Antje Schrupp im Netz

Brasilianisches Tagebuch:Salvador de Bahia 1999/2000

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Freitag, 26. November

Antje in Salvador Endlich in Salvador de Bahia. Vier Monate. Nachdem ich in den ersten Nächten immer von Mücken drangsaliert wurde, habe ich es jetzt mit einem Insekten-Abwehrer probiert. Das ist ein kleiner Apparat, in den man so eine Art Plättchen reinschiebt und den man in die Steckdose steckt. Dadurch wird dieses Plättchen erhitzt und gibt dann Düfte ab, die die Insekten aus dem Zimmer vertreiben. Das Plättchen wird jeden Tag ausgetauscht. Vermutlich ist es hochgiftig. Aber es funktioniert. Heute nacht kein einziger Stich.

Samstag, 27. November

Habe mich aufgerafft und bin zum Pelourinho gefahren. Wollte eigentlich ins Theater, aber das war schon ausgebucht. So sitze ich jetzt rum und trinke Caipirinha. Eben kam eine deutsche Touristengruppe, die erkennt man daran, dass sie einen Pullover dabei haben Immer für alles gewappnet. Und Bier in Einzelgläsern bestellen (das Bier kommt hier normalerweise in diesen 0,6 Liter-Flaschen mit mehreren Gläsern für alle Leute, und in einer Steropor-Hülle, damit es nicht so schnell warm wird). Außerdemhabe ich festgestellt, dass es ganz einfach ist, sich ansprechen zu lassen. Man muss nur eine Uhr ans Handgelenk binden und wird alle zehn Meter nach der Uhrzeit gefragt. Den Fehler hab ich heute gemacht.

Sonntag, 28. November

Allein zu reisen ist vor allem dann ärgerlich, wenn man eine halbe Stunde auf den Bus warten muss und niemanden hat zum Zeitvertreib… Manchmal gibt esda aber auch ganz scheußliche Dinge zu beobachten, zum Beispiel vorhin an der Bushaltestelle: Ein junges Pärchen, sicherlich höhere Einkommensgruppe nach den Klamotten zu schließen, eben so jung und schön wie aus der Modebeilage. Und dann fängt das Mädchen an dem Jungen die Pickel im Gesicht auszudrücken oder sonst wie an ihm rumzufummeln. Widerlich! Und er hat das mit sich machen lassen, ohne sich auch nur zu wundern, so als wär sie seine Mama. Es gibt Leute, die sind mir auf den ersten Blick rundherum unsympathisch. Der Gesichtsausdruck, die Körperhaltung, die Bewegungen, einfach alles. Man muss hier übrigens oft auf den Bus warten, weil es eigentlich von überallhin nach überallhin eine eigene Linie gibt, damit man von überall hin nach überall hin ohne Umsteigen kommt. Das ist ganz praktisch, wenn man wenig Geld hat, denn dann kostet es nur eine Fahrkarte. Es ist aber sehr unpraktisch, wenn man sich nicht auskennt. Denn so fahren an einer Haltestelle massenweise verschiedene Busse vorbei und es ist gar nicht so einfach, sich den richtigen rauszupicken. Denn Fahrpläne gibt es natürlich keine. Aber ich glaube, wenn man sich erst mal einen Überblick verschafft hat, muss man auch nicht mehr so lange warten, weil man mehr Busse kennt, die die richtige Strecke fahren.

Montag, 29. November

Im Internet-Café kam ich mit Paula ins Gespräch, die neben mir am Computer surfte. Seit zwei Monaten ist sie hier in Salvador. Sie ist 24 Jahre alt. Hierhergekommen ist sie wegen einem Mann, aber der hat sie enttäuscht. Enttäuscht heißt, er war schon verheiratet und hat sich dann irgendwann nicht mehr blicken lassen. Zum Glück hat sie hier in dieser Pousada, zu der das Internet-Café gehört, einen Job gekriegt und trägt jetzt ein, wie lange die Leute am Computer sitzen. Jetzt hat sie eine neue Liebe über’s Internet kennen gelernt. Er kommt vielleicht nächste Woche. Es ist die große Liebe, und das schwören sie sich jeden Tag, denn sie telefonieren täglich. Sie haben sich schon gegenseitig Fotos geschickt. Aber für den Fall, dass es doch nichts wird, hat sie schon einige andere auf der Warteliste, die sie aber vorerst vertröstet, bis sie die Sache mit dem Prinzen verifiziert hat. Sie war schon mal verheiratet und hat drei Kinder (sic!), die sind bei ihrer Mutter in Alagoas da kommt sie ursprünglich her. Ich war ja schon kurz davor, Neidgefühle zu kriegen, bei all den schönen verliebten jungen Paaren, die einem hier dauernd vor der Nase rumlaufen. Aber wenn da solche Geschichten dahinter stecken, dann verzichte ich doch lieber dankend!

Dienstag, 30. November

Noch ein Monat bis zum großen Jahrtausend-Silvester. Die Zeitungen versorgen uns schon mit guten Tipps und Ratschlägen, wie man es schafft, sich rechtzeitig die richtige Strandfigur zuzulegen. Mit nichts essen und täglich Gymnastik, sagen die Experten, kann man es schaffen, in den vier Wochen vier bis fünf Kilo abzunehmen. Bei wem das nicht langt, der soll das mit der Diät lieber in die Liste der Vorsätze für das neue Jahr aufnehmen…

Mittwoch, 1. Dezember

Das Wetter ist weiterhin so mittelmäßig. Ich versuche hier rauszukriegen, was eigentlich gutes Wetter ist und was schlechtes. Jedenfalls ist es nicht der Unterschied in der Temperatur, denn die ist gleichbleibend hoch so um die dreißig Grad. Gutes Wetter ist natürlich, wenn der Himmel wolkenlos und stahlblau ist. Allerdings ist das Wetter dann so gut, dass man sich den ganzen Tag über eigentlich nicht aus dem Haus wagen kann. Schlechtes Wetter ist natürlich Regen. Aber meistens ist weder das eine noch das andere, sondern bedeckter Himmel. Aber das ist auch nicht immer das selbe. Manchmal ist die Luft richtig angenehm, so dass man zum Beispiel lange Spaziergänge machen kann, manchmal ist sie aber auch richtig drückend und schwül, und das ist dann das schlechteste Wetter von allen. Ein weiteres Problem für die Tagesplanung ist auch, dass sich das alle zehn Minuten ändert. Eben regnets, dann klart es aber auf und es wird ein richtiger Sonnentag. Oder morgens ist die strahlendste Sonne, und wenn du dann am Strand bist, ist das Gewitter da.

Donnerstag, 2. Dezember

Gestern abend war mein erster Besuch in einem Candomblé-Terreiro, und zwar im berühmten Terreno Ilé Axé Opô Afonja. Das Ritual war für Omolu, den Gott der ansteckenden Krankheiten. Das Terreiro besteht aus lauter kleinen Häusern, die den verschiedenen Göttern (Orixás) geweiht sind. In einem weiteren Haus hängen Bilder von allen mães-de-santos die das Terreiro seit seiner Gründung 1910 hatte. Es ist eine Abspaltung des Casa Branca, des ersten Terreiros in Salvador. Das Ritual beginnt gegen 21.30 Uhr und findet in einem großen viereckigen Raum statt, in dessen Mitte den Rand entlang die Mitglieder des Terreiros sitzen, während im Eingangsbereich Besuchertribünen für Leute aus dem Stadtteil und sonstige Gäste aufgebaut sind, links für Männer, rechts für Frauen. Es gibt eine »Band«, die Musik macht (bzw. mit dem Trommelrhythmus der Atabaques die Götter rufen, damit sie sich manifestieren). Die meisten Leute aus dem Terreiro sind weiß angezogen, auch die Mae dos Santos filhas-do-santos, die im Kreis laufen und sich rhythmisch bewegen, nur wenige Männer sind dabei, meistens nur einer. Mãe Estella, die Leiterin des Terreiro, sitzt in der Mitte gegenüber dem Eingang auf einer Art Thron und macht eigentlich gar nichts. Neben ihr sitzen einige Männer, es scheint irgendeine Hierarchie zu geben, aber ich versteh sie nicht. Zuerst fällt eine Frau in Trance, die ein rotes Kleid trägt, das heißt, sie ist filha-de-Iansã, die sich offenbar als erste manifestiert. Dann fällt etwas später noch eine Frau in Trance, die tiefe Schreie ausstößt, das heißt, Omolu ist jetzt auch da. Dann passiert eine ganze Weile lang nichts, und schließlich fallen drei Männer und noch zwei Frauen ganz schnell hintereinander in Trance. Nun werden sie von einer Gruppe Helferinnen hinausgeführt, und das ist der Moment, wo auch viele aus dem Publikum rausgehen und wir denken, das Ritual ist jetzt zu Ende. In Wahrheit aber ist nur Pause. Nach einer Weile kommen die alle wieder und die in Trance sind jetzt als Orixás angezogen. Sieben als Omulu mit der Strohperücke auf dem Kopf, eine als Iansã in Rot und mit Schwert, und eine als Ogum in einem blauen Kostüm. Und jetzt laufen sie einfach so rum und mal raus und wieder rein, während die anderen weiter Musik machen. Wenn ein Orixá an vorbeigeht, heben die Leute die Hände in einer Abwehrgeste hoch. Auch die kleinsten Kinder machen das schon. Aber manche werden von den Omolus auch umarmt, zum Beispiel umarmt ein junger fescher die ganzen alten Ladies, die um das Karree rund sitzen, was denen sicher gefällt. Manchmal umarmen sie sich auch gegenseitig. Das geht so eine Weile, und dann werden alle in Trance rückwärts im Gänsemarsch sanft aus dem Haus getrieben, und in ein Nebenhaus verfrachtet. Jetzt scheint die Zeremonie tatsächlich zu ende zu sein, und es gibt Essen für alle. Die ganze Zeremonie hat etwa zweieinhalb Stunden gedauert. Fotografieren ist nicht erlaubt.(direkt zum nächsten Candomblé-Besuch)

Freitag, 3. Dezember

Hier gibt es noch diese Frischhaltefolie, die zusammenklebt, wenn man sie zusammendrückt. Das ist außerordentlich praktisch. Warum klebt eigentlich die Frischhaltefolie in Deutschland nicht mehr? Früher hat sie das doch auch getan! Allerdings haben sie hier auch mehr Bedarf an luftdicht abgeschlossenem Zeugs. Man muss mehrmals täglich die Küche wischen, denn sobald irgendwo ein kleines Krümelchen rumliegt, kommen ganz viele (zum Glück ganz kleine) Ameisen und tragen es weg.

