Antje Schrupp im Netz

Entfremdung als Chance

Das Fremdsein der Frauen

Viele Frauen klagen über Entfremdung. Das ist ja wahrscheinlich auch der Grund, warum Sie dies zum Thema ihrer Tagung gemacht haben.

Frauen fühlen sich fremd in der Welt, nicht eins mit sich selbst, mit der Natur, mit der Politik, mit der Arbeitswelt. Sie fühlen sich fehl am Platz, in den Unternehmen, im Konkurrenzkampf mit den Männern und mit anderen Frauen. Sie sind nicht zufrieden mit ihrem Körper, mit ihren Beziehungen, mit ihrer Arbeit. Woran liegt das? Und was kann man dagegen tun?

Früher, ja, da war die Sache klar: In patriarchalen Verhältnissen musste sich eigentlich über die Entfremdung der Frauen niemand wundern. Sie war ja sozusagen vom System schon vorgegeben. Es war ja nicht ihre Welt, sondern die Welt der Männer. Frauen waren von allem möglichen ausgeschlossen, aus allen öffentlichen Institutionen, von den Regierungen, den Universitäten, den Männerclubs. Frauen durften über vieles nicht selbst entscheiden, waren Gesetzen und Regelungen unterworfen, die andere für sie aufgestellt hatten. Kein Wunder also, dass sie sich entfremdet fühlten.

Aber heute? Heute haben Frauen alle Möglichkeiten. Die Gesetze und Ideologien wurden geändert, statt Unterdrückung und Benachteilung herrscht Emanzipation.

Frauen haben sich den Zugang zu den ehemals männlichen Institutionen erkämpft, ihre Gleichberechtigung durchgesetzt. Feministinnen wie Alice Schwarzer bekommen das Bundesverdienstkreuz überreicht, Kinderlose Physikerinnen wie Angela Merkel werden Bundeskanzlerin.

Vielleicht ist die Emanzipation noch nicht ganz vollständig, hier und da gibt es noch Problembereiche, aber im Großen und Ganzen gilt es schon, zumindest in der westlichen Welt. Frauen können alles, sind von nichts mehr prinzipiell ausgeschlossen. Sie dürfen sich zuhause fühlen, nicht nur am Herd, sondern auch im Chefsessel, nicht nur am Lehrerinnenpult, sondern auch im Bundeskanzleramt.

Aber trotzdem fühlen sich viele Frauen noch fremd. Haben den Eindruck, irgendetwas ist schief. Sieht es so aus, als gehöre Angela Merkel nicht wirklich in diesen Chefsessel des Bundestages. Schleicht sich ein komisches Gefühl ein, wenn die Chefin auf Spitzhacken und im Kostümchen ihre Untergebenen herumkommandiert, ganz zu schweigen von einer Soldatin wie Lynndie England, die Gefangene foltert und dabei für die Kameras posiert. War es das, was wir wollten?

Hannah Arendt hat in einem Interview in den 60er Jahren gesagt: Es steht einer Frau nicht, wenn sie Befehle erteilt. Als ich, vor vielen Jahren, das Interview zum ersten Mal sah, habe ich mich fürchterlich aufgeregt: Warum soll es einer Frau nicht stehen, Befehle zu erteilen? Sie kann das doch schließlich genauso gut, wie Männer.

Sicher kann sie es genauso gut. Das ist heutzutage sichtbarer, als damals und auch weitgehend unbestritten. Bei Angela Merkel hat sich kaum noch jemand getraut, die Frage offen auszusprechen: Kann sie das? Auch wenn es sicherlich manche insgeheim gefragt haben. Aber klar, kann sie das, und inzwischen deutet ja einiges darauf hin, dass sie es vielleicht sogar besser kann, als ihre Vorgänger.

Und trotzdem. Steht es ihr auch?

Inzwischen ist mir klar, dass Hannah Arendt damals nicht eine Aussage über das angeblich natürlich und unveränderbare Wesen der Frau gemacht hat, sondern dass Ihr Satz ein politisches Urteil enthält einer klugen Denkerin, die natürlich längst wusste, dass Frauen alles können. Ihr Urteil fordert aber zu einer Debatte heraus darüber, was Frauen denn auch steht? Etwas befremdlich zu finden, ist oft der erste Schritt zu einer solchen Debatte.

Warum ist das so, woher kommt diese Fremdheit der Frauen trotz ihrer Emanzipation? Hat ihre Entfremdung vielleicht einen tieferen Grund?

Und ist es überhaupt schlimm, diese Fremdheit zu spüren?

Das Gefühl der Entfremdung kann nämlich auch eine starke Motivation sein, das hat uns die Frauenbewegung gezeigt.

Sich fremd zu fühlen, nicht richtig zu etwas zu passen, das kann ein starkes Begehren auslösen, diesen Zustand zu überwinden. Das kann Frauen dazu bringen, sich zu engagieren. Etwas verändern zu wollen. Zu protestieren, sich für eine bessere Welt zu engagieren.

Deshalb habe ich meinen Vortrag auch »Entfremdung als Chance« betitelt.

Entfremdung kann aber auch lähmen. Und zwar dann, wenn sie den Zugang zum eigenen Begehren verstellt, wenn eine sich so falsch und fehl am Platz fühlt, dass sie keine Verbindung mehr herstellen kann zwischen sich selbst und den Umständen.

Wann tritt das eine ein und wann das andere? Unter welchen Bedingungen?

Die Beantwortung dieser Frage hat meines Erachtens viel mit unserer Einstellung zu dem Fremden, dem Anderen, zu tun. Ich bin hier und fühle mich fremd, entfremdet – und was tue ich nun? Gelingt es mir, mein eigenes Begehren mit dieser Situation zu verbinden, mich selbst und persönlich einzubringen, tätig und aktiv zu werden? Oder bin ich blockiert, frustriert, verängstigt, ablehnend, weil ich das Fremdsein – und das Fremde – nicht ertrage?

