Antje Schrupp im Netz

Demokratie braucht Feminismus

Tischrede beim Frauenmahl Schwerte in der St. Victor Kirche, 6.9.2019

Vor einiger Zeit ging ich zu einem neuen Orthopäden (Rücken). Weil mein Doktortitel auf der Krankenkassenkarte steht, fragen mich Ärzte oft, was für einen Doktor ich habe, vermutlich, weil sie sich vergewissern wollen, ob ich eventuell auch Ärztin bin. Ich sagte also, dass ich nicht Dr. med bin, sondern Dr. phil, Politikwissenschaftlerin. Worauf er mit einer Bemerkung reagierte, die mir zu denken gab. Er sagte: Oh, Politikwissenschaftlerin, das ist ja ein interessanter Beruf in diesen Zeiten, wo die Demokratie vor die Hunde geht.

Na super: Vor hundert Jahren haben wir Frauen das Wahlrecht bekommen. In Deutschland wie in den meisten westlichen Ländern sind wir inzwischen in rechtlicher Hinsicht weitgehend gleichgestellt. Und ausgerechnet jetzt geht das Ganze vor die Hunde.

Ja, man muss fragen: Was haben wir vom Wahlrecht, wenn die Klimakatastrophe kommt und die Erde vielleicht bald unbewohnbar ist? Was nützt uns die Emanzipation, wenn Menschen vor den Toren Europas im Mittelmeer ertrinken? Was bringt unsere Gleichstellung, wenn wir dafür die Care-Arbeit in unseren Familien Frauen aus ärmeren Ländern aufhalsen?

Ja, Frauen dürfen heute mitmachen und mitbestimmen. Aber, und das wird fast von Tag zu Tag deutlicher: Mitmachen alleine reicht nicht. Wir müssen es anders machen. Und zwar dringend.

Feministinnen ist das nicht erst seit heute klar. Die Frauenbewegung hat von Anfang an gesagt: Wir wollen nicht ein größeres Stück vom Kuchen – wir wollen einen anderen Kuchen!

Vor hundert Jahren hatte das noch nichts mit dem Überleben der Menschheit zu tun, aber sehr wohl mit der Erkenntnis, dass die Demokratie, so wie wir sie kennen, einen Konstruktionsfehler hat. Denn man muss doch fragen: Warum kamen die Männer überhaupt auf die Idee, dass Freiheit und Gleichheit nur für manche Menschen gelten kann, aber für andere nicht? Was für eine Idee von Demokratie soll das denn sein, von der man die Hälfte der Menschheit ausschließen kann?

Die westliche Demokratie funktioniert nur, wenn man die Menschen als „Gleiche“ definiert, und das ist ihr Konstruktionsfehler. Ein Satz wie „Alle Menschen sind gleich“ war zwar revolutionär vor dem Hintergrund eine Ständegesellschaft. Aber er ist eben auch offensichtlich falsch. In Wirklichkeit sind NICHT alle Menschen gleich. Man muss also entscheiden, wo die Grenze verlaufen soll: Zwischen den Menschen, die man als „Gleiche“ betrachtet, und denen, die als „Ungleiche“ ausgeschlossen werden.

Wir Frauen haben es vor hundert Jahren geschafft, aus der Kategorie der „Ungleichen“ in die der „Gleichen“ überzuwechseln. Aber das ändert nichts an dem Prinzip. Auch heute sind viele Menschen von der politischen Mitbestimmung ausgeschlossen. Kinder und Jugendliche zum Beispiel. Migrant*innen. Menschen mit psychischen Einschränkungen. Wie lange muss man in Deutschland leben, um das Wahlrecht zu haben? Wie alt muss man sein, damit die eigene Stimme gehört wird? Wie gesund muss man sein, um als „geschäftsfähig“ zu gelten?

Es ist ja interessant, dass die meisten der Jugendlichen, die es jetzt mit ihrer Bewegung „Fridays for Future“ geschafft haben, die Klimakatastrophe auf die tagespolitische Agenda zu bringen, noch gar nicht alt genug sind, um mitzubestimmen. Greta Thunberg ist nicht wahlberechtigt. Viele ihrer Mitstreiterinnen und Mitstreiter sind es auch nicht.

