Antje Schrupp im Netz

Rettet die Marktwirtschaft

Wie viel hat „der Markt“ als Ordnungsprinzip eigentlich mit den Märkten vor Ort zu tun? Nicht viel, und das ist schade, findet unsere Autorin. Denn das Markttreiben hat gesellschaftliche Kräfte

in: Plan W, Süddeutsche Zeitung, September 2015

Besonders skurril sind die gerupften Hühner. Ihre Beine zeigen mit weit gespreizten Krallen in die Höhe. Ja, hier in China sind Hühnerkrallen eine Delikatesse. Aber dass das so aussieht? Es ist kein Wunder, dass Märkte in Reiseführern an prominenter Stelle stehen. Märkte sind so eine Art Konstante der menschlichen Kultur. Nirgendwo sonst lässt sich so rasch ein Einblick in die Besonderheiten einer jeweiligen Region bekommen. Es riecht und tönt zwischen Bergen von Pflanzen, Gewürzen und allerlei Zeugs, von dem man vieles gar nicht kennt.

Auf dem Markt treffen sich alle, Frauen und Männer, Einheimische und Fremde, Geschäftige und Flanierende, Alte und Junge. Es gibt klare Regeln: Hier werden Waren gegen Geld getauscht, und Geld gegen Waren. Auf dem Markt sind die Menschen nicht „gleich“, sondern sie treffen sich als Unterschiedliche – das ist gerade der Witz, dass die einen was haben, was die anderen gerne hätten. Märkte stellen Fülle und Vielfalt aus, Nützliches und Nutzloses, und die hier umgeschlagenen Warenberge stehen zwar allen vor Augen, aber nicht alle können sich alles leisten.

Trotzdem sind sie in gewisser Weise neutral: Auf dem Markt muss ich niemanden kennen, zu keiner Familie und keinem Clan gehören, um etwas zu bekommen. Ich brauche nur Geld, und selbst wenn ich keines habe, kann ich immer noch schauen und staunen. Vielleicht ist das der Grund, warum vor allem Frauen so gerne auf Märkte gehen: Hier werden Menschen nicht über ihre Beziehungen definiert. Moralische Ansprüche sind zweitrangig, und niemand verlangt von ihnen Selbstaufopferung und Hingabe, Genügsamkeit oder Bescheidenheit.

„Solange die Linken darauf bestehen, dass mit dem Kapitalismus auch der Markt abgeschafft werden muss, werden sie die Frauen nicht auf ihrer Seite haben“, sagt die italienische Philosophin Annarosa Buttarelli, „denn die Frauen lieben Märkte.“ Eine steile These, an der aber was dran ist. Märkte sind tatsächlich fast immer von Frauen bevölkert, anders als Parlamente, Universitäten oder Gerichtssäle. Dort mussten sich Frauen ihren Zugang erst mühsam erkämpfen, auf dem Markt hingegen sind sie schon immer zu Hause, auf der ganzen Welt ist das so. Das hat sich von den sprichwörtlichen „Marktweibern“ bis zu den modernen Shopping-Queens nicht geändert.

Aber ist das nicht ein naives, romantisches Bild? Sprechen die harten Realitäten der „Marktwirtschaft“ nicht eine ganz andere Sprache? In der Tat: Neben die realen Märkte, oder besser über sie, ist inzwischen „Der Markt“ getreten, jenes Konstrukt, das vielen als Synonym für das kapitalistische Wirtschaftsprinzip gilt. „Der Markt“ ist ein vergleichsweise junger, eher von Männern bevölkerter Ort, oder eigentlich gar kein Ort, sondern mehr ein Prinzip. Seine Wurzeln im wirklichen Leben hat er längst vergessen. „Der Markt“ wird von Männern verehrt oder gehasst wie früher Gott, und er ist genauso patriarchal: Seine Gesetze gelten absolut. „Der Markt“ steht im Zentrum des politischen Denkens sowohl der Rechten als auch der Linken: Die einen erhoffen von ihm die Rettung der Welt, die anderen sehen in ihm den Untergang.

Dieser „Markt“ ist bekanntlich in der Krise, erst recht, seit daraus ein globaler „Finanzmarkt“ wurde, der den Kontakt zur Realität vollständig verloren hat. Hier geht es nicht mehr darum, unterschiedliche Menschen mit ihren realen Bedürfnissen und Wünschen zusammenzubringen, sondern um die Durchsetzung egoistischer Ziele auf Kosten von anderen mit den Mitteln der Macht, wobei „die anderen“ sorgfältig von den Entscheidungsorten ferngehalten werden. Wer hier jemanden übers Ohr haut, muss ihm dabei nicht ins Auge blicken. Es gibt keinen fühlbaren Zusammenhang mehr zwischen einer Entscheidung und ihren Folgen. Es trägt auch ohnehin niemand mehr Verantwortung, denn „der Markt“ selbst gilt jetzt als der maßgebliche Akteur.

Es wäre völlig falsch, die realen Märkte, die die Frauen lieben, mit diesem ideologischen Konstrukt gleichzusetzen. Beide haben außer dem Namen nichts gemein. Auf einem wirklichen Markt geht es um die Verteilung von Gütern, um die Befriedigung von Bedürfnissen, er ist ein Ort für politische und persönliche Verhandlungen. Reale Märkte sind höchst komplexe Angelegenheiten und sie haben Regeln, aber es gelten keine absoluten Gesetze. Es gibt Spielraum für Erfindungsgeist, Großzügigkeit, Empathie, für Unvorhergesehenes. Aus diesem Grund ermöglichen Märkte Freiheit und Fülle.

Der abstrakte „Markt“ hingegen achtet weder die Unterschiedlichkeit der Menschen noch ihre gegenseitige Abhängigkeit, er ist der blanke Feudalismus: Wer nicht zum richtigen Clan gehört, zum Beispiel im falschen Land oder in der falschen Familie geboren wurde, hat hier so gut wie keine Chance. Und so ist es auch nicht dieser Markt, den die Frauen lieben. An den Spitzen der Wirtschaftskonzerne und in den höheren Rängen der Finanzindustrie muss man sie mit der Lupe suchen.

Stattdessen bestehen die meisten Frauen darauf, dass der Wunsch, Geld zu verdienen, sich nicht mit dem Wunsch widerspricht, die Welt zu erhalten und zu schützen, wie zum Beispiel die Gründerinnen des verpackungsfreien Supermarktes „Unverpackt“. Oder sie verkaufen Selbstgemachtes auf Do-It-Yourself-Plattformen im Internet, weil der Spaß daran, schöne Dinge herzustellen, nicht dadurch diskreditiert wird, dass man sie zum Kauf anbietet. Sie erwarten schlicht, dass Wirtschaft verschiedene Bedürfnisse zusammenkriegt.

Deswegen ist es auch an der Zeit, all diese realen Märkte mit ihren positiven Dynamiken und Chancen als Vorbilder für „den Markt“ zu nehmen. Weil auf den Märkten vor Ort nicht einfach eine „kapitalistische Logik“ herrscht oder die so oft behauptete Alternativlosigkeit. Es gibt immer eine Alternative. Im Zentrum von Wirtschaft stehen Beziehungen, Menschen und Waren, es geht um Wohlstand und Sinnhaftigkeit. Wer das alles auf „Geld, Zahlen und Bilanzen“ zusammenstutzt, hat den Sinn von Marktwirtschaft nicht verstanden.

Dies ist die noch nicht endgültig redigierte Fassung des Artikels