Diese Frage ist natürlich auch höchst aktuell und politisch. Es ist die Frage nach der Differenz und unserem Umgang mit ihr.

Die sexuelle Differenz und die Existenz des Anderen

Das Fremde, das Andere, die Differenz und die Frauen haben sehr viel miteinander zu tun. Nicht nur, weil Frauen sich so oft fremd fühlen, während viele Männer sich einfach überall zu Hause zu fühlen scheinen, ganz egal, wo sie hinkommen.

Man könnte sogar sagen, die Frauen und das Fremde sind gleichzeitig erschaffen worden.

Die Geschichte der Menschheit begann – nach der Schöpfungserzählung der hebräischen Bibel – mit einer Entfremdung. Das Menschenwesen, auf hebräisch: Adam, das eins war mit sich und seiner Umgebung, das kein Geschlecht hatte und keine Sorgen, das ohne Mühsal und Widrigkeiten im Paradies lebte, war einsam. Es beklagte sich bei Gott und verlangte nach einem Gegenüber. Also schuf Gott die Frau. Und mit der Frau die sexuelle Differenz, und mit der sexuellen Differenz den Mann.

Adam, das geschlechtslose Menschenwesen, das eine, ganzheitliche, un-getrennte und un-entfremdete gibt es seither nicht mehr. Es gibt auf der Welt nur Frauen und Männer, möglicherweise noch andere Geschlechter, aber nicht mehr das Menschenwesen schlechthin.

Menschsein ist also nicht Eins-sein. Menschsein ist viele sein. Dafür steht die Schöpfung der Frau, die gleichzeitig auch die Schöpfung des Mannes als geschlechtliches Wesen ist.

Mit der Erschaffung der Frau, mit der sexuellen Differenz also, kam im Übrigen auch die Politik in die Welt: die Notwendigkeit, über die eigenen Wünsche mit anderen zu verhandeln, das Streben nach Erkenntnis, Diskussionen über gut und böse, die Notwendigkeit, eigene Urteile zu fällen und die Welt zu gestalten, zu Zweifeln, Dinge in Frage zu stellen, Antworten zu finden und wieder zu verwerfen. Sich mit anderen zusammen und auseinander zusetzen. Kurt gesagt: Die Welt nicht einfach nur passiv zu genießen und zu betrachten, sondern sie selbst gestalten, bearbeiten zu müssen, um überleben zu können. Mit Mühe und mit Freude.

Das Essen vom Baum der Erkenntnis war – nach jüdischer Interpretation – kein Sündenfall, sondern eine notwendige und unausweichliche Folge der Tatsache der sexuellen Differenz. Wenn der Mensch nicht mehr eins ist, sondern zwei, drei, vier oder sechseinhalb Milliarden, dann gibt es das Eine nicht mehr. Dann kann man nicht mehr einfach tun, was man will. Dann wollen die einen dies und die anderen etwas anderes. Dann geht nicht immer alles so einfach, dann gibt es Hindernisse und Widerstände, wenn ich mit meinen Wünschen in der Welt aktiv werde. Es gibt die anderen und damit die Notwendigkeit, mich mit diesen Anderen in eine Beziehung setzen. Eine Beziehung, die gleichzeitig konfliktreich und lebensnotwendig ist.

Wenn ich, eine Frau, über Entfremdung nachdenke (oder auch unter ihr leide und über die entfremdeten Umstände klage), ist es also wichtig zu sehen, dass ich meine eigene Existenz, die Existenz einer Frau also, dieser grundlegenden Tatsache verdanke, dass es eine Entfremdung von dem paradiesischen Zustand des einen Menschenwesens ohne Geschlecht, ohne Differenz, ohne Konflikte, ohne Notwendigkeiten gegeben hat.

Meine Existenz, die Existenz einer Frau, ist abhängig von der Existenz des Anderen, und das andere ist immer das Fremde.

Das gilt im Übrigen eigentlich auch für den Mann, es gilt für alle Menschen.

Bekanntlich hat aber der Mann den Namen des geschlechtslosen Menschenwesens, Adam, für sich reklamiert. Hat sich selbst Adam genannt und somit behauptet, nach wie vor für die Ganzheit, das Eine, zu stehen. Und damit gleichzeitig die Frauen, wie alle anderen Anderen, zu den ihm Fremden erklärt. Hat also das Fremdsein nicht als eine Grundtatsache des Menschseins gesehen, sondern als eine Abweichung von sich selbst.

Fremd zu sein, das ist seither etwas, das sich auf den Mann und die von ihm gesetzte Norm bezieht – und nicht auf Gott. Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat darin den eigentlichen Sündenfall gesehen: Nicht im Essen vom Baum der Erkenntnis, sondern darin, dass sich der Mann den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes gesetzt hat – und dass die Frauen das zugelassen haben.

Wenn wir uns bei dieser Tagung mit diesem Phänomen der Entfremdung, des sich Fremd und fehl am Platz fühlens, des nicht-Richtig-seins beschäftigen, ist es deshalb wichtig, zu fragen: Entfremdung wovon? Geht es um das Fremdsein, das die Grundlage unserer, der menschlichen Existenz ist, insofern Menschsein Vielesein heißt? Oder geht es um das Fremdsein im Hinblick auf das Männliche?

Die Frauenbewegung hat manchmal den Fehler gemacht, das Fremdsein der Frauen nur in diesem letzteren Sinne zu verstehen: Wir haben gedacht, ja, wir sind fremd in dieser Welt, weil wir nicht so sind wie der Mann – was im Patriarchat ja ein nahe liegender Gedanke war. Weil wir nicht dieselben Rechte haben, weil wir nicht die gleichen Möglichkeiten haben, weil wir nicht dieselbe Erziehung bekommen, weil wir nicht genauso viel Geld haben. Das ist alles richtig, und es ist gut, dass Frauen, der Emanzipation sei Dank, sich hier viele Möglichkeiten und Chancen erkämpft haben.

Allerdings hat diese Sicht auch so ihre Tücken: Denn das männliche Denken enthält heute nämlich eine verführerische Einladung, nämlich das Versprechen, das Fremdsein, die Entfremdung könnte überwunden werden. Anders gesagt: Sie bieten uns den Namen Adam an. Könnten wir nicht alle wieder geschlechtslose Menschenwesen werden? Aufgehoben in einer höheren Einheit, die die schmerzlichen Differenzen des Fremden nicht mehr kennt? Ein verlockendes Angebot: Dies ist der große Traum der männlichen Philosophie. Schon immer gewesen. Nun aber sind wir, die Frauen, eingeladen, als ihresgleichen daran mitzuträumen: Nicht mehr Frau zu sein, sondern Mensch, Adam, eins mit uns, mit Gott und der Natur. Wie gesagt, ein verlockendes Angebot.

Das männliche Konzept des Eins-Seins

Die Vorstellung, es könnte ein Eins-Sein geben, einen nicht entfremdeten Zustand, zieht sich durch die gesamte männliche Philosophiegeschichte. Da wurden Utopien entwickelt von idealen Welten und idealen Staatssystemen, Gebote wurden aufgestellt, deren Beachtung die Rückkehr zu paradiesischen Zuständen versprach, Religionen wurden erfunden mit nur einem Gott, dem Einzigen, der als oberster Richter die Differenzen unter den Menschen auflöst, Seelenzustände der Erleuchtung erträumt, in denen der Mensch von den irdischen Widrigkeiten befreit, in voller Harmonie mit sich selbst und allem existieren könnte.

Vor diesem Hintergrund des Idealen erschien die konkrete, tatsächliche Welt, natürlich ziemlich problematisch. Entfremdet eben, entfremdet von jenem Ideal des ganzheitlichen Einen. Während in den alten metaphysischen Religionen jenes Ideal immerhin noch an eine Transzendenz geknüpft war, an etwas Außerweltliches, Jenseitiges, so wurde es später innerweltlich verstanden, als eine reale Möglichkeit.

Besonders geprägt worden in diesem Sinn ist das Wort Entfremdung vor allem von Karl Marx, der den Zustand der Entfremdung als charakteristisch für die kapitalistische Industriegesellschaft beschrieb. Entfremdung tritt nach Marx immer dann auf, wenn die Produzenten sich und ihre eigenen Zwecke nicht mehr in ihrem Produkt wiederentdecken können – also wenn zum Beispiel Arbeiter nur noch irgendwelche stumpfsinnigen Handlungen ausführen, aber nicht mehr wissen, wozu sie eigentlich gut sind. Arbeiter hingegen sind ihrem Produkt entfremdet, weil sie 1. nicht mehr für den Eigenbedarf, sondern für einen anonymen Markt produzieren, weil 2. die Arbeitsprozesse arbeitsteilig organisiert werden, sodass jeder nur noch ein kleines Rädchen im Getriebe ist und 3. die Arbeit fremdbestimmt organisiert wird, d.h. die Arbeiter entscheiden nicht mehr selbst, was sie wann tun, sondern bekommen es von den Unternehmern vorgegeben.

Diese Vorstellung von Entfremdung war vor allem von Georg Friedrich Wilhelm Hegel beeinflusst. Hegel ist ja der Erfinder der Dialektik, was mehr bedeutet als das These, Antithese, Synthese, wie oft gesagt wird. Nein, Dialektik heißt nach Hegel, dass Identität, also Gleichheit, und Nicht-Identität, also Differenz, identisch sind. Er unternahm also den Versuch, Differenz und Gleichheit zusammen zu denken. So interpretierte Hegel alle realen Differenzen, Widersprüche, Gegensätze, Fremdheiten, die auf der Welt zu finden sind, als »dialektische« Entfremdungen, die auf ein übergeordnetes Wirken eines Einen zurückzuführen sind. Er schrieb wörtlich: »Alles, was im Himmel und auf Erden geschieht – ewig geschieht –, das Leben Gottes und alles, was zeitlich getan wird, strebt nur danach hin, dass der Geist sich erkenne, sich selber gegenständlich mache, sich finde, für sich selber werde, sich mit sich zusammenschließe. Er ist Verdoppelung, Entfremdung, aber um sich selbst finden zu können, um zu sich selbst kommen zu können.«

Das »Andere«, so verstanden, ist also gar kein wirklich Anderes. Es ist vielmehr ein Produkt des einen Geistes, der sich in einem Gegenstand manifestiert, sichtbar macht, nur um sich dann wieder mit sich selbst zusammen zu schließen und wieder Eins zu werden. Das heißt, das Andere, das Fremde, wird nur als Verdoppelung des Eigenen, des Einen, des einen Gottes, des einen Geistes interpretiert. Es ist nicht schwer zu sehen, dass dieser eine Geist letztlich ein männlicher Geist ist.

In dieser Logik wird also alles Fremde zum Ent-fremdeten. Damit wird das Fremde letztlich ausgelöscht. Es ist nicht für sich selbst, sondern nur eine Abweichung von dem Eigentlichen, von dem Einen, von der Norm. Eine konkrete Folge dieser Sichtweise war die Auffassung, die Frau sei lediglich eine Verdoppelung des Mannes – je nachdem sein Gegenteil oder sein Gleiches oder eine defizitäre Version davon.

Was aber, wenn es das Eine, das Eigentliche gar nicht gibt? Sondern nur das Viele, das Andere (in Großbuchstaben)? Diesen Gedanken haben wir der feministischen Philosophie zu verdanken, die nämlich die Auffassung, die Frau sei etwas vom Mann abgeleitetes, zurückgewiesen hat. Die stattdessen auf die weibliche Freiheit gepocht hat.

Es ist kein Zufall, dass es speziell die Arbeitsteilung war, die die marxistische Idee der Entfremdung auslöste. Und die erste Arbeitsteilung, lange vor jeder Industrialisierung, war ja die zwischen Frauen und Männern.

Die Existenz der Frauen war immer ein Stachel in dem Einheitsstreben der männlichen Philosophie, denn die weibliche Tätigkeit des Gebärens blieb den Männern vorenthalten. Dies allein zeigt ja schon, dass Arbeitsteilung etwas Normales ist, und sie zeigt auch, dass es Ent-fremdung immer gibt, die Entfremdung des Kindes von der Mutter zum Beispiel und die Ent-fremdung des Mannes vom Geburtsgeschehen. Nur dass daran für sich genommen gar nichts Schlimmes ist, es kommt darauf an, wie die Tatsache der Arbeitsteilung, des Partikularen eben, kulturell organisiert wird. Bekanntlich ist das männliche Denken einen anderen Weg gegangen und hat die mütterliche Tätigkeit des Gebärens nicht als Arbeit, also nicht als menschliche körperlich-geistige Aktivität interpretiert, sondern als Teil der Natur sozusagen ausgeklammert.

Es gibt noch einen anderen Grund für die Notwendigkeit von Arbeitsteilung und damit die Unmöglichkeit einer nicht entfremdeten Existenz im marxistischen Sinne: Nämlich die Tatsache unserer Abhängigkeit. Menschen werden als Abhängige geboren, und sie bleiben jederzeit abhängig, angewiesen auf die Hilfe und Fürsorge von anderen.

Wir können uns nicht selbst helfen, sondern brauchen das Andere, ein Gegenüber, ein Mehr, um uns entfalten, entwickeln und wachsen zu können. Auch dies steht schon im Schöpfungsbericht der hebräischen Bibel: Das Menschenwesen, Adam, steht da, war einsam, denn es fand keine Hilfe, die ihm Gegenüber sein konnte, ezer kenekdo, im Hebräischen, Hilfe als Gegenüber. Nicht eine »Hilfe, die ihm entspricht«, wie es in den deutschen, christlichen Übersetzungen meistens heißt. Das Andere entspricht dem Einen gerade nicht, sondern es ist ihm Gegenüber. Es ist die Differenz, nicht die Gleichheit, um die es hier geht.

Auch diese Tatsache haben Männer wie Marx – und natürlich nicht nur er – aus ihrer Philosophie hinaus definiert. Sie haben ihre eigene Abhängigkeit als Entfremdung thematisiert, also als einen Zustand, der der Erlösung bedarf, der nur vorübergehend ist, der nicht normal ist, der also abgeschafft werden muss.

Und heute sind wir Frauen also eingeladen, uns dieser Sichtweise anzuschließen. Wir sind eingeladen, nicht mehr das Andere zu sein, sondern ebenfalls das Eine, der geschlechtslose Adam.

Meine These ist nun, dass die Ent-fremdung der Frauen, über die wir heute nachdenken, nicht mehr ihr Ausgeschlossen sein aus dem männlichen Kosmos betrifft, sondern vielmehr die Ent-fremdung vom Frau-Sein selbst. Wir sind fremd in dieser Welt, weil wir zwar Frauen sind, diese Welt (und mit ihr wir selbst) aber nicht weiß, was Frausein überhaupt bedeutet. Vor diese Herausforderung hat uns die Emanzipation gestellt, die nämlich oftmals nur möglich zu sein scheint unter Bedingung der Aufgabe des Frauseins. Deshalb sind emanzipierte Frauen heute so oft ihrem eigenen Geschlecht entfremdet.

Dies hat gegenwärtig zwei Tendenzen zur Folge, die ich beide bedenklich finde. Die eine ist die Rückkehr des Biologismus. Kürzlich hörte ich einen Vortrag, bei dem die Referentin die sexuelle Differenz aus der Evolution und der Hirnforschung herleitete, und sie bekam tosenden Applaus von mehreren hundert Zuhörerinnen Diese Faszination deute ich als ein Zeichen dafür, dass es unter Frauen ein großes Bedürfnis gibt, ihrem Frausein eine Bedeutung zu geben – schade nur, dass sie glauben, diese Bedeutung nur in einem Rückgriff auf vermeintlich natürliche, unabänderliche Muster zu finden.

Die zweite Tendenz ist der Dekonstruktivismus, also die Vorstellung, die sexuelle Differenz sei lediglich eine übergestülpte und unbewusst mit unterstützte kulturelle Konstruktion und »eigentlich« gebe es sie gar nicht.

So unterschiedlich diese beiden Modelle zu sein scheinen, haben sie doch eines gemeinsam: Sie legen die Bedeutung des Frauseins von außen fest. Ich bin eine Frau – dieser Satz bedeutet entweder: Ich bin biologisch so und so gepolt, oder er bedeutet: Ich bin von der Kultur so und so gemacht worden. Vor allem aber ist die Vergleichsgröße bei beidem immer und immer wieder der Mann. Frauen sind das nicht-männliche, Frauen sind die anderen des Mannes.

Nein, Frauen sind nicht die anderen des Mannes, sie sind auch nicht die gleichen, wie der Mann, sie sind das Andere schlechthin (in Großbuchstaben). Sie sind anders, als sie selbst. Sie sind anders, als andere Frauen, sie sind anders, als sie es selbst sich vorstellen, und sie werden anders sein, als sie es heute noch sind – jede einzelne Frau, und die Frauen allgemein auch.

Einheit als Beziehung

Das Ideal des Nirvana, des absoluten Eins-Seins, der Perfektion, der universellen Harmonie, ist eine männliche Vision. Sie wollen immer das Reine, das Entweder-Oder. Ich glaube, gerade das Streben nach universeller Einheit und Harmonie ist es, was das meiste Leid verursacht.

Nun könnte man vielleicht entgegnen, dass es doch gerade die Frauen sind, die immer nach Harmonie streben, die Konflikte vermeiden, die nach Ganzheitlichkeit und Zugehörigkeit streben.

Ich glaube aber, das hängt gerade miteinander zusammen: Weil die Männer davon überzeugt sind, dass es das Eine, die Einheit »eigentlich« gibt, sind sie viel weniger ängstlich darin, Konflikte auszutragen, sich zu zerstreiten, Kriege zu führen, andere zum Objekt zu machen oder sogar sich selbst zum Objekt machen lassen. Sie sind einfach überzeugt, dass diese ganzen innerweltlichen Auseinandersetzungen irgendwo »oben« wieder in das Eine zusammenlaufen.

Frauen hingegen wissen, dass diese Einheit eine Illusion ist. Sie befürchten, dass durch Streit und Kriege es zu einer wirklichen Trennung kommen kann, dass beide Seiten auseinanderdriften, möglicherweise die eine die andere vernichtet. Deshalb tun sie mehr als Männer dafür, Harmonie und Einheit herzustellen, was nicht immer nur gut ist. Manche Konflikte, die oberflächlich ruhig gehalten werden, brodeln unter der Oberfläche weiter. Aber die Vorsicht ist berechtigt. Wenn es keinen »einen« Geist gibt, der das Menschliche trotz aller Gewalt wieder zusammenführt, dann sind nämlich wir es, die dafür zuständig sind, dass nicht alles auseinander fällt, dass das Andere, das Fremde, nicht vernichtet wird.

Welche gedankliche Alternative aber hat nun die weibliche Philosophie für den Umgang mit dem Fremden und dem Ent-fremdeten, dem Anderen also, gefunden? Wenn sie dem männlichen Gedanken, es gebe ein übergeordnetes Eines, das alles zusammenhält, mit gutem Grund misstraut?

Es ist die Beziehung. Es ist die Erkenntnis, dass das Andere, dem ich begegne, mir zwar nicht entspricht, dass wir nicht gleich sind, dass wir uns aber dennoch zueinander in eine Beziehung setzten können. Das es etwas geben kann, das zwischen mir und dem anderen vermittelt.

Diese Antwort haben die Frauen zuerst in ihrer privaten und politischen Praxis gefunden – es war nämlich immer die persönliche Beziehung, mit der sie die Verbindung zu anderem hergestellt haben. Ich kann eine Beziehung nicht nur zu Meinesgleichen herstellen, sondern auch zum Anderen, zum Fremden. Ich kann das Andere zwar vielleicht nicht verstehen, aber doch zu ihm eine Beziehung haben. Sogar mehr noch: Nur in einer Beziehung zum Anderen gibt es überhaupt jenes Mehr, das eine Antwort auf mein Begehren, die Veränderungen ermöglicht. Alles andere wäre nämlich nur Selbstbespiegelung.

Zwei Stichworte sind hierfür wichtig: Liebe und Sprache. Liebe ist die Art und Weise, mich persönlich, mit ganzer Person, mit etwas in Beziehung zu setzen.1Und Sprache ist dasjenige Medium, das zwischen mir und dem Anderen vermittelt, mit dem wir uns verständigen können über unser Wünsche, Konflikte, Ansprüche, Erwartungen, über unsere Interessen, das Inter-Esse, das also, was zwischen uns ist, das uns gleichzeitig trennt und verbindet.

Liebe basiert nicht auf Gemeinsamkeiten, auch nicht auf Verträgen – was beides eine gewisse Gleichheit voraussetzt – und auch nicht auf Gefühlen, sondern auf persönlichem Begehren und der Entscheidung, sich in Beziehung zu setzen. Wobei Liebe sich nicht nur auf andere Personen beziehen muss und natürlich schon gar nicht auf die kleine Einheit Paar und Familie, auf die der Begriff in unserer Kultur reduziert werde. Liebe kann sich auch auf Dinge, auf Projekte, auf Tätigkeiten, auf Gott, auf die Welt insgesamt beziehen. Liebe heißt: Ich möchte eine persönliche Beziehung zu dir haben, und zwar auch gerade dann, wenn ich dich nicht verstehe, wenn wir nicht einig sind, wenn ich dich nicht ganz durchschaue. So gesehen gewinnt auch die Aufforderung »Liebe deine Feinde« einen Sinn. Auch einen Konflikt zu führen bedeutet, eine Beziehung zu haben. Das Gegenteil von Liebe wäre nicht Abneigung, Feindschaft oder Hass, sondern Gleichgültigkeit, Abbruch der Beziehung, Desinteresse. Wenn nichts mehr zwischen uns steht, das uns verbindet.2

Die Frauenbewegung hat gezeigt, dass das Lösen und neu Knüpfen von Beziehungen gesellschaftspolitische Veränderungen von großem Ausmaß hervorrufen kann, und ihre Theoretikerinnen haben dies begleitet und analysiert.

Es ist also kein Zufall, dass während die Männer unter Ent-fremdung die Entfernung von dem Einen, die Entäußerung des Geistes und den Verlust ihrer Allmächtigkeit verstehen, Frauen »Entfremdung« meist im Hinblick auf nicht (mehr) gelingende Beziehungen thematisieren.

Ent-Fremdung wäre damit also nicht der Verlust einer Einheit, des Eins-Seins, der Identität, Ganzheitlichkeit und Harmonie, sondern der Verlust der Beziehung, des Interesses. Die Liebe ist verloren gegangen, das Fremde, das Andere ist zwar noch da, aber es gelingt mir nicht mehr, mich und mein persönliches Begehren damit in eine Beziehung setzen zu können. In interessiere mich nicht mehr dafür. Ich bin ent-fremdet im wahrsten Sinn des Wortes, denn ich habe das Fremde verloren, ich begehre es nicht mehr, und deshalb ist es mir auch kein Gegenüber und keine Hilfe mehr.

Die Arbeit am Negativen

Dabei geht es auch um die Frage, wie dieses »Sich in Beziehung setzen« mit dem Anderen möglich ist, wenn dieses Andere eindeutig negativ ist. Denn das Andere ist natürlich keineswegs immer nur ein Mehr, das uns anspornt, herausfordert, weiter bringt in einem positiven Sinne. Das Andere kann unbestreitbar auch böse sein, vernichtend.

Es kann zum Beispiel eine unbefriedigende Arbeitssituation sein, Schlechtigkeit, Missgunst. Sozialer Druck. Armut. Es kann eine Soldatin sein, die Gefangene foltert. Eine Landesregierung, die mich von meinen eigenen feministischen Überzeugungen entfremdet, wenn sie diese benutzt, um in einem Fragebogen Muslime auf ihre staatstreue Gesinnung zu prüfen. Das Andere, das können Neonazis sein, Vergewaltiger, es können Menschen sein, die jede Beziehung zu mir verweigern. Es kann auch etwas sein, das zerstört, der Tod einer Freundin, eine unheilbare Krankheit.

Die männliche Welt des Einen hat auf diese Tatsache, dass das Andere immer auch negative Aspekte hat, mit der Erfindung des Guten und des Bösen reagiert. Gott oder die Vernunft oder der Geist oder was auch immer das Eine repräsentiert, das über allem schwebt, unterteilt die Welt in gut und böse, und es kommt darauf an, sich auf die Seite der Guten zu stellen und das Böse zu bekämpfen. Die Achse des Bösen, wie die amerikanische Regierung es nennt. Die Sünde, wie die christliche Theologie es genannt hat, Satan, der Teufel.

Die brasilianische Theologin Ivone Gebara hat in ihrem Buch über das Böse klarsichtig gezeigt, dass das Böse immer nur das Andere ist. Es gibt keinen Gott, der entscheidet, wer recht hat. Das aber bedeutet: Die einzige Möglichkeit, dem Bösen entgegen zu treten, ist, sich mit ihm in eine Beziehung zu setzen. Nichts anderes bedeutet Feindesliebe.

Wie kann das gehen?

Der erste und nahe liegende Schritt ist natürlich der Konflikt. Wer sich streitet, hat schon eine Beziehung. Ich kann Differenzen aussprechen, versuchen, meine Ansicht zu vermitteln, ich kann streiten. Ich kann vor allem reden – auch mit den Anderen, den Bösen. Ich kann überlegen, was ich in die Waagschale zu werfen habe. Ich kann Verbündete suchen – auch da, wo ich sie bisher nicht vermutet hätte. Unter Männern zum Beispiel. Ich kann Argumente suchen, versuchen, zu überzeugen.

Dies funktioniert aber nicht, indem ich einen prinzipiellen Standpunkt des Rechthabens beanspruche. Jede Beziehung bedeutet unweigerlich eine Öffnung. Anders gesagt: Ich muss dabei meine eigene Position auf’s Spiel setzen. Ohne dieses Risiko gibt es kein wirkliches Gespräch, keinen echten Austausch.Das führt oft zu überraschenden Wendungen, es ist eine hohe politische Kunst. Hingehen und mit den anderen reden.

Natürlich ist schon das nicht einfach. Aber es ist meiner Meinung nach eine große Herausforderung, vor der die Politik der Frauen heute steht. Wie trage ich Konflikte aus? Wie setze ich mich zu dem Fremden, zu dem Anderen in eine Beziehung? Auch wenn ich es für das Böse halte? Hier liegt ein weites Feld, das auch die Zukunft der Welt betrifft. Gelingt es uns, eine andere Weise zu finden, dem Anderen, dem Bösen gegenüber zu treten, als Krieg und Vernichtung (was ja die klassische Antwort der männlichen Tradition war).3

Wie gesagt, prinzipielle Standpunkte helfen dabei nicht. Vor allem dann nicht, wenn das Andere stärker ist, als ich, wenn es vermutlich gewinnen wird. Denn natürlich gibt es auch andere, Böse, die sich jedem Gespräch und jedem Argument verweigern. Aber auch hier gibt es Handlungsmöglichkeiten. Sie liegen nicht im fruchtlosen Patt, nicht im Widerstand auf der ganzen Linie. Es gibt überhaupt keine pauschalen Rezepte für diese Situationen. Nur das Vertrauen darauf, dass mir immer wieder noch etwas Neues einfallen kann, mit anderen Worten, das Vertrauen auf mein Begehren und darauf, dass es ihm auch in den widrigsten Situationen gelingen kann, sich mit ihnen in eine Beziehung zu setzen, ein Interesse dafür aufzubringen, durch das, was zwischen uns ist, eine Verbindung herzustellen.