Wenn es um eine drohende Klimakatastrophe geht, sind über Siebzigjährige und unter Dreißigjährige nicht gleich. Wenn in dreißig Jahren vielleicht große Teile der Erde unbewohnbar sind und die Folgen der Erderwärmung nicht mehr nur in armen Weltregionen zu spüren sind, so wie heute, sondern auch bei uns im reichen Europa – dann werden die heute Siebzigjährigen ihr Leben hinter sich haben. Viele von ihnen werden das gar nicht mehr erleben. Aber die heute Zwanzigjährigen, die müssen es ausbaden.

Ist es richtig, wenn Siebzigjährige darüber entscheiden, ob wir Klimaschutz ernst nehmen müssen? Ist das demokratisch?

Ist es richtig, ist es demokratisch, wenn Männer darüber entscheiden, ob Abtreibungen erlaubt sind?

Ist es richtig, wenn weiße Menschen definieren, was Rassismus ist?

Ist es richtig, wenn reiche Menschen darüber entscheiden, wie viel Geld zum Leben reichen muss?

Die italienische Philosophin Luisa Muraro hat einmal gesagt, die Probleme unserer Zeit werden nicht diejenigen lösen, die die schönsten Theorien über die Gleichheit haben, sondern diejenigen, die in der Praxis am besten mit Ungleichheit umgehen können.

Menschen sind nicht gleich, Menschen sind unterschiedlich. Menschen sind Frauen und Männer, Alte und Junge, Gesunde und Kranke, sie sind dick und dünn, sie wohnen auf dem Land oder in der Stadt, sie leben konventionell oder ungewöhnlich, ihre Familien sind seit Generationen in Deutschland oder erst kürzlich zugewandert. Menschen sind aber auch unterschiedlich, weil sie von verschiedenen Themen und Fragestellungen unterschiedlich betroffen sind. Weil sie unterschiedliche Erfahrungen und Lebenshintergründe haben. Weil sie unterschiedliche Meinungen und Wünsche haben. Manche Unterschiede sind naturgegeben, andere veränderbar, manche sind selbst gewählt, andere werden von außen aufgedrückt, manche prägen uns das ganze Leben, andere ändern sich im Lauf der Zeit.

Aber Fakt ist: Menschen sind nicht gleich. Sie sind unterschiedlich. Und so sinnvoll es ist, Menschen in gewisser Hinsicht als „Gleiche“ zu behandeln und sich das Ziel zu setzen, möglichst gleiche Lebensumstände herzustellen, so unsinnig ist es, die Gleichheit der Menschen zur Voraussetzung von politischer Teilhabe zu machen.

Ich wurde gebeten, mein Statement mit einer kurzen These zu beenden, die auf die Frage antwortet, warum Demokratie Feminismus braucht.

Also: Demokratie braucht Feminismus, weil Frauen wissen, wie man mit Ungleichheit umgeht. Weil sie wissen, wie Beziehungen und gemeinsame Aushandlungsprozesse möglich sind, auch wenn die Beteiligten nicht „auf Augenhöhe“ sind. Das liegt natürlich nicht an irgendeinem weiblichen Wesen, sondern einfach an der Geschichte. Als Hausfrauen, Erzieherinnen, Krankenpflegerinnen, Mütter, Ehrenamtliche waren Frauen lange Zeit in besonderer Weise dafür zuständig, sich um die „Anderen“ zu kümmern. Um die, die nicht „gleich“ waren, die, die nicht „auf Augenhöhe“ mithalten können. Feministisches Theorien beschäftigten sich seit langen mit diesem Thema. Jetzt kommt es darauf an, dieses Wissen aus dem Privaten hinaus zu holen, in die Öffentlichkeit, in die Politik.

Wie funktioniert ein gutes Zusammenleben der Ungleichen? Wie können wir in dieser komplexen, vielfältigen und pluralistischen Welt Politik gestalten, bei der am Ende auch etwas herauskommt, die in der Lage ist, etwas im Sinne des Allgemeinwohls zu entscheiden und dann auch umzusetzen?

Der Feminismus verfügt über eine lange Tradition von Ideen und Vorschlägen dazu. Es wird deshalb höchste Zeit, dass wir aufhören, einfach nur mitzumachen, und stattdessen darauf bestehen, es anders zu machen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.