Antje Schrupp im Netz

Chancen des demografischen Wandels – auch in der Kirche?

Handout zum Pfarrkonvent in Hamm, 19.8.2015

  1. Der demografische Wandel bedeutet eine tief greifende Veränderung für die deutsche Gesellschaft. Die Ursachen für diesen Wandel sind überwiegend positiv: Der Hauptfaktor ist eine verlängerte Lebenserwartung (nicht die Geburtenrate).

  2. Man muss sich auf diese Veränderungen einstellen, zum Beispiel die Sozialgesetze. Ob es eine Veränderung zum Positiven oder zum Negativen geben wird, lässt sich nicht vorhersagen, es hängt von unserem politischen Handeln ab. Generell gilt die Faustregel: Wenn man die Entwicklung ignoriert, werden die Folgen negativ sein. Um die Chancen zu nutzen, ist es notwendig, sich den Herausforderungen realistisch zu stellen und aktiv zu werden.

  3. Der Wandel verläuft je nach Region unterschiedlich, und das erfordert auch unterschiedliche Maßnahmen. Generell gilt: Förderung von Kindern und jungen Familien und Wertschätzung und Unterstützung von älteren und alten Menschen sind keine Gegensätze, sondern hängen wechselseitig voneinander ab. Eine Welt, in der Alte gut leben, ist eine Welt, in der alle gut leben. Außerdem ist »Altern lernen« eine Aufgabe, die schon mit der Geburt beginnt: Nicht nur der Abschnitt »Alter« ändert sich, sondern der gesamte Lebensverlauf.

  4. Die positiven Chancen, die im demografischen Wandel liegen, gelten für die Kirche als Institution nur eingeschränkt. Die Kirche wird in ihrer Mitgliederschaft stärker schrumpfen als die Bevölkerung insgesamt. Dieser Trend ist unabwendbar, da der demografische Faktor bei der Mitgliederentwicklung längst den Austrittsfaktor überholt hat (mit großen regionalen Unterschieden). Auch eine missionarisch erfolgreichere Kirche wird daran nichts ändern.

  5. Notwendig ist eine altersbewusste Analyse der eigenen Organisation. Zum Beispiel: Der Altersdurchschnitt der Synoden und Entscheidungsgremien liegt deutlich über dem Altersdurchschnitt der Mitglieder, ebenso der der Pfarrerinnen und Pfarrer. Ältere Kirchenmitglieder engagieren sich stärker als junge, aber oft ohne Bewusstsein für ihr Alter (sie halten sich für jung).

  6. Die »Impulse der Jugend« kommen heute nicht mehr automatisch. Wie können junge Menschen überhaupt noch eine Stimme bekommen?

  7. Nicht alle »Alten« engagieren sich in der Kirche. Die EKD-Mitgliedsstudie von 2014 hat zwar ergeben, dass alte Menschen im Schnitt heute immer noch der Kirche verbundener sind als Jüngere. Doch wenn man das mit früheren Mitgliedschaftsstudien vergleicht, ist der Trend stark rückläufig. Menschen werden nicht mit dem Alter quasi »automatisch« religiös. Es ist unwahrscheinlich, dass sie im Alter zur Kirche finden, wenn sie ihr nicht schon vorher verbunden waren. Deshalb lassen sich auch nur wenige für ehrenamtliches Engagement gewinnen, da sie bereits anderweitig ausreichend beschäftigt sind.

  8. Die Veralterung der kirchlichen Mitarbeiterschaft durch die Personalpolitik der letzten Jahrzehnte muss bewusst reflektiert werden. Beispiel: Neue Kommunikationsformen. Was kann mit diesem Personal realistischerweise verwirklicht werden? Vorgeschlagene Maßnahmen: Altersbewusste Einstellungspolitik, aktive Fortbildungsmaßnahmen, Motivation der 40-50-Jährigen, Reflektion der Situation, realistische Angebotsplanung.

