Antje Schrupp im Netz

Feminismus für coole Mädchen?

Wie die Frauenbewegung mit Autorität sprechen kann

Hintergrund für diesen Abend und die Einladung an mich war eine Veranstaltung der LAG Mädchenpolitik Hessen im Juni, wo ich vor Sozialarbeiterinnen und Pädagoginnen in der Jugend- und Mädchenarbeit einige Thesen zum Verhältnis der Generationen der Frauenbewegung vorgetragen habe. Hintergrund war die Erfahrung, die sie in ihrem Berufsalltag haben, dass es heute sehr schwierig ist, Mädchen und junge Frauen von feministischen Anliegen zu überzeugen. Viele Mädchen haben offenbar gegenüber dem »Feminismus« oder »Emanzen« eine ablehnende Haltung. Gleichzeitig sehen die Pädagoginnen doch die Notwendigkeit, eine mädchenspezifische Arbeit zu tun, weil Benachteiligungen und Diskriminierungen auf der Hand legen: Gewalt gegen Mädchen und Frauen, sexuelle Anmache, Körperkult und Schlankheitswahn sind nur einige Stichworte.

Carmen hat mich nun gebeten, die Thesen, die ich damals vorgetragen habe, noch ein wenig auszuarbeiten und dann auch hier zur Diskussion zu stellen. Kurz nach dieser Veranstaltung gab es an der Ev. Akademie Arnoldshain noch ein Seminar zum Thema »Frauen, Autorität, Pädagogik – Reflektierte Praxis in Deutschland und Italien« zusammen mit Anna Maria Piussi und Veronika Mariaux, zwei Pädagoginnen aus der Philosophinnengruppe »Diotima« in Verona, wo es darum ging, das Denken der Italienerinnen und die Weiterentwicklung dieses Ansatzes in Deutschland für die pädagogische Arbeit fruchtbar zu machen Auch diese Diskussionen waren sehr interessant, und auch davon wird hier einiges einfließen.

Es geht bei dem angedeuteten Konflikt ja eindeutig um eine Frage der Autorität, beziehungsweise um das Problem der fehlenden Autorität. Was die Mädchen der feministisch engagierten Pädagogin, der Lehrerin, der Sozialarbeiterin oder Jugendreferentin sagen, wenn sie Feminismus und Emanzipation für überflüssig halten, das ist doch: Ich glaube dir nicht, du hast für mich keine Autorität, ich will nichts von dir lernen. Du hast mir nichts zu sagen, du verstehst mich nicht, du kannst mir nichts beibringen, du bist kein Vorbild für mich.

Und diese Ablehnung betrifft ja auch den Feminismus insgesamt, es ist eine Anfrage an die Frauenbewegung, zu der ich selbst mich auch zähle. Ich frage mich also: warum ist das, was wir ältere Frauen den Mädchen anbieten, so häufig nicht attraktiv? Dieselbe Frage könnte man übrigens auch stellen im Hinblick auf das Verhältnis von westlicher, mittelständischer Frauenbewegung zu Frauen aus anderen Kulturen, aus unterprivilegierten Schichten, sozial ausgegrenzten Frauen, aber auch Frauen, die sich noch nie mit feministischen Themen beschäftigt haben, weil sie zum Beispiel zu sehr dem Mainstream verhaftet sind. Auch in diesen Beziehungen zirkuliert oft keine Autorität. Also noch mal, weiter gefasst gefragt: Warum ist das, was wir, die »gestandenen« Feministinnen, mit viel Praxis und Erfahrung und Theoriehintergrund, diesen Frauen anzubieten haben, für sie nicht attraktiv?

Das ist nicht eine Frage von: wer hat Recht? Die Pädagogin, die auf die weiterhin bestehenden Diskriminierung von Frauen hinweist, oder das Mädchen, das behauptet, das sei doch alles gar nicht wahr oder nicht wichtig. Oder die Feministin, die Theorien der Geschlechterdifferenz hat, und die andere Frau, die das bestreitet oder uninteressant findet. Sondern womit wir es hier zu tun haben, ist ein Beziehungskonflikt. Hier gibt es offenbar kein »affidamento«, kein Sich-Anvertrauen einer Frau mit ihren Wünschen, Hoffnungen, Ideen an das Urteil einer anderen Frau. Dieses Problem lässt sich deshalb auch nicht dadurch lösen, dass wir – wiederum mit Zahlen und Fakten – beweisen, wer von den beiden denn nun recht hat, sondern wir müssen zunächst auf die Beziehungsebene gehen: Warum läuft die Beziehung schief? Und was können wir tun, um weibliche Autorität in unseren Beziehungen zu ermöglichen?

Die Frauenbewegung steht heute vor neuen Herausforderungen, weil sich die gesellschaftlichen Bedingungen geändert haben. Sie wissen ja sicher, dass die italienischen Feministinnen in diesem Zusammenhang vom »Ende des Patriarchats« sprechen. Damit ist nicht gemeint, dass jetzt alles in Butter ist, sondern dass Frauen – nicht alle, aber doch sehr viele – der symbolischen Ordnung des Patriarchats die Glaubwürdigkeit entzogen haben. Und das hat dazu geführt, dass sich tatsächlich sehr vieles geändert hat, dass sich die Lebenssituation der Frauen, zumindest der westlichen, privilegierten Frauen, sehr geändert hat: Sie haben Zugang zu Institutionen, Ämtern, Ressourcen und so weiter.