Samstag, 4. Dezember

Kaum in der neuen Wohnung drin und schon was kaputt gemacht. Wollte ein T-Shirt im Waschbecken auswaschen, habe ein bisschen fest draufgedrückt, und da ist das ganze Waschbecken runtergekracht. Das ist nämlich nur mit so ein bisschen Mörtel an der Steinplatte oben festgeklebt. Natürlich geht das dauernd kaputt…

Sonntag, 5. Dezember

Die Sonntage sind eigentlich das Schlimmste hier: Die Shoppingcenter sind zu (beziehungsweise die Geschäfte, die Fast-Food-Dinger sind trotzdem auf), die Kinos sind feiertagsmäßig teurer und die Strände sind absolut überfüllt. Also bleibt man am besten zu Hause – aber: Ich wollte ja eigentlich auch einiges arbeiten hier. Aber bei der Hitze schaffe ich es höchstens, am Computer Tetris zu spielen. Ich kann mich absolut nicht konzentrieren. Und dann gibt es sonntags nicht mal die gewohnte Telenovela, die mich jedes Mal, wenn ich in Brasilien bin, unweigerlich in ihren Bann zieht. Also, was tun? Die derzeitige Telenovela heißt übrigens »Terra Nostra« und handelt von den italienischen Einwanderern um die Jahrhundertwende. Jetzt sind hier alle im Italienfieber, Italienischkurse sind voll belegt und alle sagen dauernd »ecco« und »va bene«…(zum nächsten Eintrag Telenovela)

Montag, 6. Dezember

Man muss schon viel Geduld haben. Diese Langsamkeit und diese Dickfelligkeit der Leute hier ist atemberaubend. Neulich war ich im Supermarkt in der Schlange. Bei der Frau vor mir hatte irgendein Produkt keinen Preis. Also wurde eine Mitarbeiterin gerufen, um den Preis rauszufinden. Also geht sie mit dem Joghurt oder was es war zum Regal, findet den Preis raus, kommt aber nicht zurück, sondern unterhält sich unterwegs erst noch ein bisschen, und als sie damit endlich fertig ist, kommt sie ganz gemütlich und langsam wieder rübergeschlendert. Aber gar nicht provokativ, wie sich das für unsereins anhört, sondern so, als wäre das das Normalste von der Welt. Und für die anderen Leute um mich herum, scheint das auch das Normalste von der Welt gewesen zu sein, jedenfalls hat sich keiner beschwert. Das Gute dabei ist jedoch, das es hier fast überall »Fila Unicas« gibt, also nur eine Schlange, von der von vorne die Leute an die freiwerdenden Schalter verteilt werden. Ich finde das unglaublich entspannend, weil man nicht dauernd nervös ist und befürchtet, sich wieder mal an der falschen Schlange angestellt zu haben. Ich habe das in Deutschland auch mal irgendwo vorgeschlagen (ich glaube, bei der Post im Hertie in Frankfurt), und die Antwort, die man mir gegeben hat, war (ernsthaft), das ginge nicht, denn dann wäre die Schlange so lang und man wolle doch den Leuten nicht das Gefühl geben, dass sie so lange warten müssen. Also: Weil es den Brasilianern nicht so viel ausmacht, lange warten zu müssen, müssen sie letztendlich nicht so lange warten, ist doch schlau, nicht?

Dienstag, 7. Dezember

Am Strand macht es Spaß, die kleinen Jungs zu beobachten, wie sie Capoeira üben. Überschläge und so. Das bietet sich ja auch an, im weichen Sand, und wenn es dann auch noch ein bisschen abschüssig zum Meer runtergeht. Und die sind zum Teil richtig gut.

Mittwoch, 8. Dezember

Gestern habe ich eine unleidliche Diskussion zwischen einer Touristin und einem Busfahrer mitbekommen. Die Busse funktionieren hier so, dass man hinten einsteigt, durch ein Drehkreuz geht und dann 80 Centavos an den Kassierer bezahlt, der hinter dem Drehkreuz sitzt. Und er muss halt abends so viel Geld in der Kasse haben, wie Leute durch das Drehkreuz gegangen sind, das mitzählt. Leute über 60, Kranke mit Ausweis und Polizisten dürfen umsonst mitfahren und steigen vorne ein (Schwangere mit ausreichend dickem Bauch dürfen auch vorne einsteigen, müssen aber trotzdem bezahlen. Wenn man Gepäck dabei hat, darf man das erst vorne einladen, muss dann ganz schnell nach hinten laufen, bevor der Bus wegfährt, und auch durch das Drehkreuz). Nun gut, soweit die Regeln. Diese Touristin nun hat aber das Drehkreuz zweimal gedreht, was passieren kann, wenn man zum Beispiel nicht so dicht auf Tuchfühlung mit dem Vordermann kommen will. Und dann wollte der Kassierer, dass sie den doppelten Fahrpreis bezahlt, weil ihm das Geld ja sonst fehlt. Und sie hat sich geweigert, weil was sind das denn für unmögliche Verhältnisse mit dem Drehkreuz und so weiter. Ich fand das richtig peinlich. Als ob die 80 Pfennig ihr was ausmachen würden!

Freitag, 10. Dezember

Die Herren-Bademode in dieser Saison ist ziemlich ekelhaf: Hosen bis zu den Knien, aber der Bund sitzt so tief, dass man von vorne den Schamhaaransatz sieht und von hinten den Anfang der Arschritze. So als ob die Hose jeden Moment runterrutscht – widerlich!

Sonntag, 12. Dezember

Heute hatte ich wieder einmal ein Erlebnis in der Kategorie: Bin ich froh, eine Frau zu sein. Ich sitz im Bus und fahre Richtung Strand, mit mir im Bus eine Handvoll Strandhungrige und eine große Menge »Camelots«, so heißen die Armen, die sich kalte Getränke, Sandwiches oder Süßigkeiten in eine Steroporkiste packen und sich durch den Verkauf an den Stränden ein paar Reals zu verdienen. Jedenfalls wird der Busplötzlich von einer Gruppe schwer bewaffneter und mit schusssicheren Westen ausgestatteter Militärpolizisten angehalten. Alle Männer müssen aussteigen, sich mit gespreizten Beinen und Hände hoch an den Bus stellen und durchsuchen lassen. Vermutlich Rauschgift. Die Frau in der Bank vor mir sieht offenbar meinen verdutzten Gesichtsausdruck und sagt mir, das sei »fiscalisacão«, offenbar ist sie der Meinung, das würde mir erklären, was hier passiert. Zu hause schlage ich vorsichtshalber noch mal im Wörterbuch nach. » fiscalisacão« heißt »Kontrolle«. Nun, das erklärt es irgendwie ja auch nicht…

Montag, 13. Dezember

Heute hatte ich ein Erlebnis der dritten Art in einer öffentlichen Bibliothek. Ich wollte einfach nur ein paar Bücher nachschauen, bzw. eigentlich im Katalog einmal rauskriegen, was die so alles an Büchern haben. Einen allgemein zugänglichen Katalog gibt es aber gar nicht. Man geht also hin und muss die Bibliothekarin bitten, das Buch rauszusuchen, und die sucht es dann im Computer. Ich habe zum Beispiel irgendwas über Leila Diniz gesucht. Also gibt sie unter »Autor« Leila Diniz ein. Fünf Minuten habe ich gebraucht, um sie zu überzeugen, dass Leila Diniz im Schlagwort oder im Titel stehen muss. Sie hat offenbar nicht den Unterschied zwischen einem Buch von und einem Buch über Leila Diniz verstanden. Nach einer Weile ist sie dann doch drauf gekommen, dass es vielleicht einfacher wäre, mich selbst recherchieren zu lassen (so was Kompliziertes wie mich hatte sie offensichtlich überhaupt noch nicht erlebt in ihrer Bibliothekarinnenlaufbahn). Und – o Wunder – es fand sich ein Buch über Leila Diniz. Nur war das im anderen Saal. Im anderen Saal gab es aber nur Bücher, die man ausleihen kann. Und um Bücher ausleihen zu können braucht man Passfotos und einen »Wohnbeweis«. Dafür reicht zum Beispiel ein Brief aus, der an mich unter meiner Adresse adressiert angekommen ist. So was hatte ich natürlich zufällig grade nicht dabei. Also habe ich die (jetzt zuständige) Bibliothekarin gefragt, ob ich mir das Buch vielleicht erst einmal anschauen kann, um herauszufinden, ob es mich überhaupt wirklich interessiert, bevor ich irgendwann noch einmal mit all den notwendigen Dokumenten wiederkomme. Das hat auch eine Viertelstunde gedauert, bis ich ihr verständlich machen konnte, warum ich nicht weiß, ob mich das Buch interessiert. Weil ich es nicht kenne. Aber warum will ich es dann haben… Jedenfalls hat sich, nach langem Hin und Her herausgestellt, dass das Buch gar nicht da ist. Weder in der Kartei der ausgeliehenen Bücher, noch im Regal. Seither habe ich beschlossen, dass es doch einfacher ist, mir die Bücher, die mich interessieren zu kaufen. Im Buchladen kann ich mir die Bücher nämlich erst anschauen und dann ganz ohne großen Aufwand mitnehmen, wenn ich will und meine Kreditkarte zücke.

Hier in Brasilien werden die täglichen Fernsehserien nur etwa eins, zwei Wochen im voraus gedreht, weil die Handlung sich den Wünschen der Zuschauerinnen anpasst (sie werden ganz überwiegend von Frauen geguckt, weshalb die Intellektuellen sie auch für doof und banal halten). Eine Figur in der Serie, die beim Publikum nicht ankommt, wird rausgekickt, eine, die ankommt, kriegt mehr Sendezeit. Ruckzuck. Das hat natürlich rein wirtschaftliche Gründe (mehr Zuschauerinnen, mehr Werbeeinnahmen). Nun habe ich grade heute eine »intellektuelle« Analyse gelesen, dem Autor ist aufgefallen, dass in letzter Zeit jeweils im Lauf der Folgen die von den Drehbuchautoren eigentlich projektierte weibliche Hauptrolle (Typ braves Mädel, das auf den Prinzen wartet und zwischenzeitlich viel Ungerechtes erleiden muss) zugunsten einer anderen, zunächst als Nebenfigur geplanten, interessanteren Protagonistin an Bedeutung verloren hat. Also: was die Zuschauerinnen wollen, das kommt im Fernsehen, und findet dann irgendwann auch Eingang in das »intellektuelle« Repertoire (wie besagter Artikel beweist).

Mittwoch, 15. Dezember

Weihnachten rückt unweigerlich näher. Obwohl sich bei mir noch kein richtig weihnachtliches Gefühl eingestellt hat, dazu ist es einfach nicht kalt und dunkel genug. Auch wenn wir hier gerade unter einer Kaltfront leiden, die Temperaturen bis zu 24 Grad (!) mit sich bringt (ich hab mich auch schon prompt erkältet). Auch die Nikoläuse hierzulande tragen nicht viel zur vorweihnachtlichen Stimmung bei – hübsche junge Frauen im knappen roten Bikini mit Wattebauschborten! Man erkennt sie eigentlich nur an der Zipfelmütze. Ansonsten ist die Inszenierung des Ereignisses durchaus beeindruckend. Alle Kirchen von Lichterketten verziert, die Straßen und Shoppings sowieso, an jeder Ecke stehen riesige Krippen, Weihnachtsmänner, Engel… Aber trotzdem! Mitten im Sommer! Das Lustige ist, dass das Weihnachtsfest selber hier ziemlich untergeht angesichts der Menge von religiösen Festen. Wir hatten schon das Fest der Heiligen Barbara (oder der Donnergöttin Yansa, je nachdem), das von Marias unbefleckter Empfängnis (die Stadtpadronin von Salvador), das der heiligen Luzia, dann kommt die Schiffsprozession am Morgen des 1. Januar mit wieder einer Heiligenfigur (welche, hab ich vergessen, ich nehme an, der Schutzpadron der Seefahrer oder so) – ich hab mir vorgenommen, so lange wach zu bleiben – dann Mitte Januar die Waschung der Kirche Bonfim mit parfümiertem Wasser und Blumen (zu Ehren von Christus oder Oxalà, wieder wie man’s sieht), dann am 2. Februar das berühmte Fest der Meeresgöttin Yemanjà (das übrigens genau vor unserer Haustür stattfindet, super-Ausblick!) und bis endlich Karneval ist, sind alle schon ganz erschöpft vom vielen Feiern. Die ganzen Stadtteil-Heiligen-Feste hab ich dabei noch gar nicht aufgezählt. Und wer weiß, was ich alles noch nicht weiß. Man gewöhnt sich langsam dran, morgens aufzuwachen, und schon wieder ist Feiertag. Zum Glück sind die Supermärkte trotzdem auf. Es würde sonst zu ziemlichen Versorgungsengpässen kommen.

Freitag, 17. Dezember

Wenn man nicht viele Klamotten am Körper hat, dann schafft das natürlich noch so besondere Probleme. Zum Beispiel das, wo man das Handy unterbringen soll. Und so laufen die meisten Brasilianerinnen und Brasilianer mit dem Handy in der Hand herum (fast alle haben inzwischen eines, seit es diese Kartenhandys gibt, ohne monatliche Grundgebühr). Oder es steckt hinten in der Gesäßtasche und sie müssen es immer herausnehmen, wenn sie sich irgendwo hinsetzen. Also, bei mir würde das nicht lange gut gehen…

Sonntag, 19. Dezember

Ich finde es wunderschön, dass die Supermärkte hier auch sonntags geöffnet sind, wenn auch die meisten nur vormittags. Aber wer kann denn schon immer an alles denken. Und wie viele Leute hier arbeiten! Es gibt natürlich die, die es bei uns auch gibt – die die Regale einräumen, die an der Kasse sitzen, die putzen, die die Zeug verkaufen (bei uns verkaufen sie Käse und Fleisch, hier verkaufen sie das frisch gebackene Weißbrot). Dann gibt es aber noch viele, die es bei uns nicht gibt: Die, die die leeren Einkaufswagen von der Kasse wieder zum Eingang bringen (jeden einzeln und sofort!), die das eingekaufte Zeug in Tüten packen (in viele kleine Plastiktüten, die man auch braucht, weil man, siehe oben die Geschichte mit den Ameisen, den Müll eigentlich minütlich raus in die Mülltonne tragen sollte und dazu braucht man viele kleine Plastiktüten), die die Leute in die verschiedenen Kassen einweisen, dann gibt es die, die Wechselgeld besorgen (das nämlich chronisch Mangelware ist, deshalb sind immer einige mit Geldwechseln beschäftigt), die die Einkaufstaschen der Kundinnen in Plastik einschweißen, damit man nichts klauen kann. Und alle haben, je nach ihrer Funktion, verschiedenfarbige T-Shirts an, auf denen Bompreco steht, das ist der Namen der Supermarktkette. Und die Frauen haben noch ein kleines Bompreco auf der Arschtasche ihrer Jeans aufgestickt (wobei die Jeans aber offenbar ihre eigenen sind, denn es sind lauter unterschiedliche Modelle, ob die das selbst draufsticken müssen?), die Marketingabteilung weiß offenbar genau, auf welchen Körperteilen die Augen ihrer Kunden bevorzugt ruhen. Dann gibt es aber noch Personal mit anderer Uniform, zum Beispiel die uniformierten und bewaffneten Sicherheitsleute an den strategischen Punkten, oder die Herren mit Schlips, die immer gerufen werden, wenn es spezielle Probleme gibt, zum Beispiel, was die Anerkennung von Schecks etc. betrifft.

Montag, 20. Dezember

Heute hab ich noch mal den Versuch mit dem Theater gestartet und bin auch tatsächlich reingekommen. Hinter mir in der Schlange ein Deutscher, auf Rundreise mit dem Super-Varig-Ticket wie alle, im Gespräch mit seinem Reiseführer, der ihm erklärt was Orixas sind und was Capoeira und so weiter. Da kommt er ins Gespräch mit einem Mädel, dasin der Schule Deutsch lernt und jetzt ganz froh ist, das mal in der Praxis zur Anwendung zu bringen. Und immer dieselbe langweilige Konversation: Deutsch ist eine schwere Sprache – ich finde aber, dass Portugiesisch viel schwieriger ist, die Aussprache! Ja, aber Deutsch, da gibt es nicht nur männlich und weiblich, sondern auch Neutrum. Englisch ist die beste Sprache, da gibt es nur ein Geschlecht. Ich war schon mal in Deutschland, im Schwarzwald. Meine Mutter wäre am liebsten dageblieben. Ich würde am liebsten in Brasilien bleiben – puh!

Mittwoch, 22. Dezember

Auf dem Weg zum Strand habe ich eine Stunde auf den Bus warten müssen. Es ist mir nicht klar, in welchem Rhythmus die Busse fahren oder ob die überhaupt einen haben. Manchmal kommen drei derselben Linie direkt hintereinander, manchmal steht man stundenlang rum. Jedenfalls bin ich bei der Gelegenheit mit einem deutsch-brasilianischen Paar ins Gespräch gekommen, die hier Urlaub machen, eigentlich wohnen sie in Deutschland. Das war ganz nett. Es hat schon eine Menge Vorteile, nicht allein am Strand zu sein: Du hast jemand, der auf dein Zeug aufpasst, wenn du ins Wasser gehst oder einen Spaziergang machst, und außerdem kannst du gemeinsam Bier und was zu essen bestellen. Diese großen Bierflaschen bringen’s nicht für eine Person, denn bevor die Hälfte leer ist, ist es schon warm (trotz der Steroporbehälter, die es bis zu einem gewissen Grad kühl halten). Und die Essensportionen sind eben immer für mindestens zwei Personen ausgerichtet, und jeden TagAcarajé essen kann man ja auch nicht. Obwohl das eine echt gute Erfindung ist: Überall an den Straßenecken sitzen »Baianas« herum (das sind diese weißgekleideten Frauen, die man auch überall als Puppen kaufen kann) und verkaufen Acarajé, ein in streng schmeckendem Dende-Öl (Palmöl) frittierter Teigkloß aus Bohnenmasse, in den kleine Tomaten- und Zwiebelstückchen, eine gelbliche Masse sowie eine klebrige grüne Masse eingefüllt werden, bei Belieben auch noch getrocknete Krabben (inklusive Schale und allem). Kostet nur 1 Mark und ist, wenn man den strengen Geschmack mag, eine echte Alternative zum Hamburger. Und ohne die Krabben auch eines der wenigen vegetarischen Essen, die man hier bekommt. Für Kalorienbewusste gibt's die Bohnenasse auch gekocht statt frittiert. Außerdem sind an den Ständen leckere Süßigkeiten aus Kokosmark zu bekommen. Acarajés gibt es nur in Salvador (so ähnlich wie Apfelwein nur in Frankfurt). Ursprünglich diente der Verkauf zur Finanzierung von Candomblé-Terreiros, die Kleidung der »Baianas« ist auch dieselbe, die die filhas-de-santos beim Ritual tragen. Inzwischen ist es aber eine ganz normale Einkommensquelle. Es gibt rund 4000 Acarajé-Verkäuferinnen in Salvador.

Freitag, 24. Dezember

Es ist Heiligabend, und im Haus nebenan läuft auf voller Lautstärke Sakro-Pop den ganzen Abend.Vamos louvar o Senhor.Jesus Christo.

Dienstag, 28. Dezember

Das Waschbecken ist repariert. Die Jungs Hausmeister haben das gut hingekriegt, und so muss es die böse Vermieterin gar nicht merken. Mit den zwanzig R$, die ich ihnen in die Hand gedrückt habe, waren sie überglücklich. Wahrscheinlich habe ich sie hoffnungslos überbezahlt, aber dass sie mir dieses Problem so einfach vom Hals geschafft haben, wäre mir noch viel mehr wert gewesen.

Donnerstag, 30. Dezember

Heute habe ich mir den Fuß verknackst. Hier muss man aber auch wirklich bei jedem Schritt auf den Boden schauen, weil überall Löcher im Pflaster sind. Das geht nur schlecht zusammen mit der Tatsache, dass man auch rennen muss, um in den Bus reinzukommen. Die Busse halten nämlich immer hintereinander, und wenn man nicht fix genug da ist, geht die Tür schon wieder zu. Und so war eben heute genau vor dem Bus, in den ich einsteigen wollte, ein Loch und – knacks. Ich kriege schon allein beim Gedanken daran eine Gänsehaut. Und so laufe ich jetzt mit einem Verband rum, und das, wo ich doch extra zu Weihnachten Silvester-Schuhe geschenkt bekommen habe – weißes und blaues Plastik. Die sehen vielleicht aus, wenn man einen Verband um den Fuß hat… Und so muss ich den ganzen Silvesterabend auf den Beinen sein.