  9. Die Alten von heute sind anders als die Alten von gestern, und die Alten von morgen werden anders sein als die Alten von heute. Es ist notwendig, Stereotype in Bezug auf das Altsein zu überwinden. Beispiel: Treffen bald Alt-68er-Kirchenmitglieder auf junge, frömmlerische Pfarrerinnen und Pfarrer?

  10. Die Demografie der Kirche und die Demografie der übrigen Bevölkerung driften auseinander, vor allem in städtischen Bereichen. Was bedeutet es für das Selbstverständnis, wenn die Kirchenmitglieder nicht mehr die Bevölkerung repräsentieren? In welchem Verhältnis stehen Angebote für Mitglieder (Gottesdienste) und Angebote für alle (Diakonie)? Dies wird selten reflektiert, doch das wäre notwendig.

  11. Kirchliche Altenarbeit fokussiert noch zu sehr auf Hilfsangebote angesichts von Gebrechlichkeit und Einsamkeit. Diese Bedürfnislage entspricht aber nur der von hochaltrigen Menschen (in etwa jenseits der 85). Die „jüngeren Alten“ (zwischen 65 und 85 etwa) suchen vor allem nach Möglichkeiten des Engagements und der Mitgestaltung.

  12. Begleitung des »Alterns« als Aufgabe für kirchliche Bildungsarbeit: Gesundheit, Wellness, Spiritualität als notwendiges Wissen, um das Altern zu »managen«. Die Trennung von Qualifikation und Bildung ist nicht haltbar. Aber: Spezielle Angebote für »die Alten« sind nicht sinnvoll!

  13. Ausrichtung der Angebote auf die Zielgruppe der 35- bis 55-Jährigen, die letzte Generation, die noch »evangelisch sozialisiert« wurde, die aber bereits ohne große Kirchenbindung aufgewachsen ist. Es ist für die Zukunft der Kirche eine sehr wichtige Zielgruppe, die aber nur ungenügend angesprochen wird (zum Beispiel wegen fehlender Social-Media-Aktivitäten). Kindergarten allein kann das nicht mehr gewährleisten.

  14. Neuausrichtung der Finanzen: Die Kirchensteuereinnahmen werden ab etwa 2030 recht drastisch sinken (dann gehen die »Babyboomer« in den Ruhestand). Alternative Finanzierungsmodelle schon jetzt erproben: Stiftungen, professionelles Fundraising, Eintrittsgelder, öffentliche Zuschüsse, Erbschaften. Notwendig: Reflektion über kirchliche Entscheidungsstrukturen, wenn »Diakonie« und »verfasste Kirche« tendenziell auseinander driften. Was bedeutet »evangelisches Profil«? Betriebswirtschaftliche Kenntnisse bei Einrichtungsleitungen sollten Voraussetzung sein.

  15. Soziale Probleme als Herausforderung für Diakonie: Die derzeit Alten sind relativ wohlhabend, werden aber kirchlicherseits häufig subventioniert, was ein Fehler ist. Wichtige Aufgabenfelder: Berufsqualifikation für Jugendliche, Förderung von Tauschringen und Nachbarschaftshilfen, professionelle Begleitung im Nebeneinander von Haupt- und Ehrenamtlichen.

  16. Thematisierung der Bedürftigkeit der Menschen. Kritik am autonomen, leistungsfähigen »Selbstversorger«, der nicht mehr die Norm sein kann. Alle Menschen können etwas, kein Mensch kann sich alleine versorgen. Wir alle sind »go-gos, slow-gos und no-gos« – gleichzeitig. Das gelingende Leben ist nicht verfügbar. All das sind Themen, wo Kirchen sich mit eigener Perspektive in den gesellschaftlichen Diskurs einmischen können.

~

Literaturtipp:

Heft „Alter“, 2/3 2015, Der Bürger im Staat, Hrsg. Von der Landeszentrale für politische Bildung Baden Württemberg, kostenlos zu bestellen oder als Download: www.buergerimstaat.de/2_3_15/altern.htm