Antje Schrupp im Netz

Der zuckersüße Jesus – Religion und Kitsch

Ave Maria
Maria, mein Gesang
Er bittet Dich um Gnade
Für Menschen die schon so lang
Ganz und gar ohne Hoffnung sind,
Ganz ohne Hoffnung sind
Siehe dort ihr traurig Dasein
Der Ohnmacht tiefste Angst vor dem Tod
Millionen leben hier auf Erden
immer noch in allergrösster Not
Ave Maria

Ave Maria
Santa Maria
Erhöre mein Gebet, Maria
So vieles Leid das schon geschah
Warum kommt immer neues Leid?
Immer neues Leid?
Lass du die Menschen wieder glauben
Lass sie verstehen und verzeihen
Dann könnten alle Völker Freunde
Und alle Rassen Brüder sein
Ave Maria

(Nina Hagen)

Maria Was ist davon zu halten? Zuckersüßen Jesusse mit langem gewelltem Haar und blinkendem Heiligenschein, oder auch die dazugehörigen Madonnen mit dem kindlich-weißen Gesicht und dem blutenden Herzen. Oder diese von innen beleuchtete Petersdom-Imitate aus Plastik und Schlüsselanhänger mit dem Konterfei des Papstes drauf. Junge Mädchen mit riesigen Kreuzen um den Hals oder Jesusbildchen auf Jeans aufgedruckt.

Ich habe zuhause eine ganze Schublade voller religiösem Kitsch. Da sind auch kleine Buddhas drin, oder Heiligenfiguren als afrikanische Gottheiten, die ich aus Brasilien mitgebracht habe, 3-D-Postkarten mit Jesus, Maria oder auch der gesamten Heiligen Familie drauf. Auch Sachen, die jenseits mancher Schmerzgrenze liegen, wie Jesusbildchen im Bad, die Weihwasserflasche als Shampoobehälter, Unterhosen mit Bibelversen drauf – alles schon da gewesen.

Viele Vertreter der »Hochkultur«, besonders evangelische, rümpfen die Nase. Der katholischen Kirche bereitet der neue religiöse Kitsch keine großen Schwierigkeiten. Schließlich hat man hier sozusagen eine lange Kitsch-Tradition vorzuweisen. Keine berühmte Kirche, kein Wallfahrtsort kommt ohne Devotionalienverkauf aus.

Für meine Radiosendung zum Thema Kitsch und Religion habe ich dazu August Heuser interviewt, den Leiter des Frankfurter Dommuseums. Seiner Meinung nach gehören Religion und Kitsch einfach zusammen. Die Religion neigt zum Kitsch, sagt er, weil sie dem Menschen Beheimatung geben will, weil sie die Gefühle ansprechen will, weil sie vom Glück spricht. Und der Kitsch ist nun mal ein einziges Glücksversprechen. »Dann könnten alle Völker Freunde sein«…. Im Kitsch spiegeln sich Glück, Heimat, Zufriedenheit wieder – traditionellerweise ohne Ironie, immer häufiger aber mit ironischer Brechung.

Aber nicht nur in der Religion, überall ist Kitsch wieder in. Auf Feten werden Siebziger-Jahre-Schlager gespielt, angesehene Künstler inszenieren den röhrenden Hirschen neu. Auch wenn Jugendliche heute mit Che-Guevara-T-Shirts herumlaufen ist das letztlich nicht politisch, sondern kitschig. Wir leben in einem kitschigen Zeitalter. Wenn Peek-und-Cloppenburg die Waren je nach Geschlecht ihrer Kundschaft heute in hellblaue oder rose Tüten packt, dann ist das auch kitschig, es erinnert an die Zeiten, in denen man noch genau wusste, was Männchen und was Weibchen ist.

Was ist eigentlich Kitsch?

Was das Wort ursprünglich bedeutete und wie es entstand, ist umstritten. Belegt ist es erstmals um 1870 im Münchner Kunsthandel. Es stammt möglicherweise vom mundartlichen: kitschen, das bedeutet soviel wie Straßenschmutz oder Schlamm zusammenkehren, klatschen und klitschen. Es hätte danach einen lautnachahmenden Ursprung und bedeutet in etwa »zusammengeschmierter Dreck«. Häufig genannt wird auch eine mögliche Abstammung vom englischen Wort »sketch« also eine Skizze oder flüchtige Malerei, wie sie englische oder amerikanische Touristen jener Zeit für wenig Geld als Souvenir am Kunstmarkt nachfragten.