Chiara Zamboni hat mir einmal von einer Frau erzählt, die einen Weg gefunden hat, in diesem Wissen um ihr eigenes Begehren mit einer unheilbaren Krankheit umzugehen, einer Krankheit von der sie wusste, dass sie sie irgendwann töten wird – wohl der krasseste Ausdruck des Negativen, das man sich wohl vorstellen kann. Sie hat einen Weg gefunden, nicht ständig mit ihrer ganzen Person gegen diese Krankheit anzurennen. In einer Pattsituation, wenn sie keinen Ausweg mehr wusste, vielmehr einen Schritt zurück zu treten. Zug um Zug vorzugehen, wie bei einem Spiel. Nicht bis ans Ende des Konfliktes planen, sondern sich auf den nächsten Schritt zu konzentrieren. Auf jeden Zug des Gegners einzeln zu reagieren. Abzuwarten: Was macht die Krankheit als nächstes? Und dann zu überlegen, wie sie mit dieser Situation umgeht. Was sie anbieten kann, wie sie reagieren kann, wie sich sich mit der neuen Situation einrichtet. Und dann abwarten, was der Gegner wiederum als nächstes macht.

Auf diese Weise zeigt sich, dass auch solche von außen betrachtet aussichtslosen Situationen eine ganze Menge Handlungsspielraum beinhalten. Weil, egal unter welchen Umständen, es niemals nur einen einzigen Weg gibt. Es gibt immer, in jeder Situation, auch andere Möglichkeiten. Ich kann immer auch etwas anderes tun. Die Möglichkeiten, etwas zu sagen und etwas zu tun sind nicht begrenzt, sondern unbegrenzt.

Das Fremde in mir selbst

Das Beispiel der Krankheit verweist aber auch noch auf einen anderen Punkt: Und zwar, dass das Fremde, die Ent-Fremdung, nicht nur etwas ist, das sich zwischen mir und der Welt abspielt, sondern auch zwischen mir und mir selbst. Das Fremde, die Krankheit, im eigenen Körper, im eigenen Geist.

Gerade bei diesem Thema ist die Vorstellung vom Heil-Sein als Eins-Sein sehr verbreitet. Heilung, Ganzheitlichkeit, die Ausmerzung der Krankheit, vielleicht sogar der Schwäche, ist ein weit verbreitetes Versprechen, und es ist für viele Frauen vielleicht sogar noch verführerischer als die Einladung zur Gleichheit und zur Emanzipation.

Aber ist »heil« wirklich nur ein gesunder Körper? Bedeutet Gesundheit perfektes Funktionieren? Oder geht es nicht vielmehr auch hierbei weniger um einen Zustand, als vielmehr um eine Beziehung? Also darum, ob ich meinen eigenen Körper ablehne und bekämpfe, oder ob ich mit ihm in eine Beziehung trete, in einen inneren Dialog (der durchaus auch als Streit verlaufen kann)? Weil ich nämlich weiß, dass ich meinen Körper brauche, dass er ich ist, auch wenn er nicht funktioniert und ich furchtbar wütend auf ihn bin?

Die Entfremdung von mir selbst betrifft aber nicht nur die Differenzen zwischen meinem Ich und meinem Körper, sondern auch viele andere Aspekte des Verhandelns zwischen mir und mir selber. Immer wenn das Begehren im Spiel ist, geht das Verhandeln nämlich los. Denn das Begehren richtet sich immer auf das Neue, auf das Noch nicht, das aber allein dadurch, dass ich es begehre, bereits in den Bereich des Vorstellbaren und Möglichen rückt.

Wirkliche Entfremdung, diejenige, die uns nicht anspornt und in Bewegung setzt, sondern die uns lähmt und blockiert, ist deshalb nicht die Differenz zwischen mir und anderen oder zwischen mir und der Welt, so wie sie ist, mit allen ihren Macken und Schwierigkeiten. Sondern die wirkliche und problematische Entfremdung ist die zwischen mir selbst und meinem eigenen Begehren.

Eins-Sein als Transzendenzerfahrung

Wie aber kann diese Entfremdung, der Verlust der Beziehung zum Anderen also, überwunden werden? Wenn es nicht nur um die Beziehung zu diesen oder jenen anderen ist (in Kleinbuchstaben), sondern zum Anderen schlechthin?

Viele Frauen haben diese Überwindung in der Tat erfahren. Oft beschreiben sie dies als eine spirituelle Erfahrung. Einssein, Harmonie, Perfektion, Erleuchtung – das alles gibt es. Aber wie immer man diesen herrlichen Zustand der Nicht-Entfremdung (das Eins-sein mit dem Anderen – in Großbuchstaben – das nicht das Aufgehobensein im Sinne der Hegel’schen Dialektik bedeutet, sondern ein echtes und unaufhebbares Paradox) bezeichnen will, es ist kein Zustand, den man ein für alle Mal erreichen kann. Sondern es ist eine Transzendenzerfahrung. Es ist die Überschreitung einer Grenze, die Verbindung mit dem Anderen, in Großbuchstaben, also nicht dem anderen unserer selbst, sondern dem ganz Andren, mit Gott. (Gott ist das Andere in der weiblichen Mystik)

Chiara Zamboni hat es einmal als Lichtfunken einer anderen Welt beschrieben, die uns orientieren können. Dorothee Markert hat von 100-Prozent-Situationen, die vergänglich sind, die aber unser Begehren wecken, wieder dorthin zu kommen. Es sind spirituelle, mystische Situationen, indem wir die Nicht-Erfremdung erfahren können – nicht unbedingt solche, die in ein Ritual oder einen Kult eingebunden sind, sondern auch ganz Alltägliche. Ein gutes Buch, das mir neue Sichtweisen ermöglicht, »Geistesblitze«, plötzlichen Erkenntnisgewinn. Ein intensives Gespräch, bei dem, ohne dass ich weiß, wie, neue Ideen geboren werden. Erlebnisse in der Natur, die mich die Verbindung mit dem Anderen körperlich spüren lassen.