Seit Mitte der neunziger Jahre war deshalb immer mal wieder zu lesen und zu hören, dass die Frauenbewegung überflüssig geworden wäre. Grund: In dem Maße, wie die direkte Diskriminierung von Frauen abgenommen hat, sei »Frauenpolitik« nicht mehr nötig. Quasi als Gegenreaktion auf diesen Abgesang der Frauenbewegung gab und gibt es Feministinnen, die sich bemühen, nachzuweisen, dass diese Diskriminierung eigentlich immer noch besteht, und sich nur an der Oberfläche etwas verändert hätte. Aber die Existenzberechtigung der Frauenbewegung liegt ja nicht darin, gegen Diskriminierung und für Gleichheit mit den Männern zu kämpfen – was, historisch gesehen, auch noch nie ihr hauptsächliches Anliegen war. Sondern die Aufgabe der Frauenbewegung ist es, für weibliche Freiheit einzutreten, das heißt letzten Endes, für Freiheit überhaupt. Und auch wenn wir uns eine Gesellschaft ohne Frauendiskriminierung vorstellen können, so wird es doch niemals eine so perfekte Welt geben, dass das Streben nach Freiheit überflüssig wäre. Das heißt: Mit dem Ende des Patriarchats hören die Aufgaben der Frauenbewegung keineswegs auf, im Gegenteil, sie fangen erst an.

In den siebziger und achtziger Jahren, als ich selbst als junge Frau mit dem Feminismus in Kontakt kam, lag für mich die Autorität dieses Denkens darin, auf eklatante Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Auf Gesetze, die Männer und Frauen mit unterschiedlichem Maß messen, auf frauenfeindliche Wissenschaft, auf das Verschweigen von Frauen in den Geschichtsbüchern usw. Der Feminismus öffnete mir die Augen für diese Ungerechtigkeiten, Dieses Aha-Erlebnis haben junge Frauen heute nicht mehr. Denn diese offensichtlichen Diskriminierungen sind verschwunden, und der Kampf gegen die übrig gebliebenen Benachteiligungen von Frauen mag zwar notwendig sein, aber er wirkt oft auch kleinlich und nicht begeisternd. Es ist etwas anderes, ob ich für das Wahlrecht der Frauen kämpfe oder für ihre bevorzugte Einstellung auf höheren Beamtenstellen.

Als Angebot, die Welt zu verstehen und zu interpretieren, reicht der feministische Hinweis auf Ungerechtigkeiten längst nicht mehr aus. Im Gegenteil, heute tendiert dieser Hinweis dazu, die Frauen zu entmündigen, die nämlich manchmal zurecht von sich die Meinung haben, diese Restprobleme nun alleine bewältigen zu können. Der Hinweis auf Diskriminierungen ist sozusagen Teil des Mainstreams geworden und führt manchmal sogar zu krassen Fehlinterpretationen. Nur ein Beispiel: Kürzlich las ich in einem Buch einer feministischen Autorin folgende Argumentation: Sie zitierte eine Statistik, wonach 10 Prozent aller 35-40 jährigen Frauen kinderlos sind, aber 37 Prozent aller Hochschulabsolventinnen in diesem Alter. Sie zieht die Schlussfolgerung: »Da drängt sich geradezu die Vermutung auf, das habe etwas mit fehlenden Betreuungsmöglichkeiten zu tun«. Sie kommt gar nicht auf die Idee, dass manche Frauen vielleicht gar keine Kinder haben wollen, und dass das möglicherweise vor allem die sind, die studieren, die also was anderes mit ihrem Leben anfangen wollen. Ich selbst bin nämlich so eine kinderlose Hochschulabsolventin, und ich habe eine bewusste Entscheidung getroffen, kein Kind haben zu wollen und egal wie tolle Kinderbetreuung der Staat anbieten würde, meine Entscheidung würde ich deshalb nicht ändern.

Diese Feministin hat für mich keine Autorität, weil sie mit ihrer Analyse nicht auf mein Leben, auf mein Begehren antwortet, sondern im Gegenteil so tut, als hätte ich gar kein eigenes Begehren, als sei mein Leben nicht etwas, das ich mit meinen Entscheidungen und meinem Handeln präge, sondern nur Folge widriger Umstände und Diskriminierungen. Wie gesagt, in den siebziger/achtziger Jahren hatte das eine gewisse Plausibilität (aber war auch damals schon oft zu kurz gegriffen). Heute reicht es nicht. Heute muss feministisches Denken schon mehr bieten, um attraktiv zu sein, um mit Autorität sprechen zu können.