Samstag, 1. Januar

Es ist ein neues Millenium. Der J2K-Bug ist vollständig ausgeblieben, soweit das normale Menschen mitkriegen jedenfalls. Auch was die Feierei angeht, ist von dem anfänglichen Enthusiasmus nicht viel geblieben. Selbst in Rio, wo die größte Feier gewesen sein soll, gab es noch freie Hotelzimmer. Wir haben uns erst die Feiern in Europa angeguckt (am eindrucksvollsten war die Feuerwerkerei am Eiffelturm, fand ich), und dann haben wir gemacht, was hierzulande an Silvester so zu tun ist: Linsen essen (für Geld und Arbeit), und Trauben, aus denen man sieben Kerne herausfischen muss, um sie dann in ein Stück Papier einzuwickeln und aufzuheben (für die Liebe). Die persönlichen Präferenzen für das kommende Jahr werden auch durch die Wahl der Unterhose ausgedrückt: Gelb für Wohlstand, weiß für Frieden, rosa für Liebe und rot für Leidenschaft. Obendrüber ziehen alle weiß an, für den Frieden. Und ein bisschen blau für Yemanjà, die Meeresgöttin. Der muss man eigentlich auch ein paar Blumen ins Meer werfen und über sieben Wellen hüpfen, was wir aber nicht geschafft haben, denn der Strand war schon voll besetzt. Kein Durchkommen (auch wegen meinem Fuß, siehe oben). Also haben wir uns ganz auf das Feuerwerk konzentriert, dass fast eine halbe Stunde gedauert hat(wie in Rio übrigens). Das Eindrücklichste für mich dabei war aber, wie sich die Leute gefreut haben. Jede Rakete wurde überschwänglich beklatscht. Und da hat es auch schon fast gar nichts mehr ausgemacht, dass der Sekt natürlich brühwarm war.

Sonntag, 2. Januar

Heute war Padre Marcello im Fernsehen. Über eine Million Menschen haben in São Paulo seine Messe besucht (die dann in ein Popkonzert gemündet ist), und im strömenden Regen stundenlang ausgeharrt. Jesus-Aerobic. Und der Bischof darf auch seinen Senf und Segen dazugeben. Ich könnte es in einer solchen Massenveranstaltung ja nicht aushalten. Aber, wie gesagt, es wird ja zum Glück alles live im TV übertragen.

Montag, 3. Januar

Ich habe eine kleine Freundin gefunden, Karina. Die verkauft abends immer Erdnüsse in der Kneipe, wo ich öfters mal einen Caipirinha trinke (wisst Ihr, was der hier kostet? 1,50 Mark! Da muss man doch zuschlagen). Jedenfalls ist Karina 10 und kommt jeden Abend mit ihrer älteren Schwester aus Periperi hier nach Rio Vermelho, also aus einem sehr entfernten Vorort, um die Erdnüsschen zu verkaufen, die ihre Mutter vorher hübsch in Papiertütchen einrollt. Nachts um drei fährt sie mit dem Bus dann wieder nach hause. Das dauert eineinhalb Stunden. Ins Gespäch gekommen sind wir zum ersten Mal, als sie mir die Telefonnummer von einem Verehrer an einem anderen Tisch gebracht hat (das kommt hier manchmal vor). Jetzt kaufe ich ihr jedesmal ein paar Tütchen Erdnüsse ab und manchmal essen wir zusammen Pommes Frites und trinken Fanta.

Dienstag, 4. Januar

Gestern abend waren wir in der schicksten In-Disco von Salvador, dem Rock-in-Rio-Café. Es befindet sich in einer Art Shopping- und Fress-Center direkt am Strand, wo alle schicken Leute rumlaufen. Innendrin ist es auf Kühlschranktemperatur runtergefroren, ich hatte zum Glück lange Hosen und feste Schuhe an. Aber die anderen Mädels liefen alle in ihren Spaghettikleidchen rum, die Jungs in Jeans und Poloshirt, alle wie geklont und vollkommen langweilig. Die Musik war eine Mischung aus hr3 und Planet Radio und ausgesprochen bieder für eine In-Disco. Ich kam mir vor wie in einer deutschen Dorfdisco aus den achtziger Jahren. Das Publikum fast durchgängig weiß, und das in einer Stadt mit 80 Prozent schwarzer Bevölkerung. Das sagt ja schon alles. Das Beste war der Rock-in-Rio-Café-Cocktail, den man auch guten Gewissens trinken konnte, da sowieso ein Mindestverzehr vorgeschrieben war. Als dann auch noch eine schreckliche Band kam, die auf schauerliche Weise Dire Straits und U2 nachgespielt hat, haben wir die Flucht ergriffen.

Mittwoch, 5. Januar

Im vorigen Jahrhundert (pardon, im vor-vorigen Jahrhundert, nämlich im 19.), hab ich gelesen, sind die Familien (sprich: die Frauen) nach sieben Uhr morgens nicht mehr an den Strand gegangen. Wenn man die Sommerzeit abrechnet wäre das jetzt also um acht Uhr. Auch noch ziemlich früh. So früh schaffe ich es nicht mal, aufzustehen, geschweige denn am Strand zu sein. Die Sommertipps für dieses Jahr sind: Keine Sonnenbäder zwischen 11 und 17 Uhr. Und dann auch nur mit Sonnenmilch Lichtschutzfaktor 15. Ja, wie soll man denn da braun werden?

Donnerstag, 6. Januar

Gestern waren wir auf der Insel Itaparica. Da fährt man für 2 R$ eine Stunde gemütlich mit der Fähre hin, mit wunderschönem Ausblick auf die Skyline von Salvador. Die Insel ist sehr ruhig und schön, aber es scheint irgendwie mit ihr bergab zu gehen. Jedes zweite Haus ist zu verkaufen. Dafür war der Strand aber trotzdem noch ziemlich voll, aber es gab keine Wellen, so dass auch ich mal reingehen konnte. Ich hab doch sonst immer so viel Angst um meine Brille…

Freitag, 7. Januar

Heute kam im TV die Nachricht, dass nach einer neuen Untersuchung von allen Jugendlichen die in Rio sterben, ein Drittel erschossen wird. Sie wollen jetzt nächste Woche ein Gesetz machen, das das Tragen von Schusswaffen verbietet.

Samstag, 8. Januar

Ich sitze an der Lagune von Abaeté und genieße eine relative Ruhe. Diese Lagune ist umgeben von schneeweißen Sanddünen und unglaublich idyllisch. Man hat auch bei dieser Hitze große Lust, einfach schnell mal reinzuspringen. Tatsächlich tummeln sich auch Unmengen von Menschen in dem kühlen Nass, und vor allem kleine Kinder, die hier schön spielen können, weil es, anders als am Meer, keine Wellen gibt. Wenn ich nur wüsste, warum dieses große Schild da steht »Baden sehr gefährlich«. Krokodile gibt’s hier keine. Es muss wohl die Verschmutzung sein… Also sitze ich lieber in einer der Bars und gucke mir die Natur nur an, statt mit ihr auf Tuchfühlung zu gehen. Leider wird wieder die unvermeidliche laute Live-Musik gespielt, für die man immer extra was bezahlen muss, und die einem doch nur auf die Nerven geht, weil es ja doch nur die immer gleichen drei Sommerhits sind. Sowas wie Ruhebedürfnis scheinen die Leute hier überhaupt nicht zu kennen. Jetzt fängt auf der anderen Seite auch noch einer an, zu spielen. Und ich sitze sozusagen mitten im Kreuzfeuer. Zeit, die Flucht zu ergreifen…

Montag, 10. Januar

Gestern war ich im Planeta Zoo. Das ist ein kleiner Privatpark, der am Wochenende für Publikum geöffnet hat. Allzuviele Tiere gibt es allerdings nicht, ein paar Vogelkäfige, und die Attraktion ist ein neugeborenes Lama. Auf Mutter Lama dürfen Kinder reiten. Und ein Vogel Strauss ist in einem ganz kleinen Gehege eingesperrt, so dass man ihn von ganz nah betrachten kann. Allzu ökologisch finde ich das nicht, aber es hat einen Preis dafür gegeben (Ökotourismus oder so). Das beste ist sowieso das kleine Schwimmbad dabei. Und dafür geben die Leute viel Geld aus, dass sie hier mal einen richtig netten Sonntag verbringen können. Der Eintritt kostet nämlich satte 8 R$ und die Preise für Getränke etc. sind glatt doppelt so teuer, wie üblich. Ich scheine übrigens schon stadtbekannt zu sein. Jedenfalls hat mich auf dem Weg zum Klo eine hübsche junge Frau angesprochen, die mich aus dem Waschsalon kennt, wo ich meine Wäsche immer hinbringe. Sie arbeitet da. Wir haben uns dann eine Weile unterhalten, denn sie war auch alleine dort. Ich habe mich aber nicht getraut, sie zu fragen, was sie denn eigentlich da macht. Verdient sie im Waschsalon so gut? Der Mindestlohn liegt bei rund 140 R$ im Monat. Wieviel mehr als den Mindestlohn wird man wohl verdienen, wenn man im Waschsalon arbeitet? Oder vielleicht ist sie so auf der Suche nach einem reichen Ehemann?

Dienstag, 11. Januar

Aeroclube Plaza Show – das gibt es seit einem Jahr. Eine Art Shoppingcenter am Strand, hauptsächlich mit Klamottengeschäften und Restaurants und Fastfood und eben dem »Rock in Rio Café«. Da sind sie in Salvador furchtbar stolz drauf und es ist auch tatsächlich abends immer gerammelt voll. Dabei gibt es hier eigentlich gar nichts Interessantes. Das beste ist einerstklassiges Sushi-Fast-Food, wo man sich für 15 Mark mit rohem Fisch so richtig satt essen kann. Und in diesen Algenröllchen sind Mangostückchen drin! Wie intensiv so eine Mango schmeckt, das ist ja unglaublich. Der Geschmack überdeckt alles andere.

Mittwoch, 12. Januar

Meine Haut ist vom Meer schon ganz samtweich, und meine Haare haben blonde Strähnchen gekriegt, auch die Häarchen auf den Armen und Beinen sind ganz hell. Bloß brauner werde seit einiger Zeit schon nicht mehr. Irgendwie scheint da eine Stagnation einzutreten. Ob ich wohl schon an meinem Limit bin? Aber so dunkel bin ich eigentlich noch gar nicht.

Donnerstag, 13. Januar

Lavagem do Bonfim, die alljährliche Wäsche der Christuskirche, die die berühmteste Kirche in Salvador ist (die mit den Bändchen). Hunderte von »Baianas«, das sind diese weißgekleideten Frauen von den Postkarten, waschen die Kirche mit parfümiertem Wasser und schmücken sie mit Blumen.Das ganze ist eine Art Ritual für Oxalà, den Schöpfergott aus dem Candomblé, der – ist ja auch irgendwie logisch – nicht mit irgendeinem popeligen Heiligen gleichgesetzt wird, sondern eben mit Jesus Christus höchstpersönlich. Und der daher auch in dieser Kirche verehrt wird. Den offiziellen Eigentümern des Gebäudes ist das nicht so ganz geheuer, und deshalb schließen die Katholiken die Kirche an diesem Tag lieber ab. Ich bin tapfer die ganze Prozessionsstrecke von neun Kilometern mitgelaufen, natürlich war ausgerechnet an diesem Tag kein Wölkchen am Himmel. Aber die Aldi-Sonnenmilch ist wirklich klasse. Die ganze Wegstrecke war eine große Feier, mit Ständen, Musik, Bierverkäufern und so weiter. Und natürlich alle besoffen. Das Schrecklichste waren die berittenen Ritter der Sowieso-Partei, die mit ihren Reitkünsten angeben mussten, und immer durch die Menschenmenge geprescht sind. Als wir dann endlich bei der Kirche ankamen, war die Wäscherei schon voll im Gange, und niemand hat was davon mitgekriegt. Denn der ganze Kirchenvorplatz war für Politiker, geladene Gäste, besonders gutbetuchte Touristen und natürlich die nationale und internationale Presse reserviert. Selbst einige Baianas konnten nicht dahin vordringen. Wir, das normale Volk (zwei Millionen sollen es gewesen sein), schon gar nicht. Nur hinterher. Einige Baianas haben sich dann noch dafür bezahlen lassen, die Reste ihres parfümierten Wassers über die Köpfe der Gläubigen auszusprenkeln und dafür Wünsche entgegenzunehmen. Hab ich aber nicht mitgemacht…

Freitag, 14. Januar

Jederzeit kann man hier Kaffee trinken. Der wird von Jungs verkauft, die sich eine Art von Roller gebaut haben mit Seitenleisten, so dass sie vier bis fünf Thermoskannen draufstellen können. Ein Papptässchen voll kostet 15 Pfennig. Manche diese rollenden Kaffeebars sind sogar mit eingebauten Ghettoblaster ausgestattet…

Samstag, 15. Januar

Heute habe ich schon wieder einen so riesigen Fußmarsch hingelegt, sechs Kilometer am Strand lang. Wir haben jetzt schon fast eine Woche nur knallblauen Himmel, und vor fünf Uhr nachmittags traue ich mich tatsächlich nicht mehr aus dem Haus. Auch andere müssen sich in acht nehmen. Ich habe noch nie so viele Schwarze mit Sonnenbrand gesehen. Die Haut wird dann dunkelblutigrostrot. Das sieht fast noch beängstigender aus, als bei Weißen mit Sonnenbrand, da erwartet man das ja irgendwie und ist auch schon dran gewöhnt. Aber bei ihnen sieht das irgendwie brutal aus. Gestern Abend hat in der Kneipe am Nebentisch eine Frau gesessen, die war ziemlich dunkel, und trotzdem hat sich hinten im Nacken die ganze Haut geschält. Ich musste da dauernd hingucken.

Montag, 17. Januar

In Rio ist eine Frau, die oben ohne am Strand lag, von einem Militärpolizisten brutal verhaftet worden – internationale Meldungen, die bis nach Deutschland kamen. Aber nur unter Überschrift: Wer oben ohne am Strand liegt, kommt in Brasilien ins Gefängnis. In Wahrheit war das aber nur ein ausgetickter Irrer (die soll’s ja geben bei der Polizei) und der Vorfall hatte zur Folge, dass die MP in Rio jetzt offiziell angewiesen wurde, oben-ohne-Frauen in Ruhe zu lassen.

Dienstag, 18. Januar

Was mir in Brasilien am meisten auf die Nerven geht, ist die vollkommene Kritiklosigkeit der Menschen. Das dümmste Beispiel dieser Art habe ich gestern abend im Kino erlebt. Das Kino war gut besucht, und als der Film anfängt, ist er unscharf. Und zwar nicht ein bisschen, sondern ziemlich. Gut, denke ich, es wird schon jemand Bescheid sagen gehen. Aber nichts passiert, fünf Minuten, zehn Minuten, mir wird schon ganz schwummrig von den verschwommenen Bildern. Verflixt, denke ich, das kann doch nicht sein. Aber alle gucken ganz begeistert hin, halten verliebt Händchen und tun so, als wär nix. Es ist unglaublich aber war: Ein ganzes Kino voller Brasilianer, aber wer beschwert sich? Die einzige Deutsche im Saal, nämlich ich. Aber immerhin haben sie dann den Film scharf gestellt. Aber diese Unfähigkeit, Negatives auszusprechen (was ja auch immer den Versuch darstellt, die Dinge zu verbessern), ist einfach unglaublich. Und führt zu einer enormen Rücksichtslosigkeit der Menschen. Jeder macht, was er will, weil man muss ja nicht damit rechnen, kritisiert zu werden: Die Männer pinkeln ganz offen auf die Straße, die Leute führen lange Diskussionen am Handy im Kino, mitten im Film, sie schmeißen ihren Müll überall auf die Straße und so weiter. Es gibt in diesen Bereichen keine soziale Kontrolle, weil alle immer so tun, als ginge sie das alles nichts an. Und sich nicht beschweren, ganz egal, wie absurd die Situation ist.

Mittwoch, 19. Januar

Das Shoppingcenter Barra hat jetzt – eine Eisbahn! Auf dem zentralen Platz (da, wo bis vor kurzem der Weihnachtsbaum stand) ist jetzt Eis, und für ein paar Mark kann man sich da jetzt Schuhe ausleihen und so tun, als wär es Winter. Was es natürlich nicht ist. Und dann fällt man also hin und schürft sich die nachten Beine auf, also nee.

Donnerstag, 20. Januar

Heute war ich mal wieder in der Bibliothek und – oh Wunder – ich habe ein Buch bekommen. Mit dem setze ich mich dann an einen Tisch. Aber die Freude war von kurzer Dauer. Es gab nämlich wieder ein unerfreuliches Beispiel für die Rücksichtslosigkeit der Menschen hier, die eine Folge ihrer Unfähigkeit ist, Kritik zu üben. Am Nebentisch sitzen drei Männer, die irgendwas studieren und diskutieren. Das mit dem Diskutieren war ja schon störend genug, eigentlich sollte man sich in einer Bibliothek ja halbwegs konzentrieren können. Aber es kam noch schlimmer. Einer der drei hatte anscheinend eine verstopfte Nase und kein Taschentuch dabei. Im Abstand von wenigen Minuten machte er ohrenbetäubende Schniefer, indem er den Rotz in der Nase hochzog. Ganz ohne sich zu genieren, und außer mir schien sich auch sonst niemand daran zu stören…

Freitag, 21. Januar

Am Strand von Guanabara (in der Nähe von Rio) ist vor einer Woche Öl ausgelaufen (600.000 Liter, aus einem Schiff der Petrobras). Das Umweltamt hat eine Strafe von 5000 R$ für jedes tote Tier ausgesetzt. Jetzt bezahlt die Petrobras jedem, der ihr einen toten Vogel bringt, 5 R$ – ein gutes Geschäft, oder?

Samstag, 22. Januar

Es gibt hier wirklich jede Klasse von Hotelzimmern. Gestern bin ich mit dem Bus durch die Stadt gefahren, und da lag eines mitten in einer Favela. Übernachtungspreis: 5 R$.

Sonntag, 23. Januar

Als ich die neue Veja (so eine Art Pendant zum Spiegel) aufgeschlagen habe, konnte ich es erst mal gar nicht glauben: Kein Artikel über diese Ölkatastrofe. Die wird nur im letzten Absatz eines Artikels über den Oben-Ohne-Skandal erwähnt (s.O.) mit dem Tenor, die Polizisten sollten sich doch lieber um was anderes kümmern, zum Beispiel um Körperteile von Todesopfern, die an Rios Strände gespült werden. Oder eben um Ölkatastrofen. Aber das ist doch vielleicht eine Prioritätensetzung!