Diese Transzendenzerlebnisse, die Erfahrung, dass die engen Grenzen des Gegebenen nicht starr und unüberwindlich sind, sondern durchlässig, das »Licht der Qualität in der Welt«, wie Chiara Zamboni es nennt, rühren die Seele an. Sie sind vergänglich, aber sie hinterlassen Spuren. Sie hinterlassen nämlich ein Begehren, eine Sehnsucht, diese Qualität wieder zu erleben. Und sie werfen ein anderes Licht auf die alltäglichen Situationen, in denen ich diese Qualität vermisse.

Wenn ich weiß, was ein gutes, kreatives Gespräch ist, bei dem ich weiter komme, das mir hilft, mich von meinen Vorurteilen zu lösen, das neue Ideen hervorbringt – dann werde ich nicht mehr zufrieden sein mit banalem Smalltalk. Wenn ich erfahren habe, wie eine schöne, ruhige Umgebung meinen Geist und Körper öffnet und ihnen gut tut, dann werde ich mich nicht so leicht damit abfinden, ständig von Lärm und Getümmel und schlechter Luft umgeben zu sein. Wenn ich erfahren habe, wie gut die Arbeit vorankommt und wie sinnvoll sie ist, wenn ich in einem Team arbeiten kann, das auf Vertrauen und Autorität gründet, dann werde ich nicht mehr sagen, dass solche Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen nicht möglich sind, weil doch nur jeder den eigenen Interessen folgt.

Dieses Begehren, angelockt von der Transzendenz, dem Einssein, der Harmonie, ist es, was uns bewegt, das uns handeln lässt, erfinderisch sein lässt.

Aber wie lässt sich diese Sehnsucht leben? Nicht instrumentell jedenfalls, sie lässt sich nicht erzwingen, und Wiederholung hilft schon gar nichts. Es nützt nichts, einfach wieder an denselben romantischen Waldsee zu fahren oder mich mit demselben Menschen in derselben Kneipe erneut zu verabreden. Wiederholung ist nichts für die Lichtfunken Gottes. Der Geist weht, wo er will, heißt es ja auch. Gotteserfahrung lässt sich nicht herstellen.

Möglich ist aber, dafür offen zu sein, mit ihr zu rechnen. Dinge zu verändern, die ihr im Weg stehen. Sich nicht abwenden, wenn sie geschieht.

Das Begehren, das aus der Ent-Fremdung wächst, die schon einmal die Erfahrung gemacht hat, dass Grenzen überwunden werden können, dass eine echte Beziehung möglich ist, fordert zu ständigem Experimentieren heraus. Es hat keine Rezepte, ist immer persönlich und unverhofft. Es ist das Wissen darum, dass alles auch anders sein kann, dass es das Andere gibt und dass ich mein Begehren daran knüpfen kann.

Und so entstehen im Übrigen immer wieder neue Entfremdungen. Es ist nicht mehr so, wie es war. Ich bin fremd geworden gegenüber etwas, was mir einst vertraut war.

So hat die Entdeckung ihres eigenen Begehrens die Frauen von dem entfremdet, was einstmals ihre Rolle war. Die anderen Frauen, die noch immer den Bahnen des Patriarchats folgten, sind ihnen fremd geworden. Sie selbst sind sich fremd geworden, haben sich verändert, waren nicht mehr so, wie sie vorher waren.

Begehren bewirkt also eine Entfremdung von sich selbst, von dem, was eine noch ist, aber nicht mehr sein möchte.

Wie definieren wir diese Entfremdung? Als Problem? Oder als etwas, das Neues hervorbringen kann? Wo wir uns Anregungen holen können?

Die Frage ist also nicht: Ist die Welt perfekt? Bin ich ganzheitlich mit ihr im Reinen? Die Frage ist vielmehr: Stehe ich mit der Welt noch in einer Verbindung, ist mein Begehren noch auf die Welt gerichtet, spüre ich noch ein Begehrens, das mich herausfordert, mich und die Welt zu verändern und das heißt, mich mit ihr in Verbindung zu setzen?

Vortrag am 20.1.2006 beim Lachesis-Treffen im Wendland.

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  1. Andrea Günter hat das in ihrem Buch »Weltliebe« kürzlich ausgeführt. Liebe bedeutet ihrer Ansicht nach nicht ein gutes Gefühl der Sympathie und Zuneigung, sondern es ist eine Art und Weise, sich mit etwas in Beziehung zu setzen, trotz aller Differenzen. 

  2. Eine ganze Reihe von Denkerinnen hat dieses Thema, dass das, was die Welt zusammenhält, nicht die Idee des Einen – des einen Geistes, des einen Gottes – ist, sondern vielmehr das äußerst komplexe, stabile, aber auch fragile Netz der menschlichen Beziehungen ist, auch theoretisch bearbeitet. Wichtig zu nennen ist hier noch einmal Hannah Arendt, aber auch schon die christlichen Mystikerinnen. Italienische Philosophinnen haben die Stärke von Beziehungen als Motor politischen Engagements seit den 80er Jahren in einer Reihe von Veröffentlichungen bearbeitet, empfehlen möchte ich Ihnen in dem Zusammenhang auch einige neue Bücher, »Handeln aus der Fülle« von Ina Praetorius, sowie »Sich in Beziehung setzen«, eine Aufsatzsammlung – alle die Literaturangaben finden Sie auf meiner website. 

  3. Antwort ist: Autorität statt Macht. Etwas Wahres sagen, um so das Begehren der anderen zu wecken.