Zum 80. Todestag von Victoria Woodhull

Lesung in Tübingen, München, Stuttgart, Steyr/Österreich im März 2007

 

 

 

 

„Victoria Woodhull hat mehr für die Frauen getan, als jede andere von uns es gekonnt hätte. Sie hat den Männern getrotzt und sie herausgefordert, und wurde dafür mit Schmähungen überschüttet, die eine Frau schaudern lassen. Sie hat es riskiert, auf eine Weise von Schande gezeichnet zu werden, die jede andere von uns, die man doch immer willensstark genannt hat, gelähmt haben würde. Sie wird so berühmt sein, wie sie berüchtigt war, ehrlos gemacht von unwissenden und feigen Männern und Frauen. In den Annalen der Emanzipation wird der Name Victoria Woodhull als der einer Befreierin verzeichnet sein.“ (Elizabeth Cady-Stanton)

 

Victoria Woodhull, Präsidentschaftskandidatin, Wall-Street-Brokerin, Herausgeberin einer Zeitung, berühmte Rednerin, Verfechterin der Freien Liebe, Spiritistin.

 

Wir haben es hier nicht mit einer gewöhnlichen Politikerin zu tun,  wie man sie aus den Zeitungen kennt. Victoria Woodhull war ein Mädchen aus der Unterschicht.

 

 

 

 

 

 

Victorias Eltern, Annie und Buck Claflin, waren so eine Art Herumtreiber, Kleinbetrüger, Hellseher, verkauften selbst gebrannte Medizin, tingelten im Planwagen durch die Staaten Iowa, Ohio, Tennessee, immer auf der Flucht vor der Polizei und verärgerten Kunden ihrer Scharlatanerie.

 

 

 

 

Geboren ist Victoria Claflin im Jahr 1838, dem Krönungsjahr von Queen Victoria in England – daher ihr Name. Die Claflins waren nicht besonders einfallsreich in der Namenswahl ihrer insgesamt 10 Kinder, immerhin hatte Victoria nicht das Pech, einfach nach der Gegend benannt zu werden, durch die die Familie gerade tingelte: Tennessee oder Utica, wie ihre Schwestern.

 

Victoria war das siebte Kind, das Annie Claflin zur Welt brachte – eine magische Zahl. Ihre Mutter war überzeugt, dass dieses Kind etwas Besonderes war. Schon als Kind musste auch Victoria als Hellseherin Geld verdienen. Damals kam der Spiritismus auf, und Kinder galten als besonders empfängliche Medien für das Jenseits. Kinderpredigten waren damals sehr verbreitet, und Victoria war schon früh eine begnadete Rednerin. Zur Schule ging sie selten.

 

Victoria Woodhulls Familie war keineswegs das, was man heute „arm, aber ehrbar“ nennen würde. Eher würde man „assozial“ sagen. Ihr Vater war ein Trickbetrüger, ihre Mutter verkaufte selbst gebraute Medizin und betätigte sich als Wahrsagerin. Die Familie lebte von der Hand in den Mund, war dauernd auf der Flucht vor der Polizei.

 

Diese Familiengeschichte ist sehr wichtig für Victorias spätere Karriere. Wenn wir uns Frauenleben im 19. Jahrhundert vorstellen, dann denken wir nämlich oft schnell an die Benachteiligungen bürgerlicher Frauen, die nicht arbeiten durften und als das „schwache“ Geschlecht galten. Mädchen aus diesem Milieu wurden dazu erzogen, Hausarbeiten zu machen, ordentlich zu sein, sich in ihren Platz zu fügen. Victoria nicht. Sie musste von klein auf sehen, wo sie blieb. Sie prügelte sich mit ihren Geschwistern ums Essen, wurde vom Vater genauso geschlagen, wie ihre Brüder. Die typisch bürgerlichen Geschlechterrollen galten in diesem Milieu nicht. Alle mussten sehen, wie sie zum Zug kommen. Das war ein sehr hartes Leben, aber es war keines, in dem kleine Mädchen zu Koketterie, Prüderie und Ängstlichkeit erzogen wurden.