Lassen Sie mich daher etwas näher auf diese Überlegungen zum Thema weibliche Autorität eingehen, um dann zu sehen, ob sich daraus auch etwas über die Beziehungen zwischen Pädagoginnen und Mädchen schlussfolgern lässt. Ausgangspunkt der Italienerinnen war das Unbehagen darüber, dass in der Frauenbewegung das Bild der Gleichheit, der weiblichen Solidarität vorherrschend war. Als Gruppe von Benachteiligten, die gegen ihre Diskriminierung durch die männliche Gesellschaft kämpften, war das Bild von einem »Wir« der Frauen entstanden, die gemeinsam für ihre Rechte kämpfen. Es war ein Bild, das sich in der Praxis nicht bewährte: Denn erstens hatten keineswegs alle Frauen dieselben Interessen, und sie waren auch keineswegs alle einer Meinung, und sie wollten auch nicht dasselbe. Das Bild »der Frauen« als einer homogenen Gruppe, so stellte sich heraus, ist selbst schon ein Zerrbild des Patriarchats, das nämlich »die Frauen« immer als Nicht-Männer interpretiert hat. Nur insofern sie keine Männer sind, sind alle Frauen gleich. Für sich genommen sind Frauen vor allem unterschiedlich. Eine feministische Theorie, so folgerten die Italienerinnen, muss sich daher vor allem mit den Unterschieden unter Frauen beschäftigen und mit der Frage, wie wir am besten mit diesen Unterschieden umgehen können.

Diese Unterschiedlichkeit der Frauen ist nicht einfach das, was heut zu Tage gerne »diversity« genannt wird, also Unterschiedlichkeit im Sinne von »verschieden, aber gleich wertig«, wie etwa rot, blau, grün, gelb oder die bunte Vielfalt von Merci. Sondern es handelt sich wirklich um Ungleichheit in dem Sinn, dass die eine Frau der anderen gegenüber ein »Mehr« hat. Die Herausforderung bestand also darin, dieses »Mehr« der einen Frau in der Beziehung zu einer anderen so zu beschreiben, dass damit nicht Herrschaft oder Macht gemeint ist, sondern dass es fruchtbar wird im Sinne von weiblicher Freiheit. Und an dieser Stelle führten die Italienerinnen den Begriff der weiblichen Autorität ein.

Als grundlegendes Beispiel für eine solche Beziehung zwischen zwei Frauen, von denen eine ein »Mehr« hat, nahmen die Italienerinnen die Beziehung zwischen Mutter und Tochter. Wir alle sind als Töchter einer Frau zur Welt gekommen, die unsere Mutter ist, die also zu einer anderen Generation gehört. Dieser Tatsache haben wir unser Überleben zu verdanken. Hier ist das »Mehr« der Mutter der Tochter gegenüber ganz eindeutig: Und es besteht darin, dass die Mutter hat und geben kann, was die Tochter braucht: Nahrung, Sprache, Urteilsfähigkeit. Die Autoritätsbeziehung von Mutter und Tochter lässt sich auch auf andere Beziehungen zwischen Frauen übertragen, in denen eine der anderen gegenüber ein Mehr hat. Und folgende Punkte sind dabei wichtig:

  • das »Mehr« der einen Frau gegenüber der anderen ist keine objektiv feststellbare Fähigkeit oder Kompetenz, sondern steht immer in einem Bezug zu dem Begehren der anderen: Wenn ich Hunger habe, hat eine für mich Autorität, die mir Nahrung gibt. Wenn ich Philosophin werden will, werde ich einer Autorität zusprechen, die großartig philosophieren kann. Wenn ich glücklich werden will, werde ich eine Autorität suchen, dir mir zeigt, wie ich glücklich werden kann. Autorität auf der einen Seite kann nur da sein, wenn sie auf der anderen Seite auf ein Begehren stößt.

  • Das bedeutet aber auch: Weibliche Autorität ist etwas anderes als Macht: während Macht einer Person äußerlich zugesprochen wird, etwa durch Funktionen oder Positionen oder Entscheidungskompetenzen, ist Autorität nur da, wo sie freiwillig anerkannt wird. Weibliche Autorität kann der Macht entgegenwirken, indem uns die freiwillige Abhängigkeit von einer weiblichen Autorität (das Sich-Anvertrauen, affidamento) frei macht von der Abhängigkeit von Macht, also zum Beispiel von Mehrheitsmeinungen. Macht andersrum ist ein Zeichen dafür, dass Autorität fehlt.

  • Autorität ist also keine Eigenschaft, die eine Person haben kann oder auch nicht, eine Eigenschaft, auf die man sich berufen, die man herbeizwingen kann. Sondern sie ist etwas, das nur innerhalb einer konkreten Beziehung wirkt. Autorität ist eine Beziehungseigenschaft. Sie kann nur wirken, wenn beide Seiten das wollen: Wenn da eine ist, die bereit ist, Autorität auszuüben, und eine andere, die diese Autorität anerkennt, beides geht nur freiwillig. Autorität ist auch keine Einbahnstraße, sie kann zirkulieren. In einer Beziehung steht nicht von vornherein fest, wo Autorität ist, sondern sie entsteht im Gespräch. Es ist nicht so sehr die Frage, welche Frau Autorität hat, sondern welche Worte: Sagt eine etwas, das mir hilft, die Welt zu verstehen? Etwas, das mir hilft, meinem eigenen Begehren zu folgen? Autorität kann man nicht »machen«, sie lässt sich nicht festlegen. Man kann aber wahrnehmen, ob sie da ist oder fehlt.

