Antje Schrupp im Netz

Utopie konkret

Podiumsdiskussion OOTW, 30.09.2004

Etwas gegenläufige These: Utopien müssen nicht möglichst konkret sein, sondern möglichst unkonkret. Und zwar deshalb, weil es im Bezug auf politische Veränderung mehr auf die Vermittlung einer Idee ankommt als auf die Genialität und Richtigkeit einer Idee.

Gute Ideen haben wir ja genug. Es gibt hervorragende Konzepte, wie eine bessere Welt sein kann. Gleichzeitig lässt sich selbst das simpelste Zeug nicht umsetzen, weil es in den herkömmlichen Strukturen (auch Denk-Strukturen) nicht möglich ist.

Ich glaube, dies ist ein Misserfolg einer bestimmten männlichen Weise, Politik zu machen. Ich habe ja politische Ideengeschichte studiert und mich immer gefragt, warum Frauen in diesem Gebiet praktisch nicht vorhanden sind – anders als in anderen Gebieten.

Die politische Ideengeschichte, und daran beteiligen wir uns ja hier auch mit diesem Kongress, ist eine Abfolge von genialen männlichen Denkern, die sich mit ihren Theorien voneinander abgrenzen, wobei jeweils die Söhne die Väter ablösen und sich damit wechselseitig einen Platz in der Geschichte verschaffen – Aristoteles und Platon, Hegel und Kant, Marx und Hegel usw.

Ihre Theorien sind in der Tat beeindruckend, aber es ist inzwischen ja allgemein bekannt, dass es bei der konkreten Umsetzung dieser Ideen in der Realität ziemlich hapert. Was sich auf der theoretischen Ebene als Kampf von Vätern und Söhnen um den Besitz der Wahrheit äußert, äußert sich auf der alltäglichen, konkreten Ebene konsequenter Weise ebenso als Kampf und Krieg.

Je konkreter eine politische Idee, je genauer ausgearbeitet eine Utopie, desto schwieriger ist die Vermittlung und das führt dazu, dass sie nicht mehr stattfindet, sondern dass man sich über Strategien ihrer Durchsetzung Gedanken macht, die vielleicht mehr oder weniger blutig sind, aber immer instrumentell.

Inzwischen sind wir sogar so weit, dass schon der Begriff der Vermittlung instrumentell verstanden wird, denken wir nur an die Bundesregierung und Hartz IV.

Mein Vorschlag ist deshalb, Utopien möglichst unkonkret zu halten, damit die Möglichkeit einer wirklichen Vermittlung gegeben ist, und Vermittlung bedeutet eben: Dass sich das Begehren der anderen in Freiheit mit meiner Idee, meiner Utopie verknüpfen kann.

Dass das funktioniert, hat die Frauenbewegung gezeigt. Deren Utopie heißt: Frauen sind frei, das Patriarchat ist zu Ende.

Diese Idee entzündete, obwohl sie ganz unkonkret ist, das Begehren vieler Frauen, die sie auf sehr unterschiedliche Art und Weise und teils sogar gegensätzlich füllten. So bedeutet weibliche Freiheit und das Ende des Patriarchats für die einen die Abschaffung der Geschlechter, für die anderen die Rückkehr der großen Muttergöttin. Aber diese gegensätzlichen Konkretisierungen einer gemeinsamen Utopie haben der Frauenbewegung keineswegs geschadet, im Gegenteil, sie ermöglichten es, ganz unterschiedlichen Frauen mit ihren jeweiligen Erfahrungen, Meinungen, Vorstellungen sich ganz persönlich mit dieser Idee zu verbinden.

Die feministische Utopie: Frauen sind frei, das Patriarchat ist zu Ende, ist zwar unkonkret, sie ist aber keineswegs illusorisch. Sondern sie ist im Gegenteil sehr real. In dem Moment, wo eine Frau dem Gedanken, dass Frauen frei sind, einen Ort in ihrem Kopf einräumt, in dem Moment ist sie frei. In dem Moment ist das Patriarchat zu Ende. Die weibliche Freiheit ist eine Realität, und sie wird es in dem Moment, wo sich das Begehren einer Frau mit dieser Utopie verknüpft.

Dass die weibliche Freiheit eine Realität ist, bedeutet nicht, dass sie flächendeckend durchgesetzt ist. Es bedeutet, dass sie real ist, dass sie Auswirkungen hat, dass sie die Welt verändert.

Die Frauenbewegung ist die erfolgreichste soziale Bewegung, die wir je hatten, in nur dreißig Jahren hat sie das Verhältnis von Frauen und Männern so grundlegend verändert, dass jüngere Frauen sich heute schon gar nicht mehr vorstellen können, wie es früher, vor der Frauenbewegung war. Und das ist ihr gelungen, obwohl sie nicht im entferntesten ein einheitliches Programm zustande gebracht hat. Ich glaube, es ist ihr genau deshalb gelungen.