 

Während ihre Eltern in der Wahrsagerei nur ein einträgliches Geschäft sahen, nahm Victoria die Sache sehr ernst. Sie war zeitlebens überzeugt, übersinnliche Kräfte zu haben.

 

 

Im Alter von 15 Jahren flüchtete sie aus ihrem chaotischen Elternhaus in die Ehe mit einem Arzt, auf den ersten Blick eine gute Partie. Doch Canning Woodhull war ein Alkoholiker und nicht in der Lage, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Victoria bekam zwei Kinder, einen Sohn, der schwer geistig behindert war, und eine Tochter. Sie arbeitete in Saloons und wahrscheinlich auch als Prostituierte, um den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder zu bestreiten. Nach acht Jahren nahm sie ihre Kinder, verließ ihren Mann, und machte sich mit einer eigenen Praxis als Heilerin und Hellseherin selbstständig. Damit konnte sie nicht nur gutes Geld verdienen, sie bekam auch einen tiefen Einblick in die Probleme der Menschen, vor allem der Frauen:

 

Seite 33:

Dass die Ratsuchenden selbst an die Fähigkeiten der Heilerin glauben, dass sie ihr vertrauen, war damals wie heute der Dreh- und Angelpunkt solcher spirituellen Methoden. Und Vertrauen erwecken, das konnte Victoria Woodhull wie kaum eine andere. Sie behandelte vor allem Frauen, die mit den unterschiedlichsten Problemen zu ihr kamen, und hörte sich aufmerksam ihre Lebens- und Leidensgeschichten an. Victorias Kundinnen sprachen über sexuellen Missbrauch, über Vergewaltigung, über schwierige Geburten, sterbende Kleinkinder, gewalttätige Ehemänner. Sie schilderten ihre Schmerzen beim Geschlechtsverkehr, die unerträgliche Arbeitsbelastung, Armut und Demütigung. Sie erzählten, wie sie Schwangerschaften verhinderten oder wo und wie sie Abtreibungen vornahmen. Die Armen sprachen über die Schwierigkeiten, sich und die Kinder satt zu kriegen, die Reichen über die Langeweile und Perspektivlosigkeit eines bürgerlichen Frauenlebens. Victoria Woodhull hörte gut zu, gab Ratschläge und machte Voraussagen für die Zukunft. Sie war eine Meisterin darin, Fragen und Probleme vorwegzunehmen und den Ratsuchenden das Gefühl zu vermitteln, ihre Situation zu verstehen und Lösungswege aufzeigen zu können. Zweifellos kam ihr dabei ihr großes Selbstbewusstsein zu Gute und ihre feste Überzeugung, über außerordentliche spirituelle Fähigkeiten zu verfügen. Sie schildert ihre Zeit als Heilerin mit Worten, die fast so klingen, als sei sie Jesus Christus: Sie „richtete die Füße der Lahmen, öffnete die Ohren der Tauben.“ Nur dass Victoria Woodhull mehr Wert auf den praktischen Nutzen legte, denn sie fand auch „Bankräuber, brachte verborgene Verbrechen ans Licht, enthüllte Geschäftsgeheimnisse.“ Die Jahre, die sie als spirituelle Heilerin verbrachte, legten den Grundstein für Woodhulls spätere Karriere als Reformerin und Politikerin. In ihren Vorträgen zitierte sie immer wieder aus dem riesigen Fundus an Schicksalen vor allem von Frauen, aber auch von Männern, den sie in diesen Jahren ihrer Praxis als Heilerin und Wahrsagerin gesammelt hatte.

 

 

Bei dieser Arbeit lernte sie James Blood kennen, ihren zweiten Ehemann. Er kam in ihre Praxis, weil er an Traumata litt, die er sich als Offizier auf den Schlachtfeldern des amerikanischen Bürgerkriegs geholt hatte. Die beiden verliebten sich sofort ineinander. James Blood faszinierte Victoria, weil er aus einem intellektuellen Milieu kam. Er war Sozialist, war in verschiedenen politischen Kreisen aktiv, ein Reformer und Anhänger der freien Liebe. Er öffnete Victoria die Tür in ein politisches Leben, eine Theorie für ihre Erfahrungen. In ihr entstand die Idee, dass sie die vielen Probleme, von denen sie in ihrer Praxis, aber auch im eigenen Leben erfahren hatte, auf der politischen Bühne vertreten könnte.

 

Victoria folgte ihrer Vision und zog zusammen mit James Blood und ihrer acht Jahre jüngeren Schwester Tennessee, die sich ebenfalls mit den Eltern zerstritten hatte und zu Victoria gezogen war, nach New York.

 

Damals gab es in Amerika zahlreiche Reformbewegungen: Die Frauenrechtsbewegung, die Antisklavereibewegung, die Arbeiterbewegung. Natürlich waren sie alle  von bürgerlichen Kreisen dominiert und warteten keineswegs auf eine ungebildete Hellseherin aus St. Louis. Victoria brauchte Geld, um sich politisch betätigen zu können.

 

 

 

Und sie und Tennessee hatten Glück: In New York fanden sie einen sehr reichen Kunden: Den Eisenbahnmagnaten Cornelius Vanderbilt. Er war ein typischer Selfmade-Man, damals der reichste Mann Amerikas, ein exzentrischer alter Kautz – und er hatte eine Schwäche sowohl für Hellseherinnen als auch für schöne junge Frauen. Tennessee wurde seine Geliebte, Victoria seine spirituelle Ratgeberin.

 

Seite 56:

Während Tennie sich um das leibliche Wohlbefinden des alten Herren kümmerte, nahm sich Victoria seiner Seele an. Sie war für die spirituelle Seite zuständig, überbrachte Vanderbilt Nachrichten von dessen verstorbener Mutter, befreite ihn von seinen Schuldgefühlen und Alpträumen. Bald schon sagte sie ihm auch die Börsenkurse voraus und gab Prognosen zu seinen unternehmerischen Vorhaben ab. Und sowohl Victoria als auch Tennessee wurden für ihre Dienstleistungen gut bezahlt.

 

Aber zwischen Vanderbilt und den Claflin-Schwestern entstand bald schon mehr. Aus der geschäftlichen Beziehung wurde Freundschaft. Denn trotz seines Reichtums hatte sich Vanderbilt eine gewisse Unterschichtsmentalität bewahrt; er war, wie ein Zeitgenosse schrieb, „derb, profan, ungebildet und außerordentlich arrogant“. Die bessere Gesellschaft vermied es, in allzu engen Kontakt mit ihm zu geraten. … Anders als die meisten Menschen in Vanderbilts Umgebung hatten Tennie und Victoria keine Angst vor dem Kommodore, legten keine Unterwürfigkeit an den Tag, und das schien ihm zu gefallen. Er nannte Tennie seinen „kleinen Sperling“ und nahm sie sogar regelmäßig mit ins Büro – eine Ungeheuerlichkeit, nicht nur für damalige Verhältnisse. Dort, auf seinem Schoß hin und her wippend, hörte sie zu, wie er seine Geschäfte erledigte (und sie hörte gut zu). Sie las ihm aus der Zeitung vor und nannte ihn „old boy“. Vanderbilt amüsierte sich prächtig mit den beiden Schwestern. Und wenn der Kommodore sich amüsierte, war er großzügig.

 

Bald schon hatten Victoria und Tennessie mehr Geld, als jemals zuvor in ihrem Leben. Victoria war geschäftstüchtig: Sie handelte für ihre Vorhersagen einen prozentualen Anteil an den Gewinnen aus. Und dann geschah im September 1869 jener Börsencrash, mit dem Victoria schlagartig wirklich reich wurde. Hintergrund war eine Spekulation mit dem Goldpreis, den eine Reihe von Geschäftsleuten damals mit verschiedenen Tricks künstlich in die Höhe getrieben. Sie hatten vereinbart, ihr ganzes Gold auf einen Schlag zu verkaufen, was dann natürlich alle, die die hohen Goldpreise bezahlt hatten, in den Ruin trieb. Victoria hatte davon vermutlich über ihre guten Kontakte ins Rotlichtmilieu erfahren, sie war mit Annie Wood befreundet, die damals das berühmteste Bordell in New York betrieb. Damals war es üblich, Geschäfte in Bordellen abzuschließen, und die meisten Geschäftsleute achteten nicht darauf, was sie vor den Mädchen dort erzählten. Außerdem kannte Victoria Josie Mansfield, die Mätresse des Hauptbeteiligten an diesem Spekulationsgeschäft. Sie selbst behauptet natürlich, die Geister hätten ihr den Deal ins Ohr geflüstert. Wie auch immer: Sie riet Vanderbild, sein ganzes liquides Vermögen in Gold zu stecken und dann bei einem bestimmten Preis zu verkaufen. Für sich wollte sie die Hälfte des Gewinns. Vanderbilt machte in nur einem Monat einen Gewinn von 1,3 Millionen Dollar, Victoria bekam davon 650.000 – das wären heute knapp 2 Millionen Euro. Jetzt war sie wirklich reich.

 

Mit dem Geld gründeten Victoria und Tennessee eine eigene Broker-Firma an der Wallstreet mit dezidiert „weiblicher Note“ und erregten damals großes Aufsehen.

 

 

Seite 63:

Die Schwestern richteten ihre Büros opulent und kitschig ein: Da gab es alte Ölgemälde, griechische Statuen, grüne Samtsofas, ein Piano, ein Gemälde von zwei drallen Engeln, die ihre rosigen Arme um ein goldenes Kreuz schlangen – ein Interieur wie im Malzimmer einer Lady, notierte ein Reporter. Natürlich hing im Foyer ein großes Porträt von Cornelius Vanderbilt. Und ebenfalls gut sichtbar war da auf einem Schild zu lesen: „Herren tragen ihr Anliegen zügig vor und ziehen sich dann umgehend zurück.“ Denn von Anfang an warben Woodhull und Claflin gezielt um weibliche Klientel. Damit erschlossen sie eine riesige Marktlücke: Frauen konnten damals noch nicht unter eigenem Namen Börsentransaktionen tätigen, deshalb mussten sich immer einen männlichen Vermittler suchen – dafür gab es bei Woodhull, Claflin & Co. ja James Blood. Witwen, reiche Erbinnen, Geschäftsfrauen, Hausfrauen und Dienstmädchen, die ihre Ersparnisse unabhängig von Ehemann und Arbeitgeber anlegen wollten, vertrauten den weiblichen Finanzleuten ihr Geld an. Und die machten es ihren Kundinnen gemütlich: Ein etwas abseits gelegenes und besonders üppig eingerichtetes Büro war allein den Frauen vorbehalten, die finanziellen Rat suchten – Männer hatten keinen Zutritt. Hier gab es ausführliche Unterhaltungen, Raum für Klatsch und Tratsch, finanzielle, spirituelle und sozialpsychologische Beratung in einem, und das alles bei Champagner, Erdbeeren und Schokokonfekt. Natürlich gehörten auch Josie Mansfield, Annie Wood und andere Frauen aus dem Rotlichtmilieu zu den finanzkräftigen Kundinnen von Woodhull, Claflin und Co. Und sie brachten auch weiterhin nicht nur ihr Geld mit, sondern auch die Insider-Informationen aus ihren Kundenkontakten.

 

 

 

Schon bald setzte ein unglaublicher Presserummel um die beiden „Lady-Brokers“ ein, den Victoria sehr genoss – und Anlass gab für das Image der emanzipierten Frau, das sie nun von sich entwarf:

 

 

 

Seite 65:

Dass sie Frauen waren, schadete Woodhull und Claflin bei ihrem Unternehmen also keineswegs, im Gegenteil, das machte ihre Aktivitäten ja gerade so interessant für die Medien. Und die beiden inszenierten ihre Weiblichkeit geschickt – mal kokettierten sie damit, mal provozierten sie. Eines Tages zum Beispiel gab Tennessee ein Interview und trug dabei kein Kleid, sondern einen Männeranzug. „Wenn Sie damit auf die Straße gehen“, warnte der Reporter, „gibt es einen Aufstand.“ Offenbar verstand sie das als Aufforderung und trug von da an häufiger Männerjacken, die sie jedoch meistens mit einem langen, schwarzen Rock kombinierte, und Victoria tat es ihr gleich. Irgendwann in dieser Zeit ließen sich beide auch die Haare kurz schneiden – aus „Ungeduld über die tägliche Zeitverschwendung bei der angemessenen Haarpflege“, wie Victoria sagte. Sicher war das Ganze aber auch eine Imagefrage. Gerne ließen sich Victoria und Tennessee nun in Herrenjacken, aufrechter Haltung und kühn nach vorne schauendem Blick porträtieren.

 

 

 

 

Bei all dem Erfolg hatte Victoria aber nicht ihr eigentliches Anliegen aus den Augen verloren, das sie nach New York gebracht hatte: Politisch aktiv zu werden. Geld genug hatte sie ja nun. Sie gründete eine eigene Zeitung, das „Woodhull and Claflins Weekly“, und sie suchte sich ein politisches Thema, mit dem sie sich ins Gespräch bringen könnte. Dafür kam eigentlich nur eines in Frage: Das Wahlrecht. Der Kampf für das Frauenwahlrecht war damals der Dreh- und Angelpunkt der Frauenbewegung und ihrer Vorkämpferinnen Elizabeth Cady-Stanton und Susan Anthony. Hintergrund war, dass nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1869, bei dem die Nordstaaten die Südstaaten besiegt hatten und die Sklaverei abgeschafft worden war, afroamerikanische Männer das Wahlrecht bekamen, Frauen aber nicht. Die Frauenbewegung und die Antisklavereibewegung hatten in den Jahrzehnten zuvor immer Hand in Hand für ihre politischen Rechte gekämpft, also für das Wahlrecht von Frauen und von Schwarzen. Nun hatten die einen dieses Recht bekommen, die anderen jedoch nicht. Das hatte zu einer Spaltung der Frauenbewegung geführt – die einen unterstützten das Wahlrecht für schwarze Männer, weil sie darin einen ersten Schritt in die richtige Richtung sahen, die anderen waren dagegen, weil sie befürchteten, dass damit nun der Schwung raus und das Frauenwahlrecht in weite Ferne gerückt wäre. Cady-Stanton und Anthony gehörten zu letzteren, und wie die Geschichte zeigen sollte, hatten sie recht – es dauerte schließlich noch ein halbes Jahrhundert, bis 1920 die Frauen in den USA wählen konnten.

Also, wenn Victoria sich als politische Aktivistin einen Namen machen wollte, musste ihr Thema das Wahlrecht sein. Auch wenn sie persönlich sich für das Wahlrecht nicht besonders interessierte. In dem Milieu, aus dem sie stammte, ging ohnehin niemand wählen, ob Mann oder Frau, ob schwarz oder weiß. Das Wahlrecht war ein Bürgerliches Thema. Die Leute aus Woodhulls Milieu, aus der Unterschicht, hatten andere Probleme: Ehegesetze zum Beispiel, die die Frau zum Besitz ihres Mannes machte, die Unmöglichkeit, sich scheiden zu lassen, die schlechte Gesundheitsversorgung, die Schwierigkeit, gerade für Frauen, sich eigenes Geld zu verdienen. Das waren Victorias Themen. Aber sie wusste eben, dass sie etwas zum Wahlrecht sagen müsste, um die Frauenrechtlerinnen auf sich aufmerksam zu machen. Und sie tat es mit einem Paukenschlag:

 

Seite 78:

Im April 1870 ließ Victoria Woodhull im Herald (das war eine der wichtigsten New Yorker Zeitungen) folgende Annonce drucken: „Während andere meines Geschlechts einen Kreuzzug gegen Gesetze führen, die die Frauen des Landes einschränken, habe ich meine persönliche Unabhängigkeit behauptet. Während andere für bessere Zeiten beteten, tat ich etwas dafür. Während andere für die Gleichheit von Frauen mit den Männern argumentierten, habe ich sie unter Beweis gestellt, indem ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau wurde. Während andere zu zeigen versuchen, dass es keinen vernünftigen Grund gibt, warum Frauen in sozialer und politischer Hinsicht als dem Mann untergeordnet behandelt werden sollten, habe ich unerschrocken die Arena der Politik und der Wirtschaft betreten und die Rechte ausgeübt, die ich bereits besaß. Deshalb beanspruche ich für mich das Recht, für die vom Wahlrecht ausgeschlossenen Frauen des Landes zu sprechen und, im festen Glauben, dass die landläufigen Vorurteile gegen Frauen im öffentlichen Leben bald verschwinden werden, kündige ich hiermit meine Kandidatur für die Präsidentschaft an“ – unterschrieben: Victoria Woodhull.

 

Die anderen Frauen kämpften als für das Wahlrecht, Victoria Woodhull wollte Präsidentin von Amerika werden – ein wahrlich guter Coup. Die Aufmerksamkeit der Medien und der politischen Szene war ihr damit sicher. Während die anderen Faruenrechtlerinnen eine Gesetzesänderung forderten, die den Frauen das Wahlrecht zugestehen sollte, vertrat Victoria die Ansicht, dass Frauen das Wahlrecht schon längst hätten, es aber bisher nur nicht ausgeübt hätten. In der Tat war die amerikanische Gesetzeslage so, dass ursprünglich jeder „Bürger“, „citizen“, das Wahlrecht hatte. Frauen mussten Steuern zahlen, waren also eigentlich durchaus „citizens“. Dass sie nicht wählten, so Woodhulls Argument, sei reine Gewohnheit gewesen. Deshalb sei es wichtiger, die Frauen zu überzeugen, ihre Rechte auch in Anspruch zu nehmen, als Forderungen an die Männer zu stellen.

Erst mit der Wahlrechtsänderung von 1869 war zusammen mit dem Zusatz „unabhängig von der Hautfarbe“ auch der Zusatz „männlich“ ins Gesetz gekommen. Waren es also vorher einfach alle „Bürger“ gewesen, die das Wahlrecht hatten, so waren es nun nur noch alle „männlichen Bürger unabhängig von der Hautfarbe.“

 

 

Victoria argumentierte nun so, dass dieser Zusatz „männlich“ verfassungswidrig sei. Diese Argumentation legte sie in einem Thesenpapier, das als „Woodhulls Memorial“ bekannt wurde, ausführlich dar. Sie machte daraus eine Petition, die sie beim Rechtsausschuss von Kongress und Senat einreichte. Im Januar 1871 wurde sie eingeladen, ihre Argumentation dort vorzustellen: Sie war die erste Frau in der Geschichte der USA, die vor einem solchen Gremium eine Rede hielt.

Natürlich war es kein Zufall, dass diese Rede zeitlich genau auf den Tag fiel, als die Frauenrechtlerinnen in Washington ihren Jahreskongress abhielten. Die waren schlichtweg überrumpelt. Sie hatten zwar von Woodhulls Präsidentschaftsplänen gehört, das aber nicht weiter ernst genommen. Wer war schon diese dubiose Spiritistin, die aus keiner der angesehenen amerikanischen Familien stammte? Niemand kannte sie, niemand wusste Genaueres. Doch als Woodhull vor dem Kongressausschuss sprach, konnten die Frauenrechtlerinnen das nicht ignorieren. Sie verschoben die Eröffnung ihres Kongresses und schickten eine Delegation, um sich Woodhulls Rede anzuhören. Und waren begeistert von dieser jungen Frau, die mit viel Elan und Verve und Charme ihr Anliegen vortrug. Die Damen waren alle schon etwas in die Jahre gekommen, schließlich waren sie schon seit zwei Jahrzehnten aktiv – 1848 hatte der erste große amerikanische Frauenkongress in Seneca Falls stattgefunden, und viele waren damals schon aktiv gewesen. Woodhull war hingegen jung und mitreißend. Spontan luden sie sie ein, gleich anschließend auