat auch seinen guten Grund, denn wenn wir über Fundamentalismus reden, erweckt das den Anschein der Objektivität. Also ich spreche auf einer Metaebene, denn bei dem Thema habe ich das gewisses Unbehagen, weil der Begriff „Fundamentalismus“ als Perspektive inhärent schon eine christliche Debatte widerspiegelt.

Vielleicht wissen das einige von Ihnen, dass das Wort abgeleitet ist aus einer christlich-konservativen Zeitschrift, die am Anfang des 20. Jahrhunderts, also vor etwa 100 Jahren, in den USA herausgegeben wurde. Es war eine Schulungszeitung für Priester oder Pastoren, also für nichtkatholische Denominationen und Missionare, und ihr Titel lautete eben: „The Fundamentals“, die Grundlagen. Es war der Versuch, zu definieren, welche philosophischen und politischen Haltungen aus dem christlichen Glauben hervorgehen und nicht hinterfragt werden können. Also eine Art Fundamentlegung.

Der Begriff des Fundamentalismus kommt also aus dieser innerchristlichen Debatte. Er wird heute aber nicht mehr nur für christliche Positionen verwendet, sondern auch für islamische Positionen, auch für jüdische, auch für hinduistische, auch für politische. Auch bei den Grünen hatten wir schon eine Diskussion „Fundis versus Realos“. Fundamentalismus hat sich also etabliert als ein Begriff, mit dem bestimmte engstirnige Arten des Denkens verbunden werden.

Ich frage mich allerdings, ob die Art, wie wir über Fundamentalismus diskutieren, nicht schon vorgeprägt ist durch die christliche Herkunft des Begriffs. Ist es denn wirklich so, dass zum Beispiel ultraorthodoxes Judentum oder politisierender Islamismus oder ein Rechtsruck in Teilen der katholischen Kirche und eben auch evangelikaler Fundamentalismus, der in den USA bis heute eine sehr wichtige Rolle spielt, ein und dasselbe Phänomen sind? Oder sind sie vielleicht unterschiedliche Phänomene, die auch unterschiedlich betrachtet werden müssten?

Ich spreche aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive. Aber ich spreche mit christlichem Hintergrund. Ich bin selbst Christin und kann nicht genau sagen, inwiefern das, was ich sage, für andere Erscheinungsformen des Fundamentalismus in Religionen überhaupt zutrifft. Für diese Frage haben wir nachher in der Diskussion noch Gelegenheit.

Die wesentliche Gemeinsamkeit all der genannten Phänomene, die wir unter dem Begriff „Fundamentalismus“ zusammenfassen, ist am ehesten der Versuch, zurückzugehen zu den Wurzeln und zu einem Set an Glaubenssätzen, die nicht diskutierbar sein sollen. Dieses „Zurück zu den Wurzeln“ kann sowohl progressiv befreiend sein, als auch konservativ einengend. So gibt es religiöse Bewegungen, bei denen „Zurück zu den Wurzeln“ den Sinn hat, eine verkrustete Orthodoxie wieder aufzumischen. Zum Beispiel war das im christlichen Pietismus so, der sich ursprünglich mit einem Appell: „Wir gehen zurück zur Schrift, zurück zu dem ursprünglich Gemeinten!“ gegen eine herrschaftsförmige Verknöcherung der Religionen gewehrt hat. Es ist, möchte ich sagen, also nicht alles am Fundamentalismus schlecht. Ich beobachte, dass zum Beispiel in Bewegungen wie dem Salafismus oder in der Amedia im islamischen Kontext auch ähnliche Ambivalenzen in Bezug auf Fundamentalismus vorhanden sind und erst recht natürlich auch im Bereich der Politik. Für die Radikaleren von uns waren ja die „Fundis“ bei den Grünen immer die Sympathischeren im Vergleich zu den „Realos“.

Fundamentalismus beinhaltet ein positives Versprechen, nämlich sich zu befreien von falschen Bürokratien und Orthodoxien, die sich ausgebreitet haben. Diesen positiven Impuls, das wäre schon eine erste These, sollten wir nicht bei der Kritik mit ausschütten. Es ist etwas Gutes am Fundamentalismus, nämlich dieser Impuls.