In einer Autoritätsbeziehung gibt es immer eine Seite, die die Position der Tochter ist, und eine andere, die die Position der Mutter ist. Es geht nicht so sehr um die Personen, sondern um die beiden Pole, zwischen denen etwas passiert, wenn Autorität zirkuliert. Es kann deshalb auch das Mädchen sein, das mit Autorität spricht, oder die Frau aus der anderen Kultur, die Sozialhilfeempfängerin, die Muslimin usw. Wenn ich hier in diesem Vortrag besonders über die Autorität spreche, die wir als westliche, ältere Feministinnen haben können, dann nicht, weil ich glaube, wir hätten »natürlicherweise« mehr Autorität als die anderen. Sondern weil das heute unsere Fragestellung ist. Nämlich das Problem der schwachen und oft abwesenden Autorität unseres westlichen Feminismus. Darum geht es in diesem Vortrag.

Wenn wir diese Frage stellen, bringt es nicht sehr viel, über »die Mädchen« nachzudenken, oder über »die Ausländerinnen« oder »die Sozial ausgegrenzten Frauen«, so als müssten wir eine Zielgruppenanalyse machen und dann unser »Angebot« entsprechend profilieren. Erstens gibt es sie keine homogenen Gruppen von Frauen wie etwa »die Mädchen« oder »die Ausländerinnen«, und selbst wenn es sie gäbe, spielen die Gruppe oder soziologische Kategorie keine Rolle in der konkreten Beziehung, die du oder ich möglicherweise zu einigen Mädchen, zu einigen Ausländerinnen, zu einigen sozial benachteiligten Frauen haben. Und da Autorität nur in Beziehungen existiert, müssen wir uns diese Beziehung anschauen.

Das »Feministische« wenn man so will, ist nicht, dass es Mädchen und Frauen sind, um die es in unserem Engagement, bei unserer Arbeit geht (und keine Jungens oder Männer derselben Gruppe), sondern dass es um eine sexuierte Beziehung geht: Um eine Beziehung zwischen zwei Frauen. Zum Beispiel: der Pädagogin, die eine ältere Frau ist, und dem Mädchen, das eine jüngere Frau ist. Oder der Deutschen, die eine sozial privilegierte Frau ist, und der Ausländerin, die eine unterprivilegierte Frau ist. Die Frage ist: Wie wird diese Beziehung zwischen zwei unterschiedlichen Frauen gestaltet?

Welche Position also nehmt zum Beispiel Ihr als Pädagoginnen, als Lehrerinnen, als Sozialarbeiterinnen in der Beziehung zu jungen Mädchen ein? Man könnte die Frage auch allgemeiner, gesellschaftspolitisch, stellen: Welche Position nimmt die alte Frauenbewegung, nehmen die Feministinnen, die in den 70er und 80er Jahren engagiert waren, den jungen Frauen heute gegenüber ein, die damals noch nicht auf der Welt waren? Welche Position nehmen deutsche Feministinnen Frauen aus anderen Kulturen gegenüber ein, die zum Beispiel einen anderen religiösen Hintergrund, andere Probleme, andere Erfahrungen in der Auseinandersetzung und Interpretation ihres Frau-Seins haben?

Von den äußeren Faktoren her gesehen – der Lebenssituation, in der wir, die »gestandenen Feministinnen«, sag ich mal, stehen und in der die Mädchen stehen, der Tatsache, dass wir älter und vermutlich auch lebenserfahrener sind, dass wir über Ressourcen und Möglichkeiten verfügen, die die Mädchen nicht haben – ist es nahe liegend, dass wir in der Position derjenigen sein könnten, die ein »Mehr« hat, die also eine Autorität sein könnte. So ähnlich, wie es nahe liegend ist, dass die Mutter ein »Mehr« hat als die Tochter, weil sie eine Frau aus einer älteren Generation ist. Als westliche privilegierte Feministinnen könnten wir möglicherweise ein »Mehr« haben gegenüber Frauen aus anderen Kulturen, weil wir eine lange Geschichte feministischen Denkens, feministischer Bewusstseinsarbeit haben, vielleicht auch weil wir über mehr Ressourcen für Frauenforschung verfügen und weil unsere Zeit nicht so absorbiert war von finanziellen Sorgen, weil wir uns aus patriarchalen Familienverhältnissen bereits verabschiedet haben usw.

Noch einmal: Es geht hier nicht darum, dass wir besser sind. Möglicherweise haben die anderen Frauen ganz andere, ebenso wertvolle Erfahrungen und Ressourcen, von denen wir nur noch nichts wissen. Es geht nicht um eine Hierarchiebildung, sondern darum, dass wir uns unserer Ressourcen und Möglichkeiten bewusst sein müssen, wenn wir den Wunsch haben, mit Autorität zu sprechen. Nicht um sie anderen überzustülpen oder aufzudrücken, sondern um sie ihnen anzubieten. Ob sie sie annehmen, ob sie damit was anfangen können, das ist ihre freie Entscheidung und es hängt ab nicht von der Grandiosität unserer Konzepte und Ideen, sondern von der Beziehung, die wir miteinander führen.

