Antje Schrupp im Netz

Freiheit braucht Liebe

Vortrag am 27.1.2009 in der VHS Schwäbisch-Gmünd und am 1.6.2012 bei einem Frauensalon in Biebesheim

Öffentlich über Liebe zu sprechen, ist heutzutage schwierig. Freiheit und Liebe sind verbrauchte Worte, um eine Formulierung der Philosophin Chiara Zamboni zu benutzen. Sie werden für alles und nichts verwendet, sind verkitscht, instrumentalisiert, zu Platzhaltern geworden für leere Versprechungen und dumme Phrasen.

Dass ich sie dennoch verwende, liegt daran, dass ich für das, was ich sagen will, keine besseren Begriffe gefunden habe. Zum anderen hoffe ich, dass wir diese beiden Wörter wiederbeleben und in den politischen Diskurs zurückführen können, wo sie dringend benötigt werden.

Und zwar aus zwei Gründen, wie ich meine.

Der erste Grund ist das Scheitern der gegenwärtigen Politik der Rechte oder gar des noch unpersönlicheren »freien Marktes«. Gegenwärtig wird ja diskutiert, wer wen kontrollieren muss, ob wir mehr Politik in der Wirtschaft brauchen, während bis vor kurzem die Wirtschaft Vorrang gegenüber der Politik hatte. Doch das ist eine falsche Alternative. Ich meine, weder Politik, so wie wir sie derzeit verstehen, noch die freien Kräfte des Marktes sind zukunftsfähig.

Das bringt mich zu meinem zweiten Punkt, nämlich der von Soziologen beobachten Renaissance romantischer Liebesvorstellungen und dem Wunsch vieler junger Menschen, vor allem Frauen, wieder zurück in heimelige Beziehungswelten zu gehen. Dies halte ich für einen sehr verständlichen Wunsch, der jedoch gefährlich ist, solange diese liebenden Beziehungswelten als unpolitisch verstanden werden, als Abkehrung von der Welt.

Deshalb möchte ich zeigen, dass die beiden Dinge zusammen gehören: Freiheit und Liebe.

Es gibt in unserer Kultur die starke Denkfigur, dass Freiheit und Liebe eigentlich nicht zueinander passen, sich womöglich sogar gegenseitig ausschließen. Man hält die Liebe für etwas, das in der Öffentlichkeit nichts verloren hat. Liebe ist kein politisches Argument.

Gleichzeitig soll, wem seine Freiheit am Herzen liegt, sich möglichst nicht »binden«. Dies ist das Bild des lone and lonesome Cowboy, der sich unbelastet von privaten Verpflichtungen, für die Freiheit in der Welt einsetzt. Es ist offensichtlich ein stark männerlastiges Bild, denn es sind die Frauen, die die Helden durch ihre heimelige Küche in Versuchung führen. Diese Gefahr haben jedenfalls Revolutionäre zu allen Zeiten an die Wand gemalt. Und doch ist es ein Bild, das heute auch für Frauen gilt. Denn: Wenn Frauen zu sehr lieben, ist ihre Emanzipation in Gefahr, wie uns der Titel eines Bestsellers verkündet. Der Cowboy und die emanzipierte Frau haben die Wahl: Entweder sie folgen ihrer Liebe und ziehen sich ins traute Heim zurück, oder sie ziehen hinaus in die Welt, erfolgreich und aktiv, aber einsam.

In meinem Bild hingegen sind Liebe und Freiheit keine Gegensätze, sondern brauchen sich gegenseitig. Und zwar braucht nicht nur die Liebe die Freiheit – das haben wir durch die Frauenbewegung, die den Skandal der weiblichen Unfreiheit, die in patriarchalen Liebesbeziehungen herrschte, ja zum Thema gemacht hat, bereits gelernt. Sondern noch wichtiger ist es andersherum: Freiheit braucht Liebe.

Damit meine ich nicht, wie heute öfter gesagt wird, dass die Freiheit angeblich ausgeufert sei und irgendwie, möglicherweise durch die Liebe, eingehegt und begrenzt werden müsse. Das ist in letzter Zeit ja wieder vermehrt zu hören, besonders im Hinblick auf das Freiheitsbestreben der Frauen, dem man vorwirft, die Liebe untergraben und die Menschen unglücklich gemacht zu haben. Darüber zu lamentieren, dass uns heute angeblich die Liebe fehlt, ist vor allem in konservativen Feuilletons en vogue, und nicht zufällig richtet sich dieser Appell zuerst an die Frauen, denen die westliche Kultur die Rolle der Hüterinnen der Liebe zugewiesen hat.