Kitsch gibt es also eigentlich erst seit Ende des 19. Jahrhunderts. Er ist in gewisser Weise ein Produkt der Industrialisierung, die es mit ihren Maschinen und Fabriken ermöglicht hat, ein bestimmtes Ding vieltausendfach als Massenware herzustellen.

Jesus Wo auch immer der Ursprung des Kitsches liegt, einig war man sich lange Zeit, dass Kitsch etwas Schlechtes ist. Billige Massenware, politisch reaktionär, konventionell, kurzum: Abzulehnen.

In den 1930er Jahren schrieb der amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg: »Kitsch ist mechanisch und funktioniert nach festen Formeln. Kitsch ist Erfahrung aus zweiter Hand, vorgetäuschte Empfindung. Kitsch ist der Inbegriff alles Unechten im Leben unserer Zeit.« Und noch radikaler verurteilte der Dichter Hermann Broch den Kitsch: »Das Böse im Wertsystem der Kunst.«

Kitsch: das war für den Kunstfreund und Kunstkenner lange etwas Unangenehmes, Unappetitliches und Verwerfliches, Konsumgut allein für dümmliche, kindische Charaktere. In dem 1957 erschienene Grundsatzwerk »Kitsch, Konvention und Kunst« von Karlheinz Deschner heißt es – auch noch in der revidierten Auflage von 1980: »Kitsch ist immer unecht, unwahr, Als-ob-Kunst. Kitsch, für den wir fast alle anfällig sind, ist leider nicht bloss lächerlich, sondern hochgradig gefährlich, infektiös, epidemisch, die mörderischste Droge der Welt.«

In so einer Kritik lag immer auch eine gewisse Überheblichkeit seitens der bildungsbürgerlichen Schichten gegenüber den »einfachen Geistern«, die Kitsch mögen. Derer also, die nicht verstehen konnten, dass die Leute statt Goethe und Thomas Mann lieber Karl May und Hedwig Courths-Mahler lasen und heute statt ins Programmkino zu gehen, lieber Hollywood-Schnulzen gucken..

Kitsch spricht eben Gefühle an, und zwar auf unmittelbare, nicht rationale Weise. Kunst hingegen wirkt aus ihrer Ästhetik heraus, sie hat das Gefühl nicht nötig. So sagte es schon lange, bevor es den Kitsch überhaupt gab, Immanuel Kant: »Der Geschmack ist jederzeit noch barbarisch, wo er die Beimischung der Reize und Rührungen zum Wohlgefallen bedarf.« Wo an Gefühle appelliert wird, wo Sehnsucht, Liebesschmerz und Liebesglück zu Tränen rühren, da ist, so Kant, ein ästhetisches Urteil unmöglich geworden.

In dieser Perspektive ist Kitsch also nicht einfach etwas anderes als Kunst, sondern ihr zum Gegensatz. Grelle Farben reizen die Sinne, pathetische Formulierungen rühren zu Tränen, es gibt keine verborgenen Bedeutungen, man muss nicht studiert haben, um sich seinem Genuss hinzugeben, keine Spitzfindigkeiten sind notwendig, man muss nicht zwischen den Zeilen lesen, alles liegt offensichtlich zutage.

Leicht lässt sich in diesem Verdikt gegen den Kitsch die männliche Philosophie wieder erkennen, die die Welt in Gegensätzen begreift, Geist und Körper, Verstand und Gefühl, Mann und Frau. Wo Gefühle im Spiel sind, da ist der Verstand ausgeschaltet, glaubt sie.

Zu dieser androzentrischen Zweiteilung der Welt im Patriarchat und wie wir sie überwinden können hat Ina Praetorius gerade ein tolles Buch geschrieben: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition, bei Gütersloh. Sehr empfehlenswert, ich habe es in zwei Tagen durchgelesen.

Das heißt, der Dualismus von Kunst und Kitsch steht in der Tradition einer Weltsicht, die eben alles in solche Gegensatzpaare aufgeteilt hat.