Was ist nun notwendig, damit solche Autorität auch in der konkreten Beziehung wirken kann? Wenn es nicht darum geht, ob die eine objektiv Recht hat und die andere nicht, sondern darum, ob sie etwas anzubieten hat, das auf das Begehren der anderen antwortet, das ihr einen Zugang, eine Interpretation der Welt bietet, die ihr etwas bringt, die ihr einleuchtet?

Wichtig ist dabei dieser innere Perspektivenwechsel. Dass wir uns klar machen, dass es zunächst einmal nicht um das Mädchen, um die Ausländerin, um die arme Frau geht, sondern um uns als Pädagoginnen oder als ältere Frauen oder als erfahrene Feministinnen. Wir müssen zunächst einmal klären, was unser Begehren in der ganzen Angelegenheit ist.

Sind wir bereit, in der Beziehung zu der anderen Frau, mit der wir es zu tun haben, eine Autoritätsperson zu sein? Bieten wir das »Mehr«, das wir sicherlich haben, an, bringen wir es in diese Beziehung ein? Das ist eine Entscheidung, die jede einzelne treffen muss. Wie gesagt, es geht nicht um objektive Fähigkeiten und Kompetenzen, sondern um einen symbolischen Akt: Welche Art von Beziehung bieten wir den Mädchen an?

Wenn wir uns jetzt mal als Negativfolie eine Sozialarbeiterin vorstellen, die, sozusagen mit »feministischem Impetus«, den Mädchen etwas von einer diskriminierenden Gesellschaft erzählt, vom Patriarchat, das den Frauen das Leben schwer macht, und die dann die Mädchen auffordert, sich zusammen mit ihr dagegen zu solidarisieren – ich übertreibe jetzt ein bisschen – dann stellt sich diese Sozialarbeiterin symbolisch nicht auf die Position der Mutter, sondern reiht sich zusammen mit den Mädchen in die Position der Töchter ein: Das Patriarchat, die Institutionen, die Männer, die Politik – sind an allem Schuld. Sie selbst hat nichts damit zu tun, trägt also keine Verantwortung, sie ist ja auch »nur« eine Frau, die dagegen kämpft, aber die nicht wirklich etwas zu sagen hat. Eine solche Sozialarbeiterin würde ihr »Mehr« den Mädchen nicht anbieten, sondern vorenthalten. Sie würde so tun, als hätte sie gar kein »Mehr«. Und das wäre verlogen. Denn als erwachsene Frauen mit einem Beruf und einer Geschichte trägt sie natürlich durchaus Verantwortung dafür, wie die Welt aussieht. Als Feministin, die sich in die Geschichte der Frauenbewegung stellt, hat sie sogar etwas sehr Positives dazu beigetragen, wie die Welt aussieht, die die Mädchen vorfinden.

Wohlgemerkt: Es geht mir nicht darum, ob diese fiktive Sozialarbeiterin möglicherweise recht hat mit ihrer Gesellschaftsanalyse, sondern darum, was sie symbolisch aussagt, wie sie sich in der Beziehung positioniert. Sie stellt sich nicht als eine dar, die etwas zu sagen hat, oder tun kann, die ein Urteil fällt und Wege aufzeigt, die also möglicherweise ein »Mehr« hat, das sie für das eine oder andere der Mädchen zu einer Autoritätsperson machen würde. Sie verhält sich wie eine arme Mutter, deren Tochter Hunger hat, und die ihrer Tochter erklärt, dass das Geld leider nicht reicht, um Lebensmittel zu kaufen, anstatt irgendwas zu tun. Möglicherweise muss die Mutter tatsächlich protestieren oder für höhere Löhne und bessere Nahrungsmittel kämpfen, aber das ist es nicht, was ihre Tochter in dieser Situation interessiert. Für die Tochter ist interessant, ob die Mutter eine ist, die ihren Hunger stillen kann, oder nicht. Daran wird sie entscheiden, ob es sich »lohnt«, eine Beziehung einzugehen, ihr Autorität zuzusprechen, oder nicht.

In gewisser Weise könnten wir diesen Vorwurf der Frauenbewegung insgesamt machen. Sie hat es teilweise noch nicht geschafft, aus der Tochterrolle herauszutreten (also aus einer Position, in der es darauf ankommt, gefördert zu werden, ermutigt zu werden, den eigenen Platz in der Gesellschaft finden, dafür zu sorgen, dass man gehört wird und eine Stimme hat) – und stattdessen in eine Mutterrolle zu kommen (die bedeutet: Position beziehen, fragen, was kann ich weiter geben und wie sorge ich dafür, dass das, wofür ich stehe, auch weitergeht). Ein Grund dafür ist der, dass auch die Instrumente, die in staatlichen und politischen Institutionen eingesetzt wurden, um Frauen stärker in diese Strukturen einzubinden, symbolisch diesen Platz der Tochter ausdrücken: Frauenförderpläne, Mentoring, Gleichstellung, Quotenregelung – das sind alles Mechanismen, die symbolisch dazu angelegt sind, ein Weniger der Frauen auszugleichen. Instrumente, die symbolisch die Frauen auf eine Tochterrolle festlegen, denn es sind Hilfen für solche, die ein Weniger haben.