In diesen Chor möchte ich ausdrücklich nicht einstimmen. Wer sagt, wir hätten zu viel Freiheit und zu wenig Liebe, bekräftigt ja wieder den Gegensatz, den ich gerade bestreite. Wir haben nicht zu viel Freiheit, sondern zu wenig.

In meiner Erzählung hätten der Lonely Cowboy und die emanzipierte Frau am Ende des Films sich nicht zwischen häuslichem Rückzug in die Liebe und einsamem Kampf für die Freiheit zu entscheiden. Sondern sie würden merken, dass gerade die Liebe es ihnen überhaupt ermöglicht, in der Welt für freiheitliche Ideale einzutreten. Die Liebe fesselt nicht ans Haus, sie macht im Gegenteil stark, um für eine bessere Welt hinaus in die Öffentlichkeit zu ziehen.

Als Zeugen rufe ich dabei zunächst einmal die antiken Philosophen an. Denn unsere Vorstellung, dass Liebe und Freiheit einander entgegengesetzt seien, ist vergleichsweise jung. Sie ist ein Kind der Moderne. Vorher, und diese Entdeckung hat mich, zumindest in dieser Deutlichkeit überrascht, ist der Zusammenhang von Liebe und Freiheit ein im Bereich der politischen Theorien viel diskutiertes Thema gewesen.

Aristoteles etwa preist die Liebe geradezu als sozialpolitische Maßnahme an – Liebende sorgen in schlechten Zeiten füreinander. Die Liebe, schreibt Aristoteles, bietet Hilfe bei Armut oder im Alter. Sie ist es, die die Polisgemeinden zusammen hält und die Gesetzgeber dazu bringt, sich um Gerechtigkeit zu bemühen.

In den deutschen Übersetzungen ist hier freilich meist nicht von Liebe, sondern von Freundschaft die Rede. Doch das griechische Wort philia hat einen durchaus leidenschaftlichen, begehrenden Aspekt, freilich nur unter Männern, denn Aristoteles hielt wie viele seiner Zeitgenossen Frauen für minderwertig und schloss sie von der Polis, der Politik und der Öffentlichkeit, aus.

Über das schwierige Zusammenspiel zwischen Liebe und Freiheit wurden ganze Dramen geschrieben, etwa Shakespeares Tragödie Julius Caesar, die sich mit dem Dilemma des Brutus beschäftigt. Er muss politisch gegen einen Menschen vorgehen, den er liebt, und ihn am Ende sogar ermorden. Dass Liebe und Freiheit im Handeln des Brutus auseinanderfallen, auseinanderfallen müssen, schildert Shakespeare als echtes Problem, als wirkliche Tragödie, mit einem schlechten Ende, nicht nur für Julius Caesar, sondern auch für Brutus und für das Römische Reich.

Dies sind nur zwei vergleichsweise zufällige Beispiele. Die ganze vormoderne politische Diskussion ist durchzogen von Reflektionen über den zwar durchaus schwierigen, aber eben immer vorhandenen Zusammenhang von Freundschaft und Politik, von Liebe und Freiheit also. Der einzige Grund, warum uns das nicht ins Auge fällt ist der, dass wir gleichgeschlechtliche Beziehungen unter Männern nicht mehr als »Liebesbeziehungen« identifizieren, weil wir Liebe auf den sehr engen Bereich intimer Paarbeziehungen reduziert haben.

Vielleicht muss ich nun doch ein Wort dazu sagen, was ich unter Liebe verstehe. Das Problem ist, dass sich Liebe nicht definieren lässt, denn sie existiert nicht abstrakt, sondern nur im konkreten Fall. Wir haben uns allerdings angewöhnt, Regeln für das aufzustellen, was wir als »richtige« Liebe gelten lassen, zum Beispiel, dass sie heterosexuell ist, dass dabei Sexualität nicht nur eine Rolle spielen kann, sondern auch praktiziert werden muss, wenn es richtige Liebe sein soll, dass Liebe unvergänglich ist und so weiter. Fast alle Bücher über die Liebe versuchen eine Kategorisierung – unterscheiden etwa zwischen Paarliebe, Mutterliebe, Selbstliebe oder zwischen Verliebtsein und »reifer« Liebe und so weiter. Natürlich haben all diese Unterscheidungen eine gewisse Plausibilität, ich glaube aber, dass sie unser Nachdenken über Liebe eher behindern als fördern. Denn ich glaube, dass der eigentliche »Kern« der Liebe bei allen ihren Erscheinungsformen derselbe ist.