Und wie ist das mit der Religion? Die ja lange ein Thema vornehmlich der Kunst war? Bereits Michelangelo sah sich mit dem Dilemma konfrontiert. Ihm wurde nämlich vorgeworfen, die niederländische Kunst sei frömmer als seine, die italienische. Er antwortete:

Die niederländische Malerei wird im allgemeinen jedem Frommen mehr gefallen als ein italienisches Werk, das ihm keine Träne entlocken wird, wie ein niederländisches es tut, jedoch nicht wegen der Trefflichkeit und Güte dieser Malerei, sondern wegen der Milde jenes frommen Beschauers. Den Frauen wird sie gut gefallen, insbesondere den sehr alten oder den ganz jungen, und ebenso auch den Mönchen und Nonnen und einigen amusischen Edelleuten, denen die Empfindung für wahre Harmonie fehlt. Die Niederländer malen recht eigentlich, um das äußere Auge zu bestechen, etwa durch Dinge, die gefallen, oder durch solche, über die man nichts Schlechtes sagen kann, wie Heilige und Propheten … und wiewohl dies alles gewissen Augen wohlgefällt, so fehlt darin in Wahrheit doch die echte Kunst, das rechte Maß und das rechte Verhältnis, die Auswahl und die klare Verteilung im Raum und schließlich sogar Inhalt und Kraft.

Sie sehen auch hier die Aneinanderreihung und Parallelisierung von Dualismen: Frauen und Männer, Fromme und Vernünftige, gefällige und echte Kunst, Milde und Kraft, Schund und Qualität.

In dieser Debatte stellten sich die evangelischen Reformatoren tendenziell auf die Seite des Verstandes und der Ratio gegen die abergläubische katholischen Volksfrömmigkeit, männlicher Intellekt gegen weibliche Frömmelei, Puritanismus und kahle Wände gegen Buntes und Glitzerndes, männlicher Christus gegen weibliche Marienverehrung. Lange Zeit haben protestantische Theologen den religiösen Kitsch allen Ernstes sogar als eine Folge der Erbsünde interpretiert, haben alles Sinnliche und alles Brimborium aus ihren Kirchen verbannt und sich vornehmlich auf das Wort, den Intellekt also, beschränkt.

Allerdings ist die Schnittstelle zwischen »wahrer Religion« und »religiösem Kitsch« viel schwieriger zu ziehen, als zwischen »wahrer Kunst« und »Kitsch«. Denn Religion hat immer etwas mit Gefühl und Verstand zu tun, denn sie umfasst den ganzen Menschen. Eine einfache Trennung nach dem Muster: Gefühl hier – Religion da ist nicht möglich. Deshalb haben die Kritiker der bunten, weichgezeichneten Jesusse eine andere Trennlinie erfunden: die zwischen echten und unechten Gefühlen.

Kitsch ist die zum Objekt gewordene Sentimentalität hat ein Soziologe es einmal definiert. Und Sentimentalität wird eben definiert als falsches, unechtes Gefühl. Das heißt: Auch wenn man zugibt, dass die Religion nicht auf Gefühle und emotionales Angerührtsein verzichten kann, so möchten sie eben doch unterscheiden zwischen Gefühlen, die echt sind, und Sentimentalität, also »falschen Gefühlen«. Und in der Religion oder in der Kirche sollen nur echte Gefühle sein, nicht kitschige Sentimentalität, die die Leute nur beruhigen will und einlullt, anstatt sie zum Tätigwerden und zum Engagement aufzurufen.

Der Vorwurf gilt natürlich nicht nur für die biedere normale Kitschigkeit, sondern erst recht für die ironisch gebrochene: Hier wird ja sogar nur so getan, als habe man unechte Gefühle. Es sind sozusagen unechte unechte Gefühle, also der potenzierte Kitsch.

Eine Freundin von mir, die Pfarrerin ist und eine Zeitlang einen Kirchenladen in der Innenstadt von Darmstadt betrieben hat, schmückte den immer schön kitschig aus. Sie erntete dafür viel Kritik, vor allem wenn sie Mariendarstellungen dort hatte. Sie stellte sie aber trotzdem auf.

Als ich diese Freundin fragte, was ihr an den Madonnen so gefällt, sagte sie, dass sie darin eine Sehnsucht wieder findet, die viele Männer und Frauen haben. Frauen wollen schön sein, sie wollen vollkommen sein, sie wollen unantastbar sein, und dieses ganze Innere mit den vielen Problemen, Sorgen und Ängsten, das sieht man diesen Marien einfach nicht an. Und Männer wünschen sich eine Frau, die sie auf den Sockel stellen können, die sie anbeten dürfen, und die dann natürlich auch möglichst glatt und unkompliziert einfach nur Fürsprecherin ist und weiter keine Diskussionen anfängt.

Ihre These also ist, dass all diese kitschigen Darstellungen Ausdruck von tiefen Sehnsüchten sind. Und das gilt auch für die vielen Darstellungen der Heiligen Familie. Was wünschen sich die Menschen? Die Menschen wünschen sich Geborgenheit, Schutz, Liebe, Aufgehobensein und das ist die Heilige Familie. Eine Frau, die sich um ihren Mann sorgt, ein Mann, der sich um seine Frau sorgt, Kinder, die wohlbehütet aufwachsen. Natürlich ist es nicht die Realität, die in dieser heilen Welt dargestellt ist, aber es sind reale Sehnsüchte, die dahinter stehen. Und sind Kirchen und religiöse Orte nicht gut geeignet, um der Sehnsucht der Menschen einen Ausdruck zu geben? Dann könnten alle Völker Freunde sein?

Ein Einwand gegen den Kitsch ist auch der, dass der Kitsch die großen Gestalten, wie sie in der Bibel beschrieben sind, Jesus, Maria und all die anderen, verharmlost. Ihre widerständige, revolutionäre Haltung verleugnet und sie ins Spießbürgertum eingliedert.

Der Einwand scheint berechtigt. Schließlich sind die Kitschverehrer traditionell nicht gerade die revolutionärsten, und hat auch der neue Spaß an religiösem Kitsch bislang nicht dazu geführt, dass die Leute wieder massenweise in die Kirche eintreten oder auch nur dazu, dass sie mehr Wert auf Barmherzigkeit und Nächstenliebe legen.

Natürlich ist es eine Verflachung oder eine Verniedlichung, wenn man die ungeheuer provokante und politische Botschaft Jesu sozusagen in Zuckerwatte hüllt und verniedlicht.

Andererseits sind ja viele der so genannten Engagierten – gerade die Protestanten – sehr von Ethik, von Pflichtgefühl, von dem Wunsch, ein guter Mensch zu sein, erfüllt. Sentimentalitäten haben da keinen Platz, nur »echte« Gefühle sollen gelten.

Aber wie sinnvoll ist es überhaupt, zwischen »echten« und »unechten« Gefühlen zu unterscheiden? Auch die »unechten« Gefühle sind ja doch real, und sie haben auch Folgen, wenn auch nicht so unmittelbar feststehende Folgen wie ein ethisches Pflichtgefühl oder eine rationale Entscheidung. Vielleicht ist es hier Gottes Geist, der wirkt? Wer will das ganz genau wissen?

Besser unechte Gefühle als gar keine, möchte ich sagen. Denn ein Glaube, eine Weltanschauung, eine politische Philosophie ohne Gefühl, ohne innere Bewegtheit, ohne Sehnsucht und offene Fragen ist nach an der Ideologie.

Dass der religiöse Kitsch bei vielen Leuten sozusagen das Gefühl stimuliert, ist also erst einmal etwas Gutes. In der Sehnsucht nach der heilen Welt äußert sich immer auch eine Utopie, ein Wissen darüber, dass nicht alles so bleiben muss, wie es ist. Eine andere Welt ist möglich – das ist die Aussage es Kitsches. »Dann könnten alle Völker Freunde sein«.

Dass sich die Menschen heute nach einer heilen Welt sehnen, ist ja nicht sehr verwunderlich. Im Kitsch holt man sich zurück, was in der modernen Welt des erwachsenen, vernünftigen Mannes eigentlich verboten ist: den Reiz, das Gefühl, das Bunte, die geborgene Weltsicht eines Kindes. Kitsch ist Ausdruck der Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies, und wenn man das sozusagen augenzwinkernd und mit ein bisschen Ironie betreibt, dann ist es auch nicht uncool.

Das Leben ist kompliziert, gehetzt, dauernd muss man wichtige Entscheidungen treffen. Aber war da nicht mal eine Kirche, die Erlösung versprach? Die eine gute Nachricht hatte? Natürlich glaubt das heute kaum noch jemand (auch viele in der Kirche nicht, ist manchmal mein Eindruck). Aber mit so einem lieben Jesus oder einer gütige Madonna lässt sich sozusagen eine Gegenwelt auf dem Kaminsims aufstellen.

Es ist vielleicht nicht so ohne weiteres dasselbe, ob im Zimmer der röhrende Hirsch oder der Sonnenuntergang hängt, oder Jesus oder Maria. Denn während das eine wirklich nur die heile Trallala-Welt ist, hat die Religion immer auch eine andere Seite. Natürlich ist sie auch die spießige bürgerliche Idyllensehnsucht nach dem Nest und der heilen Welt ist. Religion hat aber immer den Abgrund mit thematisiert, die Angst vor dem Tod, vor dem Endlichen, vor der Strafe, vor der Rache, vor der Schuld.

Viele religiöse Kitschbilder zeigen ja krasse Wunden: Aus dem Körper Jesu fließt das Blut, das Herz der Madonna ist von einem Dolch durchstoßen.

Das sind platte, aber funktionierende Bilder: Wer schon mal Liebeskummer gehabt hat, weiß, wie sich das anfühlt. Meine Freundin, die Pfarrerin, glaubt, dass gerade junge Mädchen sich vielleicht einfach aufgehoben fühlen in so einer Darstellung und sagen, genauso geht’s mir auch, ich hab auch irgendwie einen Dolch im Herzen. Und die Maria hat das geschafft und so ist sie ist vielleicht ein Projektionsbild auch für die eigene Sehnsucht, das überstehen zu können, was man da an Schmerz und Leid grade fühlt.

Das ist eine religiöse Erkenntnis, und man muss sich ja auch mal selbstkritisch fragen, ob diese junge Frau mit Liebeskummer so eine Erkenntnis oder dieses Gefühl, nicht alleine zu sein, auch in den Gemeinden bekommen würde. Für viele Menschen ist es nun mal schwer, mit ihren religiösen Sehnsüchten Antworten bei der Institution Kirche zu suchen.

Natürlich muss man das Ganze auch mit Humor nehmen – und die jungen Leute tun das. Bei der modischen Neuinszenierung des zuckersüßen Jesus wird ja die Sehnsucht nach der heilen Welt auf eine solch alberne Art und Weise in Szene gesetzt, dass auf den ersten Blick schon klar wird: das kann nicht wirklich ernst gemeint sein. Der Jesus auf der Hologramm-Postkarte kann die Versprechen, die er gibt, gar nicht einlösen, und alle wissen das. Da sind die Augen zu blau, der Mund zu Kussmund. Es ist so übertrieben, dass eigentlich alle wissen, dass da noch eine schwierige Seite, ein harter Weg sein muss. Man weiß, dass Jesus nicht so harmlos-kitschig-zuckersüß war.

Wirklich richtiger Kitsch wird’s eigentlich erst dann, wenn man den Humor gar nicht mehr sieht. Milan Kundera hat einmal geschrieben, dass es heute unsinnig ist, über Kitsch zu reden, weil die ganze Welt ja bereits verkitscht ist. Zum Beispiel das:

Ein Schmetterling kann einen Taifun auslösen. Der Windstoß, der durch seinen Flügelschlag verdrängt wird, entwurzelt vielleicht ein paar Kilometer weiter Bäume. Genauso wie sich ein Lufthauch zu einem Sturm entwickelt, kann deine Tat wirken. Unrealistisch sagst du? Warum feuerst du dann deine Mannschaft im Stadion an, wenn deine Stimme so unwichtig ist? Wieso schwenkst du Fahnen, während Schumacher seine Runden dreht? Du kennst die Antwort: Weil aus deiner Flagge viele werden und aus deiner Stimme ein ganzer Chor. Du bist von allem ein Teil. Und alles ist ein Teil von dir.

Gibt es zum Beispiel etwas Kitschigeres als diesen Text der aktuellen »Du bist Deutschland«-Kampagne? Und da hängt kein Schild dran, »Vorsicht, Kitsch!«

Kitsch, so die sehr zutreffende Zeitdiagnose von Milan Kundera, ist heutzutage allgegenwärtig – im Fernsehen, in den Zeitungen, in den Privatleben. Selbst der Krieg wird inzwischen kitschig präsentiert, Kitsch ist also eigentlich der Normalfall, nicht mehr die Ausnahme.

Solange man die Sehnsucht nach Harmonie in Kitschfiguren projiziert, ist es nicht schlimm. Bei den Jesusbildchen und Madonnen-T-Shirts ist das Schild »Achtung Kitsch« ist ja schon immer dabei. Man kann darüber lachen, dass da Sehnsüchte gezeigt werden, die wir spüren, aber von denen wir ganz genau wissen, dass sie über solche Bildchen nicht einlösbar sind. Diese Bilder strahlen zwar eine Harmoniesucht aus, aber da weiß man genau, es ist nicht die Realität. Um dorthin zu kommen, braucht es noch mehr.

Schlimm wird’s, wenn man versucht, die Realität zu verkitschen. Wenn die Sehnsucht nicht mehr als Sehnsucht abgebildet, sondern als Realität behauptet wird: Du bist Deutschland.

Und das passiert leider ziemlich oft. Auch viele Vorstellungen von der »heilen Vater-Mutter-Tochter-Sohn«-Familie in der derzeitigen Debatte um Familienpolitik sind ziemlich kitschig.

Deshalb liegt die Gefahr, die revolutionäre und herausfordernde christliche Botschaft durch falsche Sentimentalität zu verharmlosen und zu verflachen, auch weniger in der Beliebtheit des religiösen Kitschs, sondern eher in der offiziellen Kirche, die nämlich ebenfalls kitschig ist, allerdings ohne das selber zu merken.

Auch in kirchlichen Kreisen gibt es sehr viel von solchem »ernst gemeinten« Kitsch – und zwar nicht da, wo die Jesusherzen und Heiligenkränze blinken. Viele kirchliche Veranstaltungen sehen ganz nüchtern aus, sind aber eben doch ziemlich kitschig, ohne aber dass die, die da mitmachen, drüber lachen können, sondern da wird’s dann super ernst.

Wenn zum Beispiel Kinder herzige Theaterstücke aufführen, bei denen nicht mehr auf die Qualität geachtet wird, kein Mensch ein Wort von dem versteht, was die Kinder herunterleiern, weil niemand richtig mit ihnen geübt hat, aber trotzdem alle gerührt sind und sagen: ach gott, die Kleinen, wie hübsch. Oder Weihnachtsszenische Spiele, Weihnachtskrippenspiele, da muss man überall aufpassen, dass es nicht zu kitschig wird, weil es ist dann zu schön, um wahr zu sein.

Das heißt aber auch: Gerade weil der neue, kirchenferne Kitsch-Kult den Zuckerjesus nicht ernst nimmt, sondern eine ironische Distanz dazu einnimmt, ist er eher unbedenklich. Aber wenn man unter diesem Aspekt über das Phänomen nachdenkt, stellt sich die Frage neu: geht es denn bei all dem überhaupt noch um Kitsch?

Manche Leute sagen in der Tat, nein. Diese schönen Jesusfiguren seien gar nicht mehr Kitsch, sondern nur Dekorationsartikel. Vielleicht ist Kitsch wirklich nur dann richtiger Kitsch, wenn die Leute gar nicht wissen, dass es Kitsch ist. Denn nur dann werden sie ihre Sehnsüchte völlig frei da reinprojizieren, ohne Humor und ohne Brechung. Also, wenn jemand diese Brechung schon erkannt hat, und den Kitsch.,

Früher hatte der Kitsch den Ruf, reaktionär und konservativ zu sein, jedenfalls war er nicht radikal, nicht gesellschaftskritisch, sondern bewegte sich mit Hingabe im konservativen Mainstream. Das ist heute nicht mehr so. Heute ist vielmehr die Kritik am Kitsch selber schon zur Konvention geworden, also zum Mainstream. Deshalb entstand Raum, den Kitsch gerade als aufklärerisches Stilmittel zu benutzen.

Das begann zunächst in der Kunstszene. Seit Ende der achtziger Jahre begannen Künstler wie Jeff Koons oder das Fotografenpaar Pierre et Gilles zunehmend mit Elementen des Kitsch zu arbeiten. Statt die Sentimentalität des Kitsches zu kritisieren und ihr harte, minimalistische Stilmittel entgegenzusetzen, haben sie den Kitsch vereinnahmt, sie haben ihn zugleich lächerlich gemacht und ernst genommen.

Eine Freundin von mir, die Künstlerin ist und überhaupt nicht religiös, hat vor einigen Jahren auch solche Madonnenbilder verarbeitet. Was sie fasziniert hat, war gerade das Absurde dieser Figur, dieser Jungfrauengeschichte, das Absurde der Marienfrömmigkeit. Die katholische Kirche mit ihren Wallfahrten hielt sie für scheinheilige Geldmacherei und hat deshalb angefangen, sich selbst als Madonna zu inszenieren und sich so fotografieren lassen. Oder sie hat Männer als Madonna verkleidet posieren lassen. Und sich so auf künstlerische Weise mit einem Frauenbild auseinander gesetzt, das für unsere Welt sehr prägend ist. Das heißt, Kitschelemente waren hier Ausdruck von Kritik.

Und heute sind wir noch einen Schritt weiter, denn die kitschige Inszenierung religiöser Themen, die ursprünglich als kritische, künstlerische Auseinandersetzung mit scheinheiliger Frömmigkeit gemeint war, ist inzwischen selbst Massenware geworden. Und wenn man Kitsch als eine schlechte Vervielfältigung von Kunst definiert, dann ist der derzeitige Religionskitsch also der potenzierte Kitsch, die Verkitschung des Kitsches.

Was mir daran besonders gefällt ist die Widerständigkeit, die der Kitsch gegen seine Vereinnahmung zeigt. Es ist offenbarer Blödsinn, nach »echtem Kitsch« zu fahnden, denn der Begriff der Echtheit widerspricht dem des Kitsches schon an sich. Kitsch ist immer Massenproduktion, und insofern ist es unmöglich, Kitsch gewissermaßen künstlerisch zu »machen«. Kitsch ist nur dann Kitsch, wenn er massenweise nachgefragt wird. Wenn Kitsch Seltenheitswert gewinnt, wie etwa kitschige Möbelstücke vergangener Zeiten, dann wird er zum Sammlerstück, wird sozusagen »ernsthaft« und ist dann kein Kitsch mehr. Wenn Gartenzwerge so was von altmodisch sind, dass niemand sie mehr sich in den Garten stellt, aber ein exzentrischer Avantgardist gerade deshalb einen hat, ist das auch kein Kitsch mehr. Und wenn zeitgenössische Künstler die Sprache des Kitsches zitieren, dann schaffen sie deshalb noch lange keinen Kitsch, sondern doch Kunst. »Es hilft nichts«, schrieb deshalb mal ein Kunstkritiker, »echter Kitsch kommt nicht aus der Werkstatt des Künstlers, sondern aus den Produktionshallen der Kitschindustrie«.

Das Dilemma sieht also folgendermaßen aus: Kitsch, der wirklich ernst gemeint ist, der nicht das leiseste Augenzwinkern und ironische Brüche kennt, ist wirklich dumm und gefährlich. Wenn aber der Kitsch schon als solcher enttarnt wurde, ist es eigentlich kein »richtiger« Kitsch mehr.

Es ist also notwendig, einen Mittelweg zu finden. Den Kitsch ernst zu nehmen und gleichzeitig doch nicht ernst. Mir gelingt das persönlich ziemlich gut, aber wenn ich es erklären soll, dann funktioniert das nicht. Ich habe aber bei der Volksfrömmigkeit und ihrer Liebe zum Kitsch, wie ich sie etwa in Brasilien kennen gelernt habe, den Eindruck, dass ihr das auch gut gelingt. Und auch Nina Hagen mit ihrer Version des Ave Maria. Ich schlage vor, wir hören es jetzt noch einmal gemeinsam und bewusst und überlassen uns dabei dem Fließen von Assoziationen und Emotionen, bevor ich dann mit einigen Schlussbemerkungen zum Ende komme.

[Lied: Nina Hagen: Ave Maria]

Dann könnten alle Völker Freunde sein … Vielleicht ist es eben in der Tat einfach eine Sehnsucht, die sich in meiner Liebe zum Kitsch ausdrückt. Sehnsucht bedeutet ja, dass etwas gleichzeitig da ist und doch nicht da ist. Etwas ist da in meinem Wunsch danach, in meinem Begehren, und gleichzeitig nicht da, denn sonst müsste ich es ja nicht begehren. Genauso wie der Kitsch gleichzeitig da ist, aber doch nicht ganz da sein darf, wenn er Kitsch bleiben will. Oder wie das Reich Gottes, das erst am Ende der Zeit kommt, aber doch schon mitten unter uns ist.

So erlaubt es der Religionskitsch den Menschen, auf der einen Seite ihre unbewussten und unartikulierten religiösen Sehnsüchte auszuleben und gleichzeitig doch als Tabubrecher aufzutreten, ihre Abneigung gegen das offizielle Kirchentum zu manifestieren.

Die Leute können sich diese kitschigen Jesusbilder ins Zimmer stellen, weil es einfach schick ist, und heimlich können sie dann doch noch religiöse Gefühle entwickeln, ohne dass es auffällt. Es sind sozusagen Jesusbilder, die säkular, also weltlich funktionieren, weil sie ja als Kitsch die ganze Sache ein bisschen veralbern, und trotzdem kann man heimlich noch religiöse Gefühle entwickeln und ohne dass man in die Kirche gehen oder in der Bibel lesen muss, ohne dass man sich zu etwas bekennt.

Wer ist frommer? Die bayrische Landwirtin, die jeden Tag zu ihrer Kitsch-Madonna auf dem Kaminsims betet? Oder der bildungsbeflissene Atheist, der die Wallfahrtsorte abklappert auf der Suche nach besonders schönen, originalen Kitsch-Maddonnen? Wir können das nicht wissen. Vielleicht drückt sich die Bäuerin mit ihrer inbrünstigen Beterei nur vor den wirklichen Herausforderungen des Christentums, während der Athesist über sein Interesse an der Kitsch-Madonna eine Tür geöffnet findet zu etwas Höherem, Transzendentem, zu Gott. Vielleicht ist es aber auch genau andersherum.

Vielleicht steckt hinter dem Wunsch, das WG-Zimmer mit Jesusbildern zu dekorieren, eine religiöse Sehnsucht, vielleicht aber auch nicht. Jedenfalls ist es ja auffällig, dass gerade kirchenferne Menschen sich vom Religionskitsch angezogen fühlen. Vielleicht erinnert es manche von ihnen an ihre Großeltern, wenn etwa die Großmutter solche Symbole noch im Zimmer hatte, aber die 68er Eltern sich dann von der Religion abgewandt haben. Das gute daran ist: Es kommt eben auf die persönliche Haltung zu den Figuren an – und wer weiß, ob nicht eine Madonnenstatue, die eigentlich nur als Dekoration gekauft wurde, vielleicht in Momenten existenzieller Lebenskrisen doch zur Fürsprecherin und Mittlerin werden kann

Kitsch als Massenware entzieht sich jedenfalls der Aufsicht von Theologen und kirchlichen Hierarchien. Was produziert wird, entscheidet der Markt. Deshalb gibt es längst Firmen, die Unterwäsche mit Maria- und Jesus-Aufdrucken verkaufen. Was sich gut verkauft, das wird eben auch hergestellt. Auf religiöse Gefühle nimmt der Markt keine Rücksicht, der Kitschjesus ist eine Ware unter vielen, und er wird ebenso in die Ecke geschmissen, wenn er sich nicht verkauft, wie andere Ladenhüter.

Und da im Kommerz ist der Religionskitsch auch ganz gut aufgehoben. Fatal wäre es jedenfalls, wenn die Kirche jetzt einfach auf den trendigen Siegeszug des Kitsches aufspringen würde. Das wäre total unglaubwürdig. Es ist aber auch nicht nötig, gleich »Blasphemie« zu schreien, wenn fromme Symbole als Dekoration oder Ramsch dienen.

Meine Freundin, die Pfarrerin und Kitsch-Liebhaberin, schlägt stattdessen vor, einfach selber im Zweifelsfall eine respektvolle Haltung einzunehmen und vorzuleben. Dazu hat sie ein Beispiel erzählt. Sie hatte für ihren Kirchenladen in einem Trödelladen alte Seidenfahnen gekauft, mit Darstellungen der Heiligen Familie und einer Mariendarstellung mit diesem durchbohrten Herz, wo ein Messer im Herz steckt, als Ausdruck des Schmerzes, und wollten sie dort aufhängen. Aber diese Fahnen waren ziemlich verstaubt und bisschen fleckig, und meine Freundin sagt, sie hatte das Gefühl, sie kauft die jetzt frei, sie erlöst die jetzt, und sie freute sich, dass sie in eine Kirche zurückkommen.

Weil die Fahnen in einem sehr schadhaften Zustand waren, hat sie die alle fein säuberlich aufgetrennt und gewaschen und gebügelt und alles wieder zusammengenäht, und diese Arbeit war für sie wie Gottesdienst, sagt sie. Es hat ihr ganz viel Freude bereitet und sie sagt, es war ihr auch was Heiliges, in gewisser Weise. Sie habe noch nie was so sorgfältig gebügelt, wie diese Seidenfahnen.


Vortrag am 25.10.2005 im Frauensalon des Ev. Kirchenkreises Unna