Montag, 24. Januar

Mein zweiter Besuch in einem Candomblé-Terreiro, ebenfalls ein sehr altes, Oxumaré im Stadtteil Federacão. Man kann von der breiten Straße Vasco da Gama aus die weißen Treppen sehen, die zu dem Terreiro hinaufführen. Das Ritual ist diesmal für Ogum, den Gott des Krieges. Das Terreno ist viel kleiner als das von Afonjá, besteht aber auch aus mehreren Häusern, die jedoch nicht einzeln über ein großes Gelände verstreut liegen, sondern eher wie bei einem großen Gehöft aneinander anstopen. Das Haupthaus, in dem das Ritual stattfindet, ist mit weißen Girlanden geschmückt, die an der Decke hängen, an den Wänden sind aus blau-glitzerndem Steropor geschnittene Schwerter und Schilde aufgehängt, außerdem ein Bildnis von Ogum. In der einen Ecke steht eine Art Alter mit afrikanische Schnitzfiguren. An der dem Eingang gegenüberliegenden Querwand ist eine Einbuchtung für die Musiker. Es gibt hier nur Trommler, gesungen wird von den Baianas selbst, mit einem vom Babalorixá (ist hier ein Mann) angestimmten Texten. Auch aus dem Publikum singen welche mit. In der Mitte steht eine Art runde Säule, die sie immer wieder küssen, ich konnte aber nicht erkennen, was das sein soll. Im Eingangsbereich trennt eine Art Balustrade den Besucher/innenbereich ab, der für die Frauen ist größer als der für die Männer (siehe Skizze), es gibt nur wenige Sitzplätze, die meisten müssen stehen. Hier wird es während der Zeremonie so voll, dass man eigentlich gar nichts mehr sehen kann. Das Ritual spielt sich genauso ab, wie beim ersten Mal: Erst tanzen die Baianas sich in Trance, dann werden sie »entkleidet«, dann rausgeführt (diesmal nicht durch den Haupteingang, sondern neben raus, wo das Haupthaus offenbar mit dem Seitentrakt verbunden ist). Dann kommen sie wieder in den Kostümen des Orixas, diesmal eben mit Rüstung und Schwertern wie Ogum.(direkt zum nächsten Candomblé-Besuch)

Mittwoch 26. Januar

Heute habe ich mir eine Zeitung gekauft mit dem Titel »TV Brasil«, weil ich dachte, sie würde ein Fernsehprogramm enthalten. Tat sie aber nicht. Es sind nur ausführliche Berichte über die derzeit laufenden Telenovelas drin, die insbesondere erklären, was in der kommenden Woche alles passieren wird und mit Spekulationen darüber aufwarten, wie es wohl weitergeht. Ist ja irgendwie auch klar: Wann die Telenovelas kommen, weiß man ja sowieso. Dafür braucht man sich ja keine Zeitung zu kaufen…

Donnerstag, 27. Januar

Manche Frauen haben hier doch tatsächlich langgewachsene, lackierte und manikürte (nein: pedikürte) Fußnägel!!! Das kann auch nur Leuten einfallen, die das ganze Jahr keine Strümpfe anziehen müssen. Überhaupt fällt mir auf, wie viele Frauen hier geschminkt sind. Und das bei dieser Hitze. Lippenstift!!! Und noch etwas schickes gibt es hier: BHs mit durchsichtigen Trägern. Damit man sie unter das Top ohne Träger anziehen kann und dann sieht es von weitem so aus, als hätte das alles überhaupt keine Träger. Aber weiße Striche kriegt man da natürlich trotzdem, denn die Sonne geht durch das Plastik natürlich nicht durch.

Sonntag, 30. Januar

Nochmal bei einem Candomlé, diesmal in dem schicken Terreiro Pilão de Prata. Hier ist alles gut in Schuss, das Terreiro ist wie ein Condominio von einer Mauer umzäunt mit einem Security-Mann am Eingang. Verschiedene Treppen führen von der Eingangstür runter zum eigentlichen Haupthaus, grün gestrichener Beton soll wohl Sauberkeit mit Naturnähe kombinieren, alles jedenfalls schick gemacht, kein fest getretener Erdboden, sondern alles ordentlich gekachelt und gestrichen. Über das Gelände verteilt gibt es Statuen von den verschiedenen Orixas, alles beschriftet, so dass auch Fremde wissen, um was es geht. Das Gelände führt geht terrassenförmig nach unten, auch wenn man durch das Haupthaus durchgeht. Alle Häuser sind offen und einsichtig, zum Beispiel auch das von Oxalà, das direkt neben dem Haupthaus liegt. Es gibt prächtige Stühle für den Babalorixà und Essen schon während des Rituals, wohl damit die Zeit nicht so lang wird…

Montag 31. Januar

Vorhin hatte ich ein wirklich interessantes Interview mit einer Mae-de-Santos in einem Candomblé-Terreiro, Mae Anice de Oxossi. Ihr Terreiro funktioniert sozusagen im Wohnzimmer in einem ziemlich kleinen Haus, mitten in einem eher heruntergekommenen Stadtteil. Durch die Haustür kommt man in den Fernsehraum (steht nicht mehr drin als Sofa und Fernsehn), rechts geht es ab zum Konsultationszimmer, gradeaus in die Küche und wenn man auch da durch ist, kommt man in den Festsaal, der für die Rituale hergerichtet ist. Lustig. Das Interview war leider weniger ergiebig. Sie hat auf meine Fragen fast durchgängig nur mit Ja oder Nein geantwortet. Sind eben nicht sehr intellektuell, diese Wein.

Mittwoch, 2. FebruarFest der Iemanja

Fest der Iemanjá, der Meeresgöttin, bei uns im Stadtteil Rio Vermelho. Seit gestern werden die Busse schon umgeleitet, es grenzt wirklich an ein Wunder, das trotzdem alles noch halbwegs funktioniert. Am Fischerhafen ist eine Barracke aufgebaut, wo die Leute ihre Opfergaben abgeben können. Ich war zum Glück schon am Vormittag da und musste nur etwa eine Stunde in der Schlange stehen. Reiche und Arme, Schicke und Abgerissene stehen da ganz geduldig, wer nichts dabei hat (wie ich), kann für ein paar R$ Blumen von fliegenden Händlern kaufen, aber die meisten hatten Körbchen dabei mit Blumen, Schmuck, Spielsachen und so weiter, hübsch drapiert und glitzernd. Außerdem kamen ganze Gruppen mit großen Wagen, auf denen ihre Opfergaben hergerichtet waren, meistens noch mit einer Statue von Iemanjá dabei oder einer großen geöffneten Muschel drauf. Nicht nur Candomblés, sondern auch Büroabteilungen, Krankenhausstationen, die Partei der Grünen etc. Viele nutzen das Fest offenbar so als eine Art Betriebsausflug. Als ich nachmittags mich noch mal in das Getümmel stürzte, war schon kein Durchkommen mehr. Viel Bier und Hektik. Habe mir den Rest im TV angeschaut und dabei noch einiges erfahren: Das Fest wurde ungefähr 1924 von den Fischern erfunden, bzw. von ihren Frauen, die weil die Fischer draußen waren und ein Gewitter kam, Iemanjà geopfert haben und tatsächlich sind ihre Männer heil und mit gutem Fang wieder heimgekommen. Seither wird dieses Fest jedes Jahr gefeiert, anfangs ließen sie am Vormittag immer auch noch eine Messe lesen in der benachbarten Kirche, aber in den dreißiger Jahren hat der Priester wohl in seiner Predigt gegen diesen heidnischen Opferkult am Nachmittag gewettert und von da an hat mans mit der Messe eben sein gelassen. So ist Iemanjà das einzige große populäre Fest des Candomblé, das nicht gleichzeitig auch ein katholisches Heiligenfest ist.

Donnerstag, 3. Februar

Die täglichen Telenovelas werden hier ja nur etwa eins, zwei Wochen im voraus gedreht, weil die Handlung sich den Wünschen der Zuschauerinnen anpasst (sie werden ganz überwiegend von Frauen geguckt, weshalb die Intellektuellen sie auch für doof und banal halten). Eine Figur in der Serie, die beim Publikum nicht ankommt, wird rausgekickt, eine, die ankommt, kriegt mehr Sendezeit. Ruckzuck. Das hat natürlich rein wirtschaftliche Gründe (mehr Zuschauerinnen, mehr Werbeeinnahmen). Nun habe ich heute eine »intellektuelle« Analyse gelesen, dem Autor ist aufgefallen, dass in letzter Zeit jeweils im Lauf der Folgen die von den Drehbuchautoren eigentlich projektierte weibliche Hauptrolle (Typ braves Mädel, das auf den Prinzen wartet und zwischenzeitlich viel Ungerechtes erleiden muss) zugunsten einer anderen, zunächst als Nebenfigur geplanten, interessanteren Protagonistin an Bedeutung verloren hat. Also: was die Zuschauerinnen wollen, das kommt im Fernsehen, und findet dann irgendwann auch Eingang in das »intellektuelle« Repertoire (wie besagter Artikel beweist). Das ist doch irgendwie ein schönes Prinzip. Im Moment gewinnt bei Terra Nostra Paula gegen Giuliana…

Samstag, 5. Februar

Weil mir das ständige Baden im Salzwasser-Wellen-Meer auf die Nerven ging (man kann nicht richtig Schwimmen, wird sandig und salzig) habe ich mich heute einfach mal frech an den Swimmingpool vom Othon Palace Hotel gelegt. Da kann man geruhsam in den Pool gleiten, auf sauberen Liegestühlen mit hoteleigenen Handtüchern liegen und Touristen beobachten. Trinken und Essen sollte man nix. Erstens verlangen sie dann den Zimmerschlüssel und man muss eine Ausrede erfinden, warum man den grade nicht dabei hat und lieber bar bezahlen will, außerdem sind die Preise echt gesalzen: 3,30 R$ für eine Kokosnuss, am Stand vor unserem Haus kostet sie 0,60!

Montag, 7. Februar

So, endlich bin ich mal in Morro de São Paulo. Das ist ein Inseldorf, irgendwo zwei Stunden Bootsfahrt südlich von Salvador. Ein echtes Paradies. Keine Autos, weißer feiner Sand an den Stränden, bei Ebbe natürlich Schwimmbecken mit Fischen drin, jede Menge Bars und Restaurants, nachts am vollmondbeleuchteten Strand Cocktail- und Kuchenstände. Was will man mehr. Ausruhen, gucken, braun werden. Da keine Autos fahren, werden die Koffer der Reisenden von Jungs auf Schubkarren zum Hotel transportiert. Wir brauchten einen solchen Service aber nicht. Bikini, Canga und Badeschlappen, zwei T-Shirts – mehr ist hier Überfluss…

Donnerstag, 10. Februar

Die meisten Touristen hier in Morro kommen aus Argentinien oder aus Chile. Die Männer haben lange glatte schwarze Haare und Pferdeschwanz, die Frauen sind blond und nicht besonders schön (wenn ich das jetzt mal einfach so sagen darf) im Vergleich zu den Brasilianerinnen. Und alle nuckeln dauernd an Maateteetassen herum, die so ein argentinischer Mensch offenbar immer im Gepäck hat, zusammen mit einer Thermoskanne mit heißem Wasser. Die Tasse hat einen eingebauten Strohhalm mit Gitternetz unten dran, damit man die Teeblätter nicht mitnuckelt. Eine komische Nationalsucht.

Freitag, 11. Februar

Da man ja nicht immer nur am Strand rumliegen kann, bin ich heute Nachmittag mal spazieren gegangen. Und da wanderte ich immer gradeaus und immer gradeaus, bis es irgendwann zu spät war zum Umkehren. Es war dann aber auch zu einsam und kein Mensch weit und breit, den ich hätte fragen können. Endlich kamen dann aber Vater und Sohn vorbei und sagten mir, es sei nur noch 15 Minuten bis Gamboa, ein anderes kleines Dorf, von dem Boote zurück nach Morro fahren. Klasse, dachte ich mir. Leider führte der Weg dann an einer Kläranlage vorbei und die Straße war deutlich über-kniehoch mit verschmutztem stinkendem Kloakenwasser überschwemmt. Todesmutig durchgewatet. Vermutlich kriege ich jetzt Billharziose oder Denguefieber oder was man sonst so bekommt bei dreckigem stehenden Wasser.