Eine schöne Beschreibung dafür habe ich in Annemarie Schwarzenbachs Erzählung »Eine Frau zu sehen« aus dem Jahr 1930 gefunden. Die Erzählerin beschreibt, wie sie im Fahrstuhl einer unbekannten Frau begegnet: »Ich erstaune vor der schönen und leuchtenden Kraft ihres Blickes, und nun begegnen wir uns, eine Sekunde lang, und ich fühle unwiderstehlich den Drang, mich ihr zu nähern, herber, schmerzlicher noch, dem ungeheuren Unbekannten zu folgen, das sich wie Sehnsucht und Aufforderung in mir regt.«

Liebe ist eine Art und Weise, sich in Beziehung zu setzen, und zwar eine, die nur teilweise etwas mit dem Verstand und der Vernunft zu tun hat. Sie ist eine Folge unseres Begehrens, das für uns selbst nur teilweise verfügbar ist, deshalb wurde früher, als darüber noch diskutiert wurde, häufig auch gesagt, dass man Liebe erleidet, sich ihr hingeben muss. Liebe ist kein Gefühl, sondern ein Ereignis, wie Hannah Arendt es formuliert hat, und Annemarie Schwarzenbach es so poetisch schildert.

Liebe heißt nicht, jemanden oder etwas sympathisch oder nett zu finden, sondern sich in eine begehrende Beziehung dazu setzen, was mit Emotionen, mit körperlichen Erregungen, vor allem aber mit Interesse zu tun hat im wörtlichen Sinn von Inter-Esse, es ist etwas zwischen uns, das uns, obwohl wir zwei sind, verbindet. Es gibt eine Verbindung zwischen mir und ihr, zwischen mir und ihm – ein Band, das den undefinierbaren Namen »Liebe« trägt und das dieser Beziehung einen bestimmten Charakter gibt.

Meine Frage ist nicht: Wie fangen wir an, zu lieben? Denn ich behaupte, wir alle lieben sowieso, weil Liebe sich immer ereignet. Meine Frage ist vielmehr: Wie gehen wir mit diesem Ereignis um? Wenn uns so etwas geschieht, wie der Frau in Schwarzenbachs Erzählung: Dass wir einer schönen und leuchtenden Kraft begegnen, dass wir erstaunt sind und den unwiderstehlichen Drang fühlen, uns ihr zu nähern: Was machen wir dann? Nehmen wir das ernst? Haben wir das politisch auf dem Radar? Gewinnen wir daraus Freiheit, Mut und Stärke? Oder halten wir das für eine Nebensächlichkeit, eine Versuchung, gar eine Schwäche?

Die Liebe, die sich ereignet, ist gestaltbar, auch wenn wir sie nicht in der Hand haben. Liebe kann sich auf andere Menschen richten, aber im Übrigen auch auf Dinge, auf Länder, auf die Heimat, auf Werke, auf Gott. Sogar auf unsere Feinde, um eine andere große Denkschule zu zitieren, für die die Liebe eine Vorbedingung der Freiheit war, das frühe Christentum.

Eine Liebesbeziehung ist niemals formalisierbar, niemals in Rechtsbegriffen zu fassen, ihre Dauer ist ungewiss und sie ist doch verbindlich, sie setzt Energien frei und ist eine große Motivation, und vor allem eine Motivation dazu, Differenzen nicht als Graben, als Grenze zu sehen, sondern sie überbrücken zu wollen. »Dem ungeheuren Unbekannten zu folgen«, wie Annemarie Schwarzenbach schreibt.

Gerade dieser Aspekt der Liebe ist es, der heute wichtiger denn je ist, wo wir angesichts einer globalisierten Welt mit der Frage der Differenzen auf politischem Gebiet so sehr zu kämpfen haben. Die Frage, wie universale Werte zusammengehen könnten mit kulturellen Differenzen ist ja die große ungelöste Frage unserer Zeit, und die Antworten, die gegeben werden, bewegen sich immer auf der Ebene der Ausbalancierung, des Mehr oder Weniger: Wo dürfen die »Anderen« ihre Eigenart behalten und wo müssen sie sich den »allgemeinen« Regeln anpassen? Aus der Perspektive der Liebe stellt sich die Frage anders: Wo finden wir die anderen so erregend, faszinierend, herausfordernd, dass wir gerne eine Beziehung zu ihnen haben möchten, obwohl unsere Interessen gegensätzlich sind und wir ihre Meinungen nicht teilen?