Wie hat es funktioniert? Sie hat sich nicht auf Ideen und politische Positionen konzentriert, sondern auf die Arbeit der Vermittlung. Ihre politische Praxis ist die Praxis der Beziehungen. Frauen haben ihre Utopie von der weiblichen Freiheit in die Welt getragen, indem sie neue Beziehungen geknüpft haben – vor allem mit anderen Frauen – und indem sie alte Beziehungen gelöst und verändert haben – vor allem die zu Männern. Es ist eine politische Praxis, die in erster Person handelt, die sich nicht repräsentieren lässt.

In ihrer politischen Bedeutung ist diese Praxis der Beziehungen aber noch nicht erkannt worden. Das heißt, die Welt ist schon viel weiter, als die politische Ideen, die wir dazu haben. Dies ist das Thema, an dem ich mit anderen Feministinnen dran bin, wir nennen das: Arbeit an einer neuen symbolischen Ordnung. Einer Ordnung, die – zum Beispiel, das ist ein Punkt unter vielen – die Bedeutung einer Politik der Beziehungen herausarbeitet.

Für die Themen, die hier diskutiert werden und wurden, wäre mein Vorschlag also, die Utopien möglichst unkonkret zu halten. Zum Beispiel:

  • »Menschen sind reich« (die Utopie/Realität: Frauen sind reich hat sich bei unserer Arbeit als sehr fruchtbar erwiesen). Oder auch:

  • »Das Leben hat einen Sinn«. Oder:

  • »Arbeit macht Spaß«.

Wenn wir solche unkonkreten aber dennoch realen Utopien in die politische Diskussion einbringen, dann besteht die Möglichkeit, dass sich das Begehren der Menschen, mit denen wir sprechen, an ihnen entzündet. Dass sie sich in Freiheit mit dieser Utopie verbinden und sie damit real machen. Menschen, deren Begehren sich mit der Idee ihrer Freiheit und einer guten Welt verknüpft, die werden aktiv, die tun etwas, die verändern die Welt.

Meine Utopie heißt: Frauen sind frei, Frauen sind reich, das Patriarchat ist zu Ende.

Vielleicht findet Ihr das nicht besonders konkret. Für mich ist es sehr konkret, denn es beschreibt die Wirklichkeit. Und zwar in dem Sinn, dass diese Sätze – Frauen sind frei, Frauen sind reich, das Patriarchat ist zu Ende – Tatsachen beschreiben, die wirken, die Auswirkungen haben.

Es sind freilich keine universalen Wahrheiten oder Utopien in dem Sinne, dass es für alle Menschen, an jedem Ort der Welt und überall gelten oder irgendwann einmal gelten sollen. Aber genau deshalb sind sie ja konkret. Denn was konkret ist, also real und wirksam, ist niemals universal.

Die Freiheit der Frauen ist also einerseits eine Utopie, ein Wunsch, ein Begehren, und gleichzeitig ist es eine Tatsache, die es zu entdecken gilt. Eine Frau, die frei sein will, wird zum Beispiel andere Frauen treffen, in denen sie weibliche Freiheit antrifft. Wobei es sogar meistens anders herum ist: Mein Begehren, frei zu sein, wurde in dem Moment geweckt, wo ich andere Frauen traf, die die weibliche Liebe zur Freiheit lebten und verkörperten. Diese Beziehungen ermöglichten mir, jenen unerhörten und für mich damals völlig neuen Satz zu denken: Ich bin frei, nicht obwohl ich eine Frau bin, sondern weil ich eine Frau bin. Mein Frausein ist kein Hindernis, kein Handicap meiner Freiheit, sondern geradezu ihre Bedingung dazu. (Das war für mich in der Tat eine ganz ungeheure Entdeckung, denn in der Schule oder in den linken Bewegungen hatte ich immer nur von universaler Freiheit gehört, also allgemein menschlicher – faktisch: männlicher – Freiheit, was bedeutete, dass ich mein Frausein leugnen, ablegen oder wenigstens für unbedeutend halten müsse, um frei zu sein).

Meine These ist also, dass Utopie (also das persönliche Begehren, die Liebe zur Freiheit, der Wunsch nach einer besseren Welt) und Realität (also das Gegebene, die Welt, in die hinein ich geboren wurde, die schon existierte, als meine Mutter mich »zur Welt brachte«) in einem Wechselverhältnis stehen und keineswegs Gegensätze sind. Utopien konkret werden zu lassen, das bedeutet, eine Beziehung herzustellen zwischen meinem persönlichen Begehren und der Welt, so wie sie ist.

Beides – sowohl die Utopie als auch die Realität – stehen dabei im Gegensatz zum Universalismus, zur Idee, es gebe Allgemeingültigkeit, zu Konzepten, die für alle gelten sollen.

Das hat natürlich Auswirkungen auf das Verständnis von Politik. Die Grundlage einer »Politik der Frauen«, wie ich und andere Feministinnen es nennen, ist eine Politik der Beziehungen, nicht eine Politik der Forderungen, der Institutionen, der Parteien. Politisch Handeln bedeutet, Beziehungen einzugehen, also Beziehungen, die mir erlauben, meinem Begehren zu folgen, also meine Utopien zu realisieren. Und es bedeutet, Beziehungen zu lösen, die mir das verunmöglichen.

Manche wenden dagegen ein, das sei doch klein, klein gedacht, so würde sich doch niemals etwas Grundsätzliches in der Welt ändern. Ganz abgesehen davon, dass ich Probleme mit dem Gedanken an »Grundsätzliches« habe, finde ich, dass die Erfahrung dem widerspricht. Die einzig wirklich erfolgreiche soziale Bewegung, die wir hatten, war die Frauenbewegung. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten hat sie, zumindest in der westlichen Welt, das Verhältnis der Geschlechter auf sehr weit reichende Weise verändert. Meine Lebensbedingungen unterscheiden sich ganz erheblich von denen meiner Mutter und erst recht meiner Großmutter. Was ihnen noch ganz utopisch erschien, ist für mich und viele andere Frauen heute ganz selbstverständlich. Und möglich wurde das durch die weibliche Liebe zur Freiheit und ihre Politik der Beziehungen: Frauen haben Beziehungen gelöst, sind neue Beziehungen eingegangen, haben ihre Beziehungen verändert – sowohl die innerhalb der Familie, als auch die zu ihrer Arbeit, zur Welt insgesamt.

Und das, obwohl »der Feminismus« niemals eine einheitliche »Theorie« zustande gebracht hat oder ein stringentes inhaltliches Konzept, bis heute nicht. Bekanntlich reicht die Palette von Gleichheits-Institutionen-Förderquoten-Feminismus bis hin zu Matriarchats-Nostalgikerinnen, die von weiblichen Tugenden schwärmen, von denen, die die Kategorie Geschlecht ganz abschaffen wollen bis zu denen, die in ihr das einzige Nonplusultra sehen. Die Frauenbewegung hat sich in endlos viele Parteien, Programme, Steckenpferde und teilweise auch Absurditäten aufgesplittert. Aber das hat ihre Wirksamkeit, die Realisierung der Utopie vom Ende des Patriarchats und der Freiheit der Frauen keineswegs behindert, ich meine sogar, im Gegenteil. Denn das Entscheidende in der Politik ist nicht die Theorie, nicht das Programm, sondern die Praxis: Die Praxis der Beziehungen.

Der Kernsatz lautet: Wenn ich meine Beziehung zur Welt verändere, dann verändert sich die Welt.

Ich meine, dass diese weibliche Erfahrung auch für andere Bereiche der Politik fruchtbar gemacht werden könnte. Denn egal um welches Thema es sich handelt, ist es doch so: An guten Ideen und Konzepten fehlt es keineswegs, einige davon waren ja in der Utopie-Serie im Freitag nachzulesen oder auch hier und heute zu hören. Das Problem ist aber doch, dass trotz allem selbst das Naheliegendste nicht umgesetzt wird oder dass wider besseres Wissen geradezu das Falsche gemacht wird.

Es geht nicht um Strategien, sondern um Experimente. Nicht um Entwürfe einer idealen Welt, sondern um Vermittlung zwischen mir und dem anderen, zwischen meinem Begehren und der Welt, so wie sie mir gegeben ist. Es geht nicht um Feststellungen wie: »Das ist fasch. Das wäre richtig« sondern um die Frage »Was wäre wenn?« – nach Ursula K. Le Guin im übrigen die Grundfrage des Science Fiction und das, was ihn von der politischen Utopie unterscheidet. Also, um die Frage: »Was wäre wenn?« mit der wir zwar spielen können, zu der wir uns Geschichten ausdenken können, die wir aber natürlich nicht beantworten können. Sondern die Zukunft ist offen, der Kontakt mit den Aliens (um uns herum und in uns selber) bringt ja gerade Neues in die Welt, also solches, was sich nicht vorhersehen lässt.

Deshalb möchte ich noch einige Thesen nennen, die das erläutern:

  1. Keine Repräsentanz. Politisches Handeln spielt sich immer in erster Person ab: Ich, Antje Schrupp, eine Frau, sage und tue dies oder das. Ich spreche nicht für andere Frauen, schon gar nicht für »die« Frauen, und ich lasse mich auch nicht von anderen Frauen repräsentieren.