Samstag, 12. Februar

Heute Nachmittag habe ich trotzdem wieder einen Spaziergang gemacht und wurde tatsächlich belohnt. Erst wurde der Weg allerdings immer schmaler und holpriger, so dass man eigentlich gar nicht mehr sah, dass da ein Weg war, aber als ich schon fast aufgeben und umdrehen wollte kam noch eine Kurve und ich stand auf dem höchsten Punkt der Insel, mit herrlichem Rundumblick nach allen Seiten aufs Meer – und mit einer Bar und Stühlen. Bei einer Kokosnuss genoss ich die Aussicht, völlig allein. Das ist auch irgendwie typisch – stellen die unten kein Schild auf, wer soll denn das finden? Stattdessen rennen alle auf den Leuchtturm hoch, wo die Aussicht nicht halb so gut ist und es auch nix zu trinken gibt…

Montag, 14. Februar

Das Strandleben ist richtig erholsam, und es ist auch nett, wenn es nachts einfach so nahtlos weitergeht. Wir haben Vollmond, und es ist auch nachts richtig hell. Besonders besoffen sind die skandinavischen Touristen, für die die Alkoholpreise hier natürlich eine richtige Versuchung sind. Nachts kann man den Leuchtturm von Barra blinken sehen…

Mittwoch, 16. Februar

Wieder zurück in Salvador. Die Rückfahrt im Katamaran war noch schlimmer, als die Hinfahrt. Obwohl das Meer eigentlich ganz ruhig war, hat es so geschaukelt, dass ich die ganze Zeit über höchste Konzentration aufbringen musste, um nicht zu kotzen. Dafür hat es diesmal auch nur 1 Stunde 40 Minuten gedauert (statt 2 Stunden). Von mir aus könnte es auch 4 Stunden dauern, wenn es dafür weniger zum Erbrechen wäre.

Donnerstag, 17. Februar

In der Zeitung stand heute, dass jemand in einem Wohnhochhaus im soundsovielten Stock in seiner Wohnung ein Candomblé-Terreiro eingerichtet hat. Die Nachbarn wollen ihn jetzt rausklagen wegen Lärmbelästigung. Manche Leute haben echt Nerven.

Freitag, 18. Februar

Heute lief hier in den Kinos »The Beach« an. Nach dem Strandurlaub in Morro fand ich den Film richtig obskur. Was soll man schon mit einem solchen einsame-Insel-Charme anfangen? Ein Strand ohne gekühltes Bier ist doch irgendwie nur der halbe Spass…

Sonntag, 20. Februar

Die Brasilianer haben überhaupt keine Ironie. Das fiel mir auf, als ich eben zufällig zwei Kinokritiken über die »Drei Könige« im Golfkrieg las. Der brasilianische Kommentar kommt ganz naiv (so erscheint uns das) daher und erzählte, das hat ihm gefallen und das nicht etc. Während die deutsche Variante sich über Clooney Schönaussehen lustig macht etc. Dieser Stil ist vollkommen verschieden. Genauso naiv und ironielos treiben sie hier auch Politik: Die PT (Arbeiterpartei) schaltet derzeit Spots gegen die »Übernahme« nationaler Unternehmen durch ausländische Investoren und lässt ganz plump einen Typ auftreten, der in seinem eigenen Land nicht mehr verstanden wird, weil alle nur noch englisch, französisch oder deutsch sprechen.

Montag, 21. Februar

Was mir nicht so gut gefällt ist, dass es eigentlich wenig öffentliche Plätze gibt, an denen man sich gut aufhalten kann. Zum Beispiel hab ich die Parks anfangs gar nicht als solche erkannt, denn sie bestehen zu 80 Prozent aus Gebäuden oder gepflasterten Plätzen. Das ist wohl hierzulande ein Zeichen von Zivilisation. Da ist man dann zwar gut versorgt (mit Toiletten, Polizisten, Restaurants), aber es ist eben nicht unbedingt das, was unsereins sich unter Idylle vorstellt. Und die wild-romantisch-verwilderten Eckchen, das sind halt nicht eben die, wo sich unsereins einfach so aufhalten sollte.

Dienstag, 22. Februar

Ich hab's endlich überprüft: Das Wasser läuft hier im Waschbecken in einer Spirale ab, die sich gegen den Uhrzeigersinn dreht. Irgendwo hab ich nämlich mal gelesen, dass das auf der Nord- und Südhalbkugel andersrum ist. Wie ist es im Norden?

Mittwoch, 23. Februar

Die gute Nachricht im Fernsehen heute: Es gibt jetzt in Brasilien ein »Schlangengesetz«, frisch vom Parlament verabschiedet. Das hat nichts mit den Tieren zu tun, sondern mit denen, in denen man rumsteht. Krankenhäuser, Banken, Behörden usw., die die Leute länger als 30 Minuten warten lassen, müssen in Zukunft Strafe zahlen, zwischen 200 und 3000 R$. Leider ist es hier mit den Gesetzen so, dass man erst mal abwarten muss, ob sich auch jemand dran hält.

Donnerstag, 24. Februar

Der neuste Hit ist ein Bier in der Dose, auf die ein Thermometer aufgedruckt ist, das anzeigt, wann es richtig gekühlt ist…

Freitag, 25. Februar

Der Countdount läuft: Noch soundsoviel Tage bis Karneval. Überall werden Gerüste aufgebaut, für die »Camarotes«, von denen aus zahlende Gäste relaxed das Gerummel auf den Straßen beobachten können. Und Millionen Plastikklohäuschen stehen schon rum, die am Ende aber doch wieder nicht reichen werden. Und dann das Aids-Mädchen aus dem Fernsehspot, das seinen Bumspartner vom letzten Karneval zum Aidstest auffordert – sie hat es nämlich, und weiß nicht, ob sie's bei dieser Gelegenheit weitergegeben oder bekommen hat… »Aids – man kann sich so leicht davor schützen wie mans kriegt«. Dass alle durcheinander vögeln beim Karneval scheint hier so allgemein normal und üblich zu sein, dass man fast katholisch werden könnte.

Samstag, 26. Februar

Das Aids-Mädchen aus dem Spot ist in die Kritik geraten. Die »Assoziation fortschrittlicher Schwarzer« (oder so ähnlich) findet, das ist Rassismus, weil die Darstellerin schwarz ist und der Spot würde den Eindruck erwecken, dass man sich von Sex mit Schwarzen Aids holt. Die den Spot gemacht haben, halten dagegen, dass sie eben die beste Schauspielerin gewesen sei, und es wäre doch Rassismus gewesen, sie nicht zu nehmen, blos wegen der Hautfarbe…

Sonntag, 27. Februar

Dieses Jahr wird nicht nur 500 Jahre Brasilien gefeiert, sondern auch 50 Jahre »Trio Eletrico«. 1950 hatten zwei Herren namens Osmar und Dodo die Idee, auf einem LKW oben eine Musikanlage zu montieren und damit durch die Stadt zu fahren, um die Menge von den festmontierten Bühnen unabhängig zu machen. Inzwischen sind diese Trios riesige LKWs, rundum voller Boxen und Millionen-Watt-Anlagen und obendrauf haben sie eine Bühne mit Band. Wenn so ein Trio losfährt, wird rundum eine dicke Kordel gelegt, die von Security-Leuten gehalten wird, die vorne eine Schneise in die Menschenmenge schlagen, damit der LKW durchkann. Innerhalb dieser Kordel laufen massenweise Leute vor und hinter dem LKW mit. In diesen abgetrennten Sicherheitsraum dürfen nur Leute rein, die eine sogenannte »Abadá« gekauft haben, ein T-Shirt oder ein ganzes Fastnachtskostüm, eben im Design des »Blocos« (so heißt dieses ganze Ensemble von LKW, Band und Fangemeinde). Das Ganze kostet für drei Tage so etwa 500-600 R$ (die Preise sind unterschiedlich, je nach Berühmtheit der Band, die die Musik macht und nach Häufigkeit der Rundfahrten), aber das ist nur der offizielle Preis. Da die bekanntesten Blocos schon seit Monaten ausverkauft sind, liegen die Schwarzmarktpreise inzwischen bei dem Doppelten/Dreifachen. Jetzt könnte man sich natürlich fragen: Ist das nicht langweilig, den ganzen Abend nur Musik von einer Band? (ich habe mich das jedenfalls gefragt). Die Antwort ist: Alle Blocos spielen mehr oder weniger dieselbe Musik. Jede der berühmtesten Bands macht jährlich einen Karnevalhits, und alle spielen die Hits von allen. Und das Volk kennt die natürlich schon und kann die entsprechende Choreografie mittanzen, nicht so sehr die eingekauften Mittelständler innerhalb der Kordel, aber ganz bestimmt die Jungs und die Frauen mit ihren Töchtern, die am Straßenrand Bier und Bratspieße verkaufen. Inzwischen gibt es rund 70 Blocos, die während der sechs Karnevalstage eine Strecke von insgesamt 25 Kilometer bespielen, Tag und Nacht (mit einer kleinen Pause in den Vormittagsstunden).

Dienstag, 29. Februar

Die Zahl der Touristen, die zum Karneval angereist sind, ist in den Nachrichten inzwischen schon auf 700.000 angewachsen (in Rio sind es nur 300.000). Der beste Karneval von Brasilien ist also hier! Wir feiern in diesem Jahr übrigens auch 15 Jahre Afoxé. Das sind die Blocos, die von afrikanischer Religion und Kultur beeinflusst sind, und vorher verboten waren. Im Bloco Ilê Ayé dürfen nur Schwarze mitlaufen und die Mãe-de-Santos macht vorher ein Candomblé-Ritual und lässt Tauben fliegen. Im Bloco Filhos de Gandy (Vizepräsident ist Gilberto Gil) dürfen nur Männer mitlaufen..