Ich glaube, diese Frage ist heute wichtiger geworden, als sie früher war, weil wir heute weniger als früher gezwungen sind, uns mit den Anderen überhaupt abzugeben. Die neuen Informationstechnologien machen es möglich, uns nur noch mit Gleichgesinnten zu umgeben. Früher bekamen wir die ganze Zeitung geliefert, inklusive all jener Themen und Berichte, die uns gar nicht interessieren, wie Fußballergebnisse oder neue Forschungen der Astralphysik. Heute können wir Newsgroups im Internet abonnieren, die uns nur jene Nachrichten in die Eingangsbox spülen, die auf unser Interessensgebiet passen. Wir leben nicht mehr in kleinen Dörfern, wo wir uns notgedrungen auch mit Leuten auseinandersetzen müssen, deren Lebensstil und Lebenshaltung dem unseren völlig konträr sind. Heute leben wir in großen Städten und sind geografisch mobil, sodass wir uns nur mit Unseresgleichen abzugeben brauchen. Wir diskutieren in Mailinglisten mit den Leuten, die eine ähnliche Meinung vertreten. Und bevor wir uns mit einem möglichen Beziehungspartner überhaupt nur treffen, haben wir schon all jene Kriterien ausgeschlossen, von denen wir meinen, sie kämen für uns nicht in Frage: Das falsche Einkommen, das falsche Gewicht, der falsche Beruf. Toleranz kann in dieser Situation nicht mehr die Gemeinsamkeit stiftende Tugend sein, denn von den »Anderen« erfahre ich ja nur noch medial vermittelt, konkret kommen sie in meinem Leben immer seltener vor.

Es gibt eine schöne Geschichte in dem Buch Jauche und Levkojen von Christine Brückner, die das anschaulich macht. Darin beschreibt sie das Leben in Pommern vor dem Zweiten Weltkrieg auf einem abgelegenen Gut. Dort lebt zurückgezogen ein alleinstehender Mann, der Gutsinspektor. Und jede Hauslehrerin, die auf dieses Gut kommt, verliebt sich in ihn. So ein geringes Angebot an möglichen Liebespartnern erscheint uns heute absurd, wo wir im Internet das Profil von tausenden Kandidaten durchstöbern können und dann den herauspicken, der am besten unseren Anforderungen entspricht.

Wenn unser künftiger Liebespartner hundertprozentig zu uns passt, so bilden wir uns ein, dann werden wir ihn auch lieben. Eine Logik, die sich nicht sonderlich von der Praxis der arrangierten Ehen in anderen Kulturen unterscheidet, wo die Eltern sich ja auch bemühen, einen möglichst »passenden« Kandidaten zu finden. Und wenn die Profile hundertprozentig zueinander passen, so meint man hier wie dort, ist Liebe eigentlich nicht mehr nötig, denn das eigene Interesse, das perfekte Zusammenspiel, ist doch Motivation genug.

Das befreiende und erregende an der Liebe ist aber doch, dass sie eine Beziehung jenseits von nützlichen Gründen, gemeinsamen Interessen und dergleichen stiften kann. Oder, wie das Beispiel der Hauslehrerinnen in Ostpommern zeigt: Je kleiner das Angebot an »passenden« Beziehungsobjekten ist, desto offener sind wir dafür, uns auch in ein »unpassendes« zu verlieben.

Damit will ich nicht sagen, dass die Lage der Hauslehrerinnen in Ostpommern ein idealer Fall ist. Sicher ist es schön, wenn in der Liebe auch Interessen und Nützlichkeiten zusammenfallen. Es ist aber dann schwerer, zu merken, wenn das Eigentliche der Liebe, die Offenheit für das Andere, das wirkliche Inter-Esse an der Person (und nicht in ihrem Nutzen für mich) fehlt. In der Literatur kennen wir das von dem alten Dilemma der Reichen: Liebt sie mich wegen mir? Oder weil ich mal die Fabrik erbe?

Das Problem ist, dass das heute offenbar viele gar nicht mehr als ein Dilemma sehen. Was soll so schlimm daran sein, wenn ich wegen meines Nutzens geliebt werde? Ist das nicht ein verlässlicheres Band als diese vage Erregtheit, dieses unkalkulierbare Ereignis der Liebe?

Eine großartige Abhandlung zu diesem Paradoxon, das genau den Spannungspunkt zwischen Liebe und Freiheit markiert, hat übrigens Platon geschrieben. In seinem »Phaidros« behandelt er die interessante Frage, ob wir unsere Gunst einem Bewerber schenken sollen, der in uns verliebt ist, oder lieber demjenigen, der die vernünftigsten Gründe für eine Beziehung anführt. Sokrates plädiert hier in einer Hommage an Eros für den »Rausch« des Verliebtseins, der gegenüber der nutzenrationalen Betrachtung die bessere Wahl sei, jedoch mit einer Bedingung: Dass nämlich dieser erotische Rausch seine Ursache nicht in den körperlichen Trieben hat, sondern »durch göttliche Schickung entsteht«.

Damit weist Platon auf einen Faktor hin, der für die Liebe in der Tat wichtig ist, wenn sie Freiheit ermöglichen soll: die Transzendenz. Denn das ist der Grund für die Unverfügbarkeit der Liebe. Dieses Ereignis, dass wir lieben oder geliebt werden, ist nicht einfach nur ein banaler Zufall oder gar ein Ausstoß irgendwelcher Hormone oder Triebe, sondern es verweist auf etwas Jenseitiges, eine Transzendenz, auf Gott – auf einen Maßstab also, über den wir immanent, innerweltlich nicht verfügen können. Wo geliebt wird, weht der Heilige Geist, könnte man sagen.

Jene Institution hingegen, die wir heute im Allgemeinen als selbstverständlichen Ort der Liebe denken, nämlich die Ehe, spielte in der antiken und vormodernen Debatte über die Liebe überhaupt keine Rolle. Die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lebens- und Wirtschaftsgemeinschaft zwischen einem Mann und einer Frau hat nach damaliger Vorstellung mit Liebe aber auch gar nichts zu tun – und das ist auch logisch, denn die Ehe ist ja ganz offensichtlich eine Zweck- und Interessensgemeinschaft und als solche auf Liebe nicht angewiesen. Es gibt aus früheren Jahrhunderten regalweise Abhandlungen darüber, warum Ehe und Liebe nicht zusammenpassen und nichts miteinander zu tun haben, und häufig wurde das dann noch erweitert dahingehend, dass die Autoren meinten, dass Frauen und Männer sich nicht lieben könnten oder, noch genauer: dass Frauen nicht liebenswert seien.

Dies änderte sich jedoch mit der Moderne, und im Bezug auf die Liebe ergab sich im 18. Jahrhundert eine wichtige Verschiebung: Spätestens seit der Romantik wurden Frauen in den Liebesdiskurs integriert. Erstmals wurden Frauen nun auch in einem männlichen Diskurs als Gegenüber in Betracht gezogen, als liebenswert, als interessant, als Objekt des männlichen Begehrens, und zwar nicht nur innerhalb der Ehe, sondern auch in außerehelichen Beziehungen, das nannte man dann »platonische« Liebe. Auf Platon komme ich gleich noch. Aber es entstand nun auch die Idee, dass Mann und Frau in der Ehe nicht nur gemeinsam wirtschaften, Kinder zeugen und allgemein ihr Leben organisieren sollen, sondern dass sie sich auch lieben.

Allerdings passierte gleichzeitig etwas geradezu Tragisches. Denn die damals neu entstehenden demokratischen Ideen schlossen trotzdem die Frauen aus dem Bereich des Politischen aus. Man könnte es auch so sagen: im selben Moment, in dem die Liebe heterosexuell wurde, wurde die Politik männlich-homosexuell. Und damit begann der Abstieg der Liebe in den Bereich des Privaten, ihr Ausschluss aus der Öffentlichkeit, so entstand die Idee, dass Liebe und Politik nichts miteinander zu tun hätten. Und in diesem Konglomerat entstand dann eine höchst verhängnisvolle Idee, die die Bedeutung der Liebe vollkommen auf den Kopf stellte: Nämlich die Vorstellung von der Liebe als Verschmelzung, als Eins-Werden.

Dies war vermutlich notwendig, um die merkwürdige Spaltung zwischen Hochschätzung der Frauen als Liebespartnerinnen auf der einen Seite und ihrer gleichzeitigen politischen Entrechtung auf der anderen zu legitimieren: Denn nur wenn Mann und Frau in der Ehe eins werden, ist es zu rechtfertigen, dass die Frau politisch nicht in Erscheinung treten darf. Wenn das Paar als Einheit gedacht wird, braucht es im öffentlichen Bereich der Politik nur einen einzigen Repräsentanten: den Mann.

Für die Liebe hatte das fatale Folgen. Sie gilt seither nicht mehr als eine Beziehung unter Verschiedenen, sondern im Gegenteil die Aufhebung und Auslöschung jeglicher Differenz.

Es geht mir nicht um die Frage, wer Schuld an dieser Entwicklung hat und wie genau es dazu gekommen ist, obwohl es interessant wäre, dies einmal genauer zu untersuchen. Wichtig ist an dieser Stelle, welche Folgen sich aus diesem Dualismus ergeben.

Der öffentliche Bereich der Politik, in dem die Liebe nun keine Rolle mehr spielte, entwickelte sich nämlich nun hin auf eine Theorie der Rechte. Nicht die konkrete Beziehung, sondern ein abstraktes, übergeordnetes und von der konkreten Situation gerade absehendes Recht sollte von nun an die Beziehung unter Verschiedenen regeln. Sicher hatte diese Entwicklung wichtige positive Seiten und Aspekte, die ich keinesfalls leugnen möchte: In einem Rechtsstaat zu leben schränkt Abhängigkeits- und Herrschaftsverhältnisse ein. Die Idee der Gleichheit brachte die Idee der Menschenrechte und des Schutzes von Minderheiten hervor und so weiter. Ich muss das nicht näher ausführen, denn wir sind hier wohl alle einer Meinung. Die von mir vorgeschlagene und befürwortete Rückkehr der Liebe in die Politik soll keinesfalls ein Gegenmodell zu den Errungenschaften der Moderne sein.

Worum es mir geht ist vielmehr, zu zeigen, dass durch die einseitige Fokussierung auf die Rechte ein Problem auftrat, das mit der Logik der Rechte alleine nicht zu lösen ist, nämlich der Umgang mit der Ungleichheit. Die Logik der Rechte muss von der Gleichheit aller Menschen ausgehen, das ist ihre Voraussetzung. Allerdings ist diese Gleichheit aller Menschen ja nur eine abstrakte Annahme, eine Vereinbarung, und keineswegs die Realität. Die reale Ungleichheit der Menschen bleibt bestehen. Die moderne Lösung dafür war, diese Ungleichheit quasi in die häusliche Verantwortung der Frauen zu geben, das Ganze als vorpolitischen Bereich zu definieren und sich darauf zu verlassen, dass die Frauen es schon irgendwie organisieren und lösen.

Eine Zeitlang hat das auch mehr oder weniger funktioniert, allerdings um den Preis der Unfreiheit der Frauen. Diese Zeiten sind heute aber zu Ende. Die Emanzipation der Frauen im 20. Jahrhundert hat eine grundlegende Veränderung der Institution der Familie nach sich gezogen, die wir, so meine ich, in ihren Auswirkungen noch nicht richtig erfasst haben. Frauen gelten heute als Gleiche der Männer, haben also gleichberechtigten Zugang zur Sphäre des Politischen, sofern sie sich an die männlichen Spielregeln, die dort herrschen anpassen.

Allerdings lässt dies auf der anderen Seite die Frage offen, was nun mit jenem anderen Bereich geschieht, wenn die weibliche Gratis- und Liebesarbeit dort nicht mehr im selben Maß zur Verfügung steht. Das Problem fällt ja sozusagen unter Schlagworten wie Bildungskrise, Pflegenotstand, Werteverlust und dergleichen täglich aus den Zeitungsspalten. Feministische Wissenschaftlerinnen haben diese Frage auch längst erforscht und Vorschläge erarbeitet, die leider im allgemeinen Mainstream wenig zur Kenntnis genommen werden. Das Ergebnis ihrer Forschungen läuft bei allen Unterschieden im Detail immer wieder darauf hinaus, dass dieser damals als »unpolitisch« definierte Bereich der gegenseitigen menschlichen Fürsorge in der Logik der Rechte nicht organisiert werden kann. Denn wenn es um die Sorge für Kinder, für Kranke für Alte, die Sorge um die körperlichen Bedürfnisse der Menschen geht, haben wir es, wenn man so will, mit der Verwaltung der menschlichen Hilfsbedürftigkeit zu tun. Es geht um die Beziehung zwischen Ungleichen: Mutter und Kind, Alt und Jung, Gesund und Krank. Und für die Beziehung zwischen Ungleichen kann die Politik der Gleichheit und der Rechte keine Antworten haben.

Ich würde es zuspitzen: Zwischen Ungleichen kann nur die Liebe ein Band herstellen, das über Nützlichkeitserwägungen hinausführt. Deshalb ist sie so grundlegend für unsere Freiheit.

Was wir lernen müssen zu denken (und das ist der erste Schritt, um es dann auch in politische Maßnahmen zu gießen) ist folgendes: Der Mensch ist nicht dann frei, wenn er autonom, eigenverantwortlich, unabhängig ist. Der Mensch ist ein grundlegend bedürftiges Wesen. Seine Freiheit muss also eingebunden sein in Beziehungen. Wie müssen Beziehungen sein, damit in ihnen Bedürftigkeit und Freiheit zusammengehen? Damit die Hilfe, die wir von anderen erhalten, uns nicht mehr das Gefühl vermittelt, unfrei zu sein?

Dies ist ja eine große Sorge vieler alter Menschen, die befürchten, ihre Autonomie zu verlieren, wenn sie hilfs- oder gar pflegebedürftig werden. Wir diskutieren das Thema im Rahmen von Pflichten und Moral. Doch wir wissen alle, wie schal Hilfe ist, wenn sie nur auf Pflichtbewusstsein und moralischen Ansprüchen basiert. Wie wäre es, wenn wir die Beziehungen zwischen den Generationen nicht moralisch diskutierten, sondern als Liebesbeziehungen?