Ein zweiter Punkt, der mir in der öffentlichen Debatte aufgefallen ist, ist dass Fundamentalismus oft mit strenger Gläubigkeit oder Frömmigkeit in Eins gesetzt wird. Wenn zum Beispiel über Terroristen, die mit religiösen Begründungen Menschen umbringen, gesagt wird, sie seien „strenggläubig“. Ich selbst würde ja sagen, sie sind ungläubig. Aber die öffentliche Debatte setzt das oft gleich und hat angefangen, besonders starke Frömmigkeit mit Fanatismus fast schon gleichzusetzen. Das das würde ich als eine, die sich selbst als fromm bezeichnet, hinterfragen. Das Problem ist nicht, dass Menschen fundamental, existenziell gläubig sind. Das ist kein Problem. Sondern das Problem liegt woanders. Das Problem liegt da, da, wo Menschen, aus diesem Fundament aus diesen tiefen, existenziellen Glaubensüberzeugungen das Recht ableiten, diese mit Gewalt gegenüber anderen durchzusetzen. Wobei Gewalt natürlich einmal faktische, physische Gewalt sein kann, wie wir sie im religiös begründeten Terrorismus sehen. „Gewalt“ kann aber auch bedeuten, dass man Gesetze macht und auf diese Wesie andere dazu zwingt, sich dem zu unterwerfen, was man selbst aus einer Glaubensüberzeugung ableitet.

Das ist der Weg, den Evangelikale in Amerika gehen, nicht nur in Nordamerika, sondern auch in Mittel- und Südamerika. Sie verfolgen die Idee, sie könnten das, was sie als existenzielle Glaubenserfahrung und als Wille Gottes verstanden haben, mit Hilfe von Machtmitteln in der Welt implementieren. Dies finde ich als Politikwissenschaftlerin sehr problematisch. In der Politik befinden wir uns nämlich im Bereich der Verhandlungen, des Pluralismus, des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Ansichten, Kulturen, Meinungen, Überzeugungen, die grundsätzlich verhandelbar sind.

Fundamentalismus hingegen sagt: „Ich habe Einsichten, die sind nicht verhandelbar.“ Das ist nicht prinzipiell falsch, ich selbst habe auch Einsichten, die sind nicht verhandelbar. „Du sollst nicht töten“ zum Beispiel. Ich finde es nicht überzeugend, wenn aus soziologischer Perspektive manchmal gesagt wird: Ja, die Fundamentalisten, die suchen einfache Antworten auf komplizierte Themen. Das ist zwar einerseits richtig, aber ich habe eben auch manchmal sehr einfache Antworten auf komplexe Fragen, und eine so eine einfache Antwort wäre „Du sollst nicht töten“. Eine andere einfache Antwort wäre: Frauen sind frei. Das ist für mich ebenfalls nicht verhandelbar.

Die Frage ist also nicht, ob es legitim ist, solche existenziellen, fundamentalen Weisheiten, Wissen, Überzeugungen zu haben, sonder wie wir sie in einen öffentlichen, pluralistischen Diskurs einbringen. Dazu kann ich nur sagen: Sobald ich das versuche und dabei Macht oder Gewalt anwende, dann habe ich Gott gelästert. Weil ich mich letzten Endes an Gottes Stelle gesetzt habe. Weil ich beanspruche, zu wissen, was Gott für die Welt will und mir das Recht herausnehme, das auch gegenüber anderen mit Gewalt, mit Macht, durchzusetzen. Das ist genau das, was Fundamentalisten machen und das, was an ihnen problematisch ist: Sie gehen nicht den Weg der Vermittlung, sie gehen den Weg der Macht oder der Gewalt.

Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat einmal gesagt: „Die größte Sünde der Männer ist es gewesen, dass sie sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt haben, und die größte Sünde der Frauen ist es gewesen, dass sie das zugelassen haben“.

Mir ist aufgefallen, dass in politischen Debatten häufig Glaubenswahrheiten oder Überzeugungen so behandelt werden, als wären sie naturwissenschaftliche Tatsachen und damit beweisbar. Das sind sie aber nicht! Wir müssen je nachdem, ob es sich um eine naturwissenschaftliche Tatsache oder um eine politische oder religiöse Überzeugung handelt, unterschiedlich argumentieren. Wenn ich zum Beispiel ein Glas Wasser habe, dann ist es keine Ansichtssache, ob da Wasser drin ist oder Kakao. Darüber brauchen wir nicht zu diskutieren, sondern das kann man analysieren und beweisen, und nur eine Meinung dazu ist wahr.