Statt die Frauen als defizitäre Wesen zu sehen, die gefördert, bequotet oder be-gender-mainstreamt werden müssen, wäre es im Sinne weiblicher Freiheit wichtig, gesellschaftlich die Stimme weiblicher Autorität zu vernehmen. Dieser Konflikt scheint mir auch hinter dem Phänomen zu stecken, dass erfolgreiche, intelligente Frauen, die etwas Großes vorhaben, sich häufig weigern, mit diesen Frauenfördermaßnahmen identifiziert zu werden. Sie wollen mit Autorität sprechen, sie wollen ihr »Mehr« in diese Gesellschaft einbringen, und sie haben recht damit, dass das nicht geht, wenn sie nicht sozusagen die Seiten wechseln, von der symbolischen Seite der Töchter auf die der Mütter. Da man die Frauenförderpolitik jedoch hier zu Lande häufig mit »Feminismus« oder »Frauenbewegung« gleichsetzt, wird dieser Wunsch von Frauen, nicht in der Position der Tochter zu verharren, jedoch häufig als Distanzierung von der Frauenbewegung und vom Feminismus verstanden, auch von ihnen selbst. Das ist ein sehr unglücklicher Zustand.

Zum Glück aber gibt es bereits Veränderungen. Im August war ich zum Beispiel in Barcelona bei der 2. Europäischen Frauensynode. 700 Frauen aus verschiedenen christlichen Kirchen und Konfessionen waren, da, auch einige Jüdinnen, Musliminnen und Heidinnen. Und sie diskutierten über viele Fragen, über Verschiedenheit, über Wirtschaftsfragen usw. Hier zirkulierte viel weibliche Autorität, die Vielfalt der Erfahrungen, die theoretische Arbeit, die praktischen Projekte, all das wurde miteinander geteilt und fruchtbar gemacht. Die Themen, die hier diskutiert wurden, waren spannend, interessant, tiefgehend, boten Antworten auf wichtige gesellschaftliche Fragen. Gleichzeitig war von den offiziellen Männerkirchen folgendes zu hören: Die katholische Kirche forderte christliche Politiker auf, gegen homosexuelle Partnerschaften einzutreten, die evangelische Kirche in Deutschland verkündete, Christen und Muslime dürften nicht gemeinsam beten. Wie armselig war das im Vergleich zu den Ergebnissen der Frauensynode. Die sich übrigens nicht damit aufhielt, an diese Männerkirchen irgendwelche Forderungen zu stellen, sondern stattdessen mit eigener Autorität sprach. Etwas später, Anfang September, gab es in Luxemburg einen großen Kongress von Matriarchatsforscherinnen mit einigen hundert Teilnehmerinnen. Dort war ich nicht, aber nach allem, was ich von da gehört habe, waren auch dort spannende Diskussionen und viel weibliche Autorität. Die Medien berichten natürlich über solche Ereignisse nicht, sie plustern eher die offiziellen Männerstatements zu angebliche wichtigen Nachrichten auf. Frauenforderungen werden nur transportiert, wenn sie sich zu diesen Männern in Beziehung setzen, zum Beispiel in Form von Forderungen oder Anklagen. Es ist gut, dass immer größere Teile der Frauenbewegung dazu nicht mehr bereit sind, sondern selbst mit Autorität sprechen. Solange aber die Medien dies nicht sehen, weil sie in ihren Schablonen verhaften sind, ist es wichtig, dass wir uns das untereinander erzählen und weiter geben.

Natürlich ist es nicht so einfach, aus der Position der Tochter in die Position der Mutter zu wechseln. Denn das heißt, dass ich die Förderung verliere, ich muss mich aus einer angenehmen Situation zurückziehen, die darin besteht, für nichts Verantwortung zu tragen und immer nur Forderungen an andere stellen zu können. Aber ich glaube, dass genau das die jüngeren Frauen, und ebenso die unterprivilegierten Frauen, die in unser Land kommen, oder die, die sich noch nie mit Feminismus beschäftigt haben, weil sie noch keinen Kontakt bekommen haben, sondern im medialen Mainstream schwimmen, von uns erwarten oder zumindest erwarten können: Dass wir in dieser Gesellschaft als Frauen präsent sind, die über Erfahrungen, Ressourcen und Urteilsvermögen verfügen, und von dieser Position aus sprechen und mit den Mädchen und jungen Frauen in eine sexuierte Beziehung treten – von Frau zu Frau.

Eine Beziehung unter Frauen zu knüpfen, die nicht auf Solidarität gründet, sondern auf Autorität, und die einen Bezug zur Welt hat. Weibliche Autorität bietet eine Interpretation der Welt an, die auf das Begehren einer Frau antwortet und ihr hilft, dieser Welt anders gegenüber zu treten, als es die Mainstream-Meinung vorgibt. Das scheint mir ein entscheidender Punkt zu sein. Die Münchener Pädagogin Ulrike Möller hat in Arnoldshain dazu sehr interessante Überlegungen angestellt, und zwar ausgehend von der Frage nach der Koedukation. Bislang bestand diesbezüglich eine schlechte Alternative: Auf der einen Seite Koedukation, also gemeinsame Erziehung von Jungen und Mädchen, wobei so getan wurde, als sei die Geschlechterdifferenz irrelevant, als hätten wir es mit lauter Neutren zu tun. Dabei stellte sich heraus, dass in so einem Setting Mädchen oft benachteiligt sind, weil sie weniger beachtet werden, sich weniger durchboxen usw. Als Alternative dazu schien es nur den Separatismus zu geben, also die geschlechtergetrennte Erziehung.