Vielleicht muss ich an dieser Stelle doch noch ein paar Worte dazu sagen, was ich unter Freiheit verstehe. Obwohl sich Freiheit ebenso wenig definieren lässt, wie Liebe. Aber ich kann sagen, was Freiheit nicht ist, auch wenn wir uns angewöhnt haben, beides zu verwechseln. Freiheit ist nicht gleichbedeutend mit Freiwilligkeit. Freiwilligkeit, also die Abwesenheit von Zwang, bedeutet nämlich lediglich, unter vorgegebenen Alternativen mir diejenige auszusuchen, die mir am besten gefällt. Freiheit hingegen bedeutet die Offenheit für das, was noch nicht da ist, was mir noch nicht zur Auswahl gestellt wird, was ich vielmehr mit meinem Begehren überhaupt erst in die Welt bringe. Wenn Sie so wollen ist das der Unterschied zwischen einem Computermenü und einem leeren Blatt.

Es gibt heute aber einen starken Trend, sich mit der Freiwilligkeit zufrieden zu geben. Zum Beispiel in der Liebe: Wir meinen, wir wären in der Liebe schon frei, bloß weil wir nicht zwangsverheiratet werden, sondern uns unseren Partner, unsere Partnerin selbst aussuchen. Aber merkwürdigerweise wählen wir dann bei aller Freiwilligkeit doch nur selten das Falsche, das Unvernünftige, das Neue und Andere.

Mit der Verwechslung von Freiheit und Freiwilligkeit geht ein anderer Irrtum einher, nämlich die Vorstellung, Freiheit sei die Abwesenheit von Zwang. Aber ich kann auch als freier Mensch durchaus zu etwas gezwungen sein. Nicht, weil Recht und Gesetz oder die Mode oder der Mainstream mich dazu bringen, freiwillig in das einzuwilligen, was von mir erwartet wird. Sondern insofern ich in der Realität, in der Welt, so wie ich sie vorfinde, eine Notwendigkeit erkenne. Das klassische Beispiel ist die Mutter, die sich um ihr Kind kümmern muss, und die doch ein freier Mensch ist. Sie muss sich nicht um das Kind kümmern, weil andere sie dazu zwingen, weil es ihre Pflicht ist oder weil es gar ein Gesetz dafür gibt, sondern schlicht deshalb, weil die Logik der Situation es erforderlich macht und sie das erkennt.

Es ist evident, dass eine solche Perspektive auch den gegenwärtigen Debatten um die Neuorganisation der Pflege zum Beispiel gut tun würde. Aber es betrifft auch »härtere« Themen, etwa den Klimawandel. Derzeit ist es ja en vogue, die wirtschaftlichen Schäden der Klimaveränderung in Geld umzurechnen: Wie viele Milliarden wird das unsere Wirtschaft kosten? Das ist eine fatale Tendenz. Denn das Notwendige muss ich auch dann tun, wenn es sich nicht »rechnet«.

Die große Philosophin Simone Weil, die im Februar 100 Jahre alt geworden wäre, hat sich mit diesem Aspekt der Freiheit, die auf uns einen Zwang ausüben kann, beschäftigt. Ihrer Ansicht nach ist Aufmerksamkeit das Wichtigste dabei: Nur wenn ich mit großer Aufmerksamkeit in der Welt bin, werde ich sehen, was getan werden muss, werde ich ihre Notwendigkeiten erkennen und – in Freiheit – entsprechend handeln. Simone Weil kam sogar dazu, in diesen Fällen von Gehorsam zu sprechen. Freiheit ist also gewissermaßen das Gegenteil von Wahlfreiheit und Freiwilligkeit. Leider haben wir nicht die Zeit, uns heute Abend intensiver in das Denken von Simone Weil zu vertiefen, aber vielleicht kann ich Ihnen ein wenig Lust auf die Lektüre dieser zu Unrecht wenig beachteten Denkerin machen.

Nur eine solche Kultur der »liebenden Aufmerksamkeit« kann uns verletzlichen und hilfsbedürfigten Wesen die Sicherheit geben, die wir brauchen, um frei zu sein. Eine Freundin von mir formulierte das kürzlich so: »Weil Menschen das Notwendige tun, und wir uns darauf verlassen, gibt es Sicherheit.« [^1] Eine solche andere Ethik des »Müssens«, eines Müssens, das auf Freiheit und Liebe gründet und nicht auf Pflichten und Moral, Gesetzen und Zwang, böte die Möglichkeit, die Ungleichheit der Menschen nicht als Hindernis einer guten Gesellschaft zu sehen, sondern als ihre Ressource, ihre Vorbedingung.