Mittwoch, 1. März

Die Stadt ist vollends im Karnevalsfieber.Morgen geht’s los. Alle Busse sind umgeleitet, es ist schon erstaunlich, dass die Organisation am Ende dann doch immer wieder funktioniert. »Salvador – Schweiß und Bier« ist das Motto dieser Tage. Im Preis für die Abadás inbegriffen ist übrigens neben T-shirts, Toiletten (im LKW) und Konfetti auch anderes Nützliches, etwa der Konsum von z.B. 36 (jawohl: sechsunddreißig) Bieren in einem »Bloco«, der drei Tage unterwegs ist. Wenn man alle Tage mitläuft, muss man also zwölf Bier am Tag trinken, um nix zu verschenken. Es gibt natürlich auch Leute, die sich keinem dieser Blocos anschließen (ich zum Beispiel) und die sich auch nicht in einen Camarote, eine Ausguckbox einkaufen, die heißen »Pipocas«, Popcorn. Die sind natürlich besonders gefährdet und müssen besondere Sicherheitsvorkehrungen treffen, die in den Tageszeitungen schon ausführlich angekündigt werden. Die gängigsten Tipps sind: T-Shirt und Shorts anziehen und feste Schuhe, sowenig Geld mitnehmen wie möglich, und das an verschiedenen Stellen am Körper verstecken, Schmuck, Fotoapparat und dergleichen – nicht mal dran denken. Okay, darauf wäre ich auch noch von selbst gekommen. Aber darauf nicht: Keinen kurzen Rock anziehen, sondern lieber Shorts. Warum? Dann ist es nicht ganz so unangenehm, wenn dir wildfremde Leute zwischen die Beine greifen (im Ernst, stand so in der Zeitung).

Donnerstag, 2. März

Jetzt ist mir auch die Entstehung der »Polonaise« als Teil der Karnevalssitten eingeleuchtet. Es ist die einzige Methode, bei der wenigstens eine winzige Chanze besteht, sich in dem Trubel fortzubewegen und trotzdem zusammen zu bleiben…

Freitag, 3. März

In São Paulo regnet es, aber die Escolas de Samba desfilieren trotzdem. Ein Wagen sollte eine Madonna zeigen, angelehnt an die Pietà, die einen Indianer-Jesus auf dem Schoß hält. Die musste im letzten Augenblick zugedeckt werden, weil die Kirche einen Gerichtsbeschluss erwirkt hat, der das Mitführen von christlichen Symbolen bei solch heidnischem Treiben verbietet. Das Gemeinste ist: Meine Telenovela kommt heute abend nicht, weil sie Karneval übertragen. Dabei ist sie noch nicht mal an Weihnachten ausgefallen…

Samstag, 4. März

Es gibt außer den Abadás, den Pipocas und den Vips in den Camarotes (braucht Ihr schon ein Wörterbuch?) noch andere wichtige Leute im Karneval von Salvador. Zum Beispiel die Catadores. Das sind die Leute, die die leeren Dosen aufsammeln, pro Kilo bekommen sie ca. 1 Mark. Irgendwie hab ich aber keine Vorstellung davon, wie viele leere Dosen es braucht, um auf ein Kilo zu kommen. Jedenfalls sind sie ziemlich wichtig. So liegen auf den Straßen wenigstens keine Dosen rum, sondern nur Plastikflaschen, leere Kokosnüsse, Papiertüten etc… Nein. Es gibt auch jede Menge Müllleute und Straßenkehrer, die dauernd unterwegs sind und auch sehr hübsche bunte T-Shirts anhaben. Wie auch die Sanitätsleute, die Mac Donalds-Verkäuferinnen usw. Es ist irgendwie auch ein Wettbewerb: Wer macht für seine Peergroup das schönste, bunteste T-Shirt?

Sonntag, 5. März

Der Pelourinho – die Altstadt – ist immerhin für Trio Eletricos gesperrt, das heißt, es geht etwas gemütlicher zu. Es gibt massenweise Umzüge von verkleideten Leuten, zum Teil sogar mit Blaskapelle, und alles sehr schön anzuschauen. Sie spielen manchmal sogar richtige Blasmusik, die sich aber irgendwie nicht so militärisch anhört, wie bei uns. Und eine spielte sogar die Rosamunde (ungelogen). Der deutsche Einfluss auf den brasilianischen Karneval?

Montag, 6. März

Während das ganze Land nachts die Übertragung der Desfiles der Sambaschulen von São Paulo und Rio sehen kann, kommt hier im TV nur Dauerberichterstattung vom Karneval in Salvador. Da es dabei aber nichts zu berichten gibt, weil dauernd dasselbe passiert (Musik-LKWs fahren durch die Stadt und Leute tanzen) ringen sich Reporterinnen und Interviewte vollkommen dämliche Gespräche ab, in denen vor allem die Wörter »Energie«, »Fröhlichkeit«, »der beste Karneval Brasiliens«, »Gute Stimmung« vorkommen. Ober-Langweilig. Erst gegen eins, zwei Uhr nachts wird dann endlich nach Rio oder São Paulo umgeschaltet. Ich habe gestern abend deshalb nur eine Sambaschule mitgekriegt (es gibt sieben pro Nacht und jede dauert eins bis eineinhalb Stunden), und zwar gleich noch die Schlechteste. Irgendwie hatten sie sich anfangs vertrödelt und da die Zeit auf 1 Stunde 25 Minuten begrenzt ist, sind die Leute am Ende praktisch durch das Sambadrom gerannt statt desfiliert, was irgendwie zwar auch lustig war, aber sie haben mir auch schon leid getant. Anschließend wurde dann der Präsident interviewt und der sagte, wieso, es wäre doch eine schöne Vorstellung gewesen. Er fände nicht, dass die Leute gerannt wären. Immerhin: Nach 1 Stunde 24 Minuten waren alle über die Ziellinie…

Mittwoch, 8. März

Aschermittwoch und endlich mal wieder ein Shopping-Center auf. Also konnte ich mir eine Zeitung kraufen. Darin gab es eine Reportage über die heutigen Möglichkeiten für Frauen mittleren Alters (so um die fünfunddreißig, also in meinem Alter, warum halte ich mich eigentlich für jung?), einen jugendlichen Körper zu haben. Es ist auffällig, wie selbstverständlich es hierzulande ist, dass eine Frau Fett absaugen lässt und sich Silikon in die Busen stopft. Eine Fernsehmoderatorin wurde mit den Worten zitiert, dass jede Frau über dreißig mit einer halbwegs annehmbaren Figur so eine Operation gemacht habe (was für mich jetzt eine prima Ausrede ist, denn mein Körper ist natürlich der schlagende Beweis, dass ich so was nie machen würde!). Und ganz selbstverständlich geht die figurbewusste Frau auch zwei bis drei Stunden täglich ins Fitnessstudio – ganz abgesehen davon, dass sie natürlich Kinder hat und auch Karriere macht. Wieviele Stunden hat eigentlich deren Tag?

Donnerstag, 9. März

Heute war ich mal wieder am Strand, aber der war fürchterlich überfüllt. Ich hab nicht dran gedacht, dass man hier die Woche nach Karneval natürlich dazu braucht, sich wieder zu regenerieren, und wo geht das besser, als am Strand? Auf dem Rückweg war ich in der Kirche von Itapuã, die ist echt süß. Lauter alte Kacheln innen drin, aber die Heiligen-Statuen sind alle mit super-kitschigen, verschiedenfarbigen Neon-Leuchtröhren umrahmt.

Freitag, 10. März

Eine der netten Sitten hier, die ich zurück in Deutschland sicher vermissen werde, ist die Angewohntheit der Leute, im Bus die Taschen und Bücher derjenigen, die stehen müssen, auf den Schoß zu nehmen, damit sie sich besser festhalten können. Ich stelle mir das lustig vor, ich steh in der S-Bahn und stelle meinen Rucksack einfach beim nächstbesten Sitzgast auf dem Schoß ab. Noch lustiger würde es vermutlich werden, wenn ich selber, sitzend, den stehenden Mitfahrgast auffordere, mir seine Aktentasche zu geben!

Samstag, 11. März

Wieder ein Rätsel gelöst, das Busfahren betreffend. Ich habe mich immer gewundert, warum sich die Leute hier nicht einfach hinsetzen, wenn im Bus ein Platz frei wird, sondern sich erst ein paar Sekunden so komisch in den Sitz klemmen, aber ohne sich richtig hinzusetzen: Lösung – sie warten drauf, dass der Schweiß getrocknet ist, den der Vorgänger/die Vorgängerin da möglicherweise hinterlassen hat.

Dienstag, 14. März

Es gibt hier eine politisch unkorrekte Leichtigkeit (Naivität?), die mir manchmal den Atem verschlägt. Heute zum Beispiel eine Besprechung des Filmes »Boys don't cry« gesehen, worin ein Transsexueller in einem Hinterwäldler-Dorf in den USA die Frauen verführt und die Jungs begeistert, bis rauskommt, dass er, biologisch gesehen, eine Frau ist. Dann wird er/sie vergewaltigt und umgebracht. Jedenfalls ist die Schauspielerin für den Oscar nominiert worden und darüber ging nun der Kommentar des älteren Herren: Es sei ja wirklich ekelhaft und widerlich, schrieb er, im Kino Sexszenen zwischen zwei Frauen zu zeigen. In diesen Worten. Das würde sich doch in Deutschland niemand trauen, selbst wenn er's denken würde. Und den Oscar hätte die Schauspielerin verdient, wenn vielleicht auch nicht fürs schauspielern, so dann doch für den Mut, eine solche Rolle zu übernehmen!

Freitag, 17. März

Das mit den Gesetzen und der Polizei hier ist eine lustige Sache. Gestern zum Beispiel bin ich spät abends nach Hause gefahren, es fuhren schon keine Busse mehr, sondern nur noch kleine Sammeltaxis, nicht alle legal. Ich erwischte ein nicht-legales, das dann auch noch völlig überfüllt war, und die Leute unterhielten sich, dass es wirklich blöd wäre, jetzt in eine Kontrolle zu geraten. Als wir dann von einer Polizistin angehalten wurden, wurde mir erst mal mulmig, den anderen aber merkwürdigerweise nicht: Sie hatten gleich gesehen, dass das keine Kontrolle war, sondern dass sie einfach nach Hause wollte – und da nimmt man eben mitten in der Nacht, was da noch fährt, und wenn es auch ein illegales, total überfülltes Sammeltaxi ist. Sie hat sich einfach noch mit reingequetscht.

Lesetipp: Petra Schaeber: Die Macht der Trommeln