Ulrike Möller schlägt demgegenüber eine geschlechter-bewusste Koedukation vor. Sie hat beobachtet, dass viele Mädchen kein Interesse haben an einer separaten Pädagogik. Was sie von Pädagoginnen wollen (und damit wären wir vielleicht auf der Spur ihres Begehrens), das ist nicht so sehr ein geschützter Raum, wo sie als Frauen unter sich sind, sondern einen Rat, eine Hilfe, ein Vorbild darin, wie sie mit Männern umgehen können, und das heißt: Mit der Welt. Gefragt ist also eine Ko-Edukation, in der das Geschlecht der Akteure und Akteurinnen eine Rolle spielt: das der Jungens und Mädchen, aber auch das der Pädagoginnen und der Pädagogen. Ulrike Möller hat das, wie ich finde sehr einleuchtend, verglichen mit einem interkulturellen Dialog. Es geht darum, einen Dialog zwischen weiblicher und männlicher Kultur zu ermöglichen und zu führen, in dem die Pädagogin den Mädchen ein Vorbild ist darin, wie dieser Dialog zu führen ist. Im gegenseitigen Respekt vor dem Anders sein der anderen Kultur, aber dennoch offen und mit Interesse an einer Beziehung.

Auch dieser Gedanke lässt sich m.E. gut auf die Situation der Frauenbewegung insgesamt übertragen. Denn viele Frauen sind interessiert an einer Beziehung zu Männern. Privat und beruflich. Interessant wäre für sie also ein Feminismus, der in dieser Hinsicht etwas bringt. Es ist meiner Beobachtung auch ein Thema, das jetzt wirklich, aus vielen Gründen, auf der feministischen Tagesordnung steht, und ich kenne einige Philosophinnen und Gruppen, die sich schon damit beschäftigen: Was haben wir Feministinnen den Männern anzubieten? Wie können wir am Ende des Patriarchats zu ihnen in eine Beziehung treten, die die unfruchtbare Alternative überwindet, nämlich die, entweder Separatismus zu betreiben oder aber die Geschlechtlichkeit der Individuen zu leugnen und so zu tun, als seien sie alle Neutren?

Auch das Konzept des Gender Mainstreamings versucht ja, auf dieses Problem zu antworten. Allerdings in Form von Gesetzen und Richtlinien. Ich glaube, so funktioniert es nicht. Denn es geht um Beziehungen, immer wieder um Beziehungen. Und Beziehungen führen wir immer in erster Person, es ist keine Frage der Repräsentanz, der Gremien, sondern eine des Lebens.

Das wurde auch bei der Veranstaltung der LAG Mädchenpolitik deutlich. Viele Sozialarbeiterinnen haben derzeit mit neuen Verordnungen etc. zu tun, bei denen es viel um Evalutation, Qualitätsmanagement, Dokumentation der eigenen Arbeit etc. geht. Also um Statistiken: wie viele Teilnehmerinnen kommen zu welcher Veranstaltung usw. Oder um andere Richtlinien, die versuchen, die Qualität der Arbeit in Zahlen und Statistiken zu übersetzen und so vergleichbar zu machen. Als erfolgreich beschrieben diese Frauen aber gerade jene Erlebnisse, die auf Beziehungen gründen. Mädchen kommen zu Veranstaltungen nicht aufgrund von Plakaten, Flyern oder Zeitungsannoncen, sondern weil sie von den Sozialarbeiterinnen z.B. auf dem Schulhof angesprochen werden, weil sie sie bereits kennen etc.

Ähnliche Probleme hat m.E. der Feminismus als »Bewegung«. Keine großen Massen strömen da. Daher kommt die Einschätzung, der Feminismus sei am Ende. Auf der anderen Seite gibt es immer wieder überraschende Begegnungen, kleine Projekte, interessante Debatten, neue Veröffentlichungen in kleinen Verlagen, sodass ich persönlich überhaupt nicht die Erfahrung mache, der Feminismus sei am Ende, sondern ich ihn im Gegenteil als sehr lebendig erlebe.

Es geht also darum, dass wir uns von diesen Kriterien der öffentlichen Wirksamkeit, den Prinzipien der Evaluation, der Effektivität usw. befreien – wenn es auch vielleicht nicht immer dem Arbeitgeber gegenüber geht, der auf solchen Dingen bestehen mag, so doch zumindest für uns selbst. Woran messen wir unseren Erfolg? Ich sage: Nicht an Zahlen, sondern an unserem Begehren und der Qualität unserer Beziehungen. Gleiches gilt auch für die Mädchenarbeit, für das Verhältnis von älterer und jüngerer Frauengeneration, von gestandenen Feministinnen zu jungen, vielleicht noch »unfeministischen« Frauen.