Aber Glaubensüberzeugungen, zum Beispiel eine Aussage wie „Du sollst nicht töten“ oder auch eine Aussage wie „Frauen und Männer sind gleichberechtigt“ – das sind keine wissenschaftlichen Wahrheiten, sondern das sind Positionen, Standpunkte. Man kann ihre Richtigkeit prinzipiell nicht beweisen, sondern man kann nur persönlich dafür einstehen kann, dafr werben, dafür missionieren,. Man kann versuchen, andere davon zu überzeugen, aber man kann sie niemals anderen aufzwingen, weil man eben mit einem politischen Standpunkt nicht Recht hat in dem Sinne wie man Recht hat, wenn man sagt: In diesem Glas ist Wasser.

Diese beiden Ebenen auseinanderzuhalten, die wissenschaftliche Wahrheit und die politische Überzeugung, das ist uns verloren gegangen in der politischen Debatte. Ich glaube, darin liegt auch eine Ursache dafür, warum Fundamentalisten so „boomen“, warum sie so überzeugend erscheinen: Sie sind überzeugender darin, zu behaupten dass das, was sie für wahr halten, wahr in einem wissenschaftlichen Sinn sei und nicht wahr in einem politischen oder religiösen Sinn.

In der Diskussion wird es oft so dargestellt: Hier sind wir und dahinten irgendwo die Fundamentalisten oder die AfD, und da ist ein großer Graben dazwischen. Ja, einerseits ist es klar, wo wir sind und wo die sind. Ich glaube aber, dass diese Beschreibung dennoch nicht stimmt, weil die Art, so zu denken, einen fließenden Übergang hat. Ich beobachte zum Beispiel auch unter Freundinnen von mir, unter feministischen Freundinnen, manchmal eine solchermaßen „fundamentalistische“ Art zu diskutieren. Sie sagen zum Beispiel: „Frauen und Männer sind gleichberechtigt. Darüber diskutiere ich nicht“. Darüber diskutiere ich auch nicht gerne, aber wenn ich in einer politischen Umgebung bin, wo die anderen der Meinung sind, dass Frauen und Männer nicht gleichberechtigt sein sollen, dann bleibt mir eben nichts anderes übrig als zu diskutieren. Das unterscheidet mich von einer Fundamentalistin, die dann vielleicht die Bombe auspacken würde oder was auch immer sie zur Verfügung hat.

Religiöse oder politische Standpunkte als objektive Wahrheiten zu verkaufen, ist das eine, was in unserer Kultur den Fundamentalismus fördert. Das Zweite ist eine säkularisierte Gesellschaft, die nicht mehr in der Lage ist, über Glaubensüberzeugungen zu diskutieren, die den politischen Diskurs und religiöse Debatte auf eine Weise formalisiert hat, dass es vielen schwerfällt, überhaupt noch über fundamentale Überzeugungen, die die Menschen haben, zu streiten. Es ist die Idee, das Religiöse sei etwas Privates, Privatsache und ähnlich relevant wie die Frage, ob ich Spaghetti lieber mit grüner oder mit roter Soße esse. Der Säkularismus missversteht das tatsächlich „Fundamentale“ an Glaubensüberzeugungen.

Glaubensüberzeugungen können niemals nur privat sein. Sie sind keine Folklore, sie haben immer politische Implikationen. Und gerade hier beim Kirchentag gibt es ja eine Tradition, die gefeiert hat, dass aus dem christlichen Glauben politische Impulse ausgehen sollen. Ich weiß gar nicht, wann das angefangen hat, dass wir uns haben einlullen lassen von dieser Diskussion, die hauptsächlich gegen bestimmte Gruppierungen im Islam gerichtet ist, die behauptet, dass Glaubensdinge privat sein sollen. Religion ist nicht privat, außer vielleicht in einer bestimmten christlichen Tradition, die auf die Zwei-Reiche-Lehre zurückgeht. Da könnten wir jetzt tiefer einsteigen. Aber ich bleibe dabei: Religion ist in aller Regel immer und notwendigerweise politisch. Politisch eben in dem Sinne, dass ich für Überzeugungen werben muss, über sie diskutieren muss, andere gewinnen muss. Ich kann sie anderen nicht aufdrücken kann, indem ich sie einfach überstimme oder indem ich sie gar mit der Pistole dazu zwinge, dasselbe zu glauben wie ich. Es gibt keinen Zwang im Glauben – das ist kein moralischer Impuls, das ist eine Beschreibung von Tatsachen. Ich kann andere unterwerfen, aber ich kann andere nicht zwingen, zu glauben.

Der säkularisierte Diskurs, der über Religionen gar nicht mehr sprechen kann, hat dann auch dazu geführt, dass wir ein merkwürdiges Verständnis von Religionen gewonnen haben, die sich etwa in dem Spruch vom„Supermarkt der Religionen“ niederschlägt. So als seien Religionen eine Art Joghurt, bei dem ich mir aussuchen kann, ob mir Erdbeere besser schmeckt als Vanille. Und die Religionen werben dann alle für sich und sagen: Hier, meine Religion ist die Beste, bei mir ist es viel toller als bei euch!

Das widerspricht natürlich jeder Art ernsthafter Frömmigkeit, weil ernsthafte Frömmigkeit sich immer unsicher ist. Echte Frömmigkeit besteht gerade darin, nicht genau zu wissen, was Gott von uns will, sondern offen zu bleiben, um danach zu suchen – das ist letztlich ja das Thema von Luthers allererster seiner 95 Thesen. Fromm zu sein widerspricht einem Marketing für die eigene Religion, weil fromme Menschen sich immer fragen, ob es nicht vielleicht auch falsch sein könnte, wovon sie überzeugt sind. Fromme Religion bedeutet ständiges Suchen nach dem, was richtig ist, und ist deshalb mit jeder Art von religiöser Werbung unvereinbar. Wenn aber Religion Privatsache oder Geschmackssache sein soll und alle sich aussuchen können, was sie wollen, und dann ein Anpreisen des jeweils eigenen Gottes losgeht -dann haben wir ein Setting geschaffen, und bei uns ist es die säkulare Gesellschaft, die dieses Setting geschaffen hat, bei dem die Fundamentalisten immer gewinnen: Die haben einfach die schöneren Broschüren, die haben das bessere Marketing, die haben die klareren Werbebotschaften für den „Markt der Religionen“

Wir können als ernsthaft Gläubige im Marketing nie gegen die Fundamentalisten gewinnen, auch wenn wir uns natürlich Mühe geben sollten, verständlich zu sprechen und auf die Belange der Menschen einzugehen anstatt nur um unsere eigene Befindlichkeit zu kreisen. Wir sollen uns also schon beim Missonieren anstrengen. Aber Missionieren bedeutet eben, zu diskutieren, sich auf das Gegenüber einzulassen,und das ist immer ambivalent. Wirkliche Diskussionen sind immer offen, damit ist man nie fertig, knallige Slogans helfen dabei nicht weiter. Auf der Werbeebene können wir nicht gegen die Fundamentalisten gewinnen. Und deswegen sind wir hier, um uns bessere Strategien zu überlegen.

Was also entgegnen wir denjenigen, die diese Art verhunzte oder verkorkste Religiosität predigen in dem Sinne, dass sie sagen: „Ich weiß, was richtig ist. Ich kenne nicht nur die Fundamente meines Glaubens, sondern ich weiß auch ohne jeden Zweifel, welche Gesetze, welche Regelungen, welche Maßnahmen daraus politisch folgen sollen, wie zum Beispiel bestimmte Formen von Sexualität zu verbieten oder Vorschriften zu machen, wie Menschen zu leben haben“.

Ich bin der Meinung, dass wir ihnen gegenüber nicht einfach nur eine politische Differenz markieren müssen – in dem Sinn, dass wir andere Meinung sind, sondern, dass wir es hier tatsächlich mit so etwas zu tun haben wie dem Kampf gegen Gotteslästerung. Ich bin der Meinung, wir sollten diese Begriffe und auch dieses Pathos durchaus für uns reklamieren und ihnen das direkt so sagen müssen: Ihr lästert Gott.

Wir sollten uns gar nicht auf diese Diskussion einlassen, ob etwa wir nur dem Zeitgeist huldigen! Ganz und gar nicht. Wir stehen nicht für den Zeitgeist, der ablässt von den eigenen religiösen Fundamenten, sondern ganz im Gegenteil: Sie sind diejenigen, die sich von der Religion lösen, die religiöse Inhalte und Werte und Ansichten instrumentalisieren für ihre eigenen Interessen, die sich selbst an die Stelle Gottes setzen. Und das ist das Gefährliche an den Fundamentalisten! Dass sie Gott lästern.

Danke schön.