  2. Anerkennung des Gebunden-seins. Das, was ich sage und tue, ist aber nicht nur meine individuelle, subjektive Meinung, sondern es ist ein Urteil, das aus dem Gespräch, dem Streit, der Auseinandersetzung mit anderen Frauen entstanden ist. Ihnen bin ich dankbar und diese Dankbarkeit bringe ich zum Ausdruck. Ich binde mich in Freiheit an die Autorität dieser Frauen, weil sie meinem Begehren förderlich sind. Darin besteht meine Freiheit, ich bin nicht unabhängig, individuell und losgelöst von meinen Beziehungen.

  3. Keine Parteibildung. Die Frauen, mit denen ich solchermaßen durch politische Beziehungen verbunden sind, bilden keine Gruppe mit festem Programm oder gemeinsamem Namen. Wir sind verbunden durch konkrete, duale Beziehungen: Ich und du. Diesen konkreten Zweierbeziehungen bin ich verbunden, nicht einer abstrakten Gruppe oder einem Programm. Diese Zweierbeziehungen können sich zu konkreten Projekten »zusammenknäulen«, wenn das Begehren mehrere Frauen da zusammenläuft. Endet das Begehren, dann endet auch das Projekt.

  4. Widerstand. Wenn ich meinem Begehren folge, werde ich dabei auf Hindernisse stoßen: Machtverhältnisse, Herrschaft, missgünstige Leute, Leute mit anderen Interessen. Ich werde alle Spielräume, die ich habe, ausnutzen und versuchen, diese Spielräume zu erweitern. Ich werde mich in eine Beziehung zu dem Gegner setzen, mit offenem Ende. Das heißt, es ist genauso möglich, dass ich den anderen töte, als auch, das sich mich von ihm überzeugen lasse und meinen Weg ändere. Je nachdem, wohin mein Begehren mich führt. Dies ist keine Frage der Pflicht oder der Moral, sondern der konkreten Situation.

  5. Ein Schritt zurück gehen. Manchmal findet man sich in einer ausweglosen Patt-Situation, in der es keine Handlungs-Spielräume mehr zu geben scheint. Das liegt daran, dass man dem Gegner zu nahe ist. Dann trete ich einen Schritt zurück, das schafft Spielräume. Einen Schritt zurück zu gehen ist keine Niederlage, wenn man das eigene Begehren nicht aus den Augen verliert.

  6. Zug um Zug spielen. Im Umgang mit Hindernissen mit dem Negativen – das können Herrschaftsverhältnisse ebenso sein, wie eine schwere Krankheit, oder auch die derzeit ausweglos erscheinende Situation des globalen Kapitalismus – bringt es nichts, grundsätzliche Strategien zu entwerfen. Es ist eher wie ein Spiel, das Zug um Zug gespielt wird. Ich tue einen Schritt und warte, was der Gegner tut. Dann tue ich den nächsten Schritt. Ich überlege mir, was in dieser Situation das angemessene ist.

  7. Maschen aufziehen. Im Umgang mit monströsen Relikten aus dem Patriarchat – etwa den historisch gewachsenen Institutionen oder dem Gebäude westlich-männlicher Philosophiegeschichte – setze ich nicht auf Zerstörung. Ich suche vielmehr nach Bauteilen, die mir nützlich sein können. Einen alten Pullover muss man nicht wegschmeißen, man kann auch die Maschen aufziehen und aus Teilen der Wolle etwas neues stricken. Oder wie bei alten, unnütz gewordenen Bauwerken (ein schönes Beispiel ist das Kolosseum in Rom): Man muss sie nicht niederbrennen, sondern kann Teile daraus für neue Gebäude verwenden.

  8. Politik ist nicht instrumentell. Politik funktioniert nicht so, wie das Herstellen eines Stuhles, von dem ich in inneres Bild entwerfe und mir dann Werkzeuge und Techniken suche, um den Stuhl dann so herzustellen, wie ich ihn mir ausgedacht habe. Ich weiß, dass die Folgen meines Handelns unvorhersehbar sind und dass mein Handeln nicht rückgängig zu machen ist (anders als beim Stuhl, den ich wieder zerstören kann). Die Verantwortung, die sich daraus ergibt, nehme ich ernst.

  9. Offen bleiben für das Neue. Ich bin mir bewusst, dass ich mich irren kann (die Erfahrung lehrt das, denn ich habe mich schon oft geirrt). Die Begegnung mit dem Anderen, egal, ob sie zunächst mir als Verbündete oder als Feind begegnet, ist immer ein Spiel mit offenem Ausgang, bei dem mein Begehren mich leitet, nicht mein Verstand oder mein Wille. Ich rechne deshalb immer mit der Möglichkeit (und hoffe sogar darauf), etwas Neues zu entdecken, das heißt, mich selbst zu verändern.