Wenn wir für etwas stehen, für eine Theorie, eine Gesellschaftsanalyse, eine Meinung, und wenn wir andere davon überzeugen wollen, dann müssen wir als Frauen mit ihnen sprechen, die auch Frauen sind. Das bedeutet: Es geht nicht darum, sich mit den Mädchen zu solidarisieren, oder etwa mit den unterdrückten Frauen, mit den Ausländerinnen, den Opfern von Beschneidung, den Arbeitslosen, mit wem auch immer. Sondern wir müssen sehen, dass diese Mädchen, diese Frauen, Ansprüche an uns stellen. Und zwar zu recht. Weil wir zu einer älteren Generation gehören. Oder weil wir zu einer privilegierten Schicht gehören, weil wir Deutsche sind, über Geld verfügen, möglicherweise über Ämter und über Einfluss, weil wir eine Tradition mit Erfahrungen haben.

Und zu diesen Ansprüchen müssen wir uns in erster Person verhalten, indem wir entweder zustimmen, sie zu erfüllen, also eine Autoritätsbeziehung einzugehen, oder eben nicht. Wir können uns nicht einfach mit den jungen, armen, unterdrückten Frauen solidarisieren, um ihre Probleme, Sorgen und Wünsche dann zuständigkeitshalber an das Patriarchat, die Männer, die Gesellschaft, die Institution oder wen auch immer weiterzureichen.

Dazu gehört, dass wir bereit sind, auch Urteile zu fällen und eine Position zu beziehen. Denn natürlich ist nicht alles, was die Mädchen oder die Armen oder die unterdrückten Frauen wollen, toll. Es ist zwar richtig, dass für eine Autoritätsbeziehung ausschlaggebend ist, ob unser »Mehr« bei ihnen auf ein Begehren trifft, für das es eine Antwort sein kann, aber Autorität besteht ja nicht darin, einfach den anderen alle Wünsche zu erfüllen. Die Mutter ist ja auch keine Bonbon-Beschaffungsmaschine, die ihren Töchtern einfach jede Süßigkeit besorgt, die sie haben wollen. Sondern die Mutter steht für etwas, sie hat auch eigene Wünsche und Bedürfnisse.

Zu diesen Wünschen und Bedürfnissen vieler Feministinnen gehört es vermutlich unter anderem – bei mir ist es jedenfalls so – den Mädchen, den Unterdrückten, den Armen »Bewusstsein« beizubringen für die politischen Verhältnisse, sie zu ermutigen, ihren eigenen Weg zu gehen und sich nicht von Rollenerwartungen einschränken zu lassen. Was mir in diesem Zusammenhang wichtig zu sein scheint, ist, sich klar zu machen, dass dies zunächst einmal der eigene Wunsch, das eigene Anliegen ist, und nicht etwa das der Mädchen. Und das ist auch gut so – denn hätten wir selbst kein Begehren in dieser Richtung, wären wir auch nicht bereit, eine Beziehung einzugehen. Das scheint mir in der gesamten politischen Debatte häufig unter den Tisch zu fallen: Da wird viel herumspekuliert und theoretisiert, was denn wohl die Mädchen, die Armen, die Unterdrückten Frauen brauchen und welche Bedürfnisse sie angeblich haben und wie man ihre Interessen wahrt. Aber da es sich in erster Linie eben um eine Beziehung handelt, ist es wichtig, sich vor allem klar zu machen, mit welcher Motivation man selbst in dieser Beziehung steht. Denn das ist die Voraussetzung für alles weitere.

Die Frage, die sich der Feminismus meiner Meinung nach zu stellen hat, ist also nicht: Was brauchen die Mädchen? was brauchen die unterdrückten Frauen? sondern: Was tun die Feministinnen? Welche Antworten haben zum Beispiel Pädagoginnen, als erwachsene, politisch erfahrene Frauen den Mädchen zu geben? Welche Antworten haben deutsche Frauen in gesicherten Positionen den von solchen Ressourcen ausgeschlossenen Frauen zu geben? Können sie ihnen mit Autorität gegenüber treten, also als Frauen, die ein Mehr zu bieten haben, das auf ihre berechtigten Ansprüche eine Antwort gibt?

Aber was, könnten Sie einwenden, wenn die Mädchen gar keine Ansprüche stellen? Das beklagte jedenfalls kürzlich eine Lehrerin in einem Workshop, an dem ich teilnahm. Sie sagte: Die Mädchen heute haben ja keine großen Ziele mehr, sagte, sie wollen sich nicht politisch engagieren und nichts in der Welt bewegen, sie streben ja nur nach ihrem kleinen, privaten Glück. Luisa Muraro, die an dem Workshop teilnahm, antwortete: Ja ist das denn nicht der größte aller möglichen Wünsche, der Wunsch, glücklich zu sein? Das hat mir die Augen geöffnet. Wie können wir, die älteren, auf diesen Anspruch der Mädchen antworten? Auf diesen Anspruch: Zeigt uns einen Weg, wie wir glücklich werden können? Zeigt uns einen Weg, wie dieses unser kleines Leben Sinn bekommen kann?


Vortrag am 2.10.2003 im Frauenzentrum Rüsselsheim