Eine ganze Reihe von Philosophinnen hat dazu bereits wertvolle Gedanken entwickelt, die zwar nicht unter dem Begriff der »Liebe« firmieren, aber meines Erachtens darauf hinführen. Die erste, die ich heranziehen möchte, ist Hannah Arendt, die große Denkerin der Pluralität, die den Begriff der »Gebürtigkeit«, der Natalität – übrigens im Rückgriff auf Platon – in die politische Debatte zurückgeholt hat. Die Tatsache also, dass Menschen nicht als erwachsene, voll funktionstüchtige Wesen in die Welt eintreten, sondern als von einer Frau Geborene. Der Eintritt eines neuen Wesens in das »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten«, so Arendt, ist Garant dafür, dass immer wieder Neuanfänge möglich sind, dass Menschen nie im Singular, sondern nur im Plural vorkommen, dass es »den Menschen« nicht gibt, sondern nur die vielen Menschen, die in ihren gemeinsamen Verhandlungen das Wesen des Politischen gestalten.

Diesen Gedanken der Gebürtigkeit griff die italienische Philosophin Luisa Muraro auf. In ihrem Buch »Die symbolische Ordnung der Mutter« stellt sie die Beziehungen zwischen Mutter und Kind in den Mittelpunkt der Philosophie. Das Zusammenspiel von Begehren und Autorität, das für die Beziehung zwischen einer Mutter – oder ihrem Ersatz, denn natürlich muss diese Rolle nicht notwendigerweise die leibliche Mutter einnehmen – und ihrem Kind charakteristisch ist, ist kennzeichnend für Differenzbeziehungen schlechthin. Freiheit bedeutet (zum Beispiel aus der Perspektive des Kindes) nicht Unabhängigkeit, sondern das Eingebundensein in eine Beziehung zu einer, die ein »Mehr« hat, die mich versorgt und nährt, in materiellem wie in geistigem Sinne. Oder anders gesagt: Wohl kaum bei einem anderen Menschen ist es so offensichtlich und augenfällig, dass es nur frei sein kann, wenn es geliebt wird, wie bei einem neugeborenen Baby.

Muraro kritisiert von hier ausgehend das westliche Verständnis von Autonomie und Unabhängigkeit, das notwendigerweise zu einem Unbehagen an der Figur der Mutter geführt hat, insofern die Mutter – und die Erinnerung an unsere Abhängigkeit von ihr – sozusagen ein Stachel im Fleisch der imaginierten und angestrebten »Gleichheit« der Menschen war. Dies führte in unserer Kultur zu einer Abgrenzung von der Mutter, von der sich zu befreien die erste Aufgabe des erwachsenen, autonomen Menschen war und in der Folge zu einer Abwertung der mütterlichen Tätigkeiten, dem Ausschluss der Frauen aus dem Politischen und ihrem gleichzeitigen Einschluss in den Kerker angeblich »natürlicher« Weiblichkeit und Mütterlichkeit.

Deutschsprachige Ethikerinnen haben diese Ideen auf Einladung der Schweizer Theologin Ina Praetorius unter dem Titel »Für eine Weltsicht der Freiheit in Bezogenheit« in unterschiedlichen Aspekten weitergedacht: Was würde das für die Sozialpolitik, die das Rechtssystem, die Kultur schlechthin, die Ökonomie bedeuten, wenn wir Menschen nicht als autonom und unabhängig denken, sondern als Wesen, die nur frei sind, weil sie in Beziehungen leben? (Verweis auf das Buch)

Ich würde es nun im Hinblick auf diesen Vortrag noch einmal zuspitzen und sagen: Wir sind auf Liebe angewiesen. Liebe ist nicht ein Luxusding, das wir in Form einer gelungenen Beziehung unserer Biografie hinzuzufügen können, sondern diejenige Kraft, die uns Beziehungen ermöglicht, in denen wir gleichzeitig sicher und frei sein können.

Allerdings ist es dafür notwendig, dass wir den Liebesbegriff von der Illusion der Einheit und Verschmelzung befreien. Oder anders gesagt: Wir müssen die Liebe wieder als Differenzbeziehung denken. Wer liebt, gibt nicht die eigene Freiheit auf, verschwindet nicht hinter lauter Selbstaufopferung. Sondern kann im Gegenteil für eine bessere Welt politisch eintreten. Und zwar so, wie es die Journalistin Maria Terragni das kürzlich formuliert hat: »Mit der Starrköpfigkeit, mit der wir erwarten, dass am Ende immer die Liebe gewinnt, und angesichts der Tatsache, dass wir immer auf der Suche nach etwas sind, das man noch nicht sehen kann, und von dem wir trotzdem sicher sind, dass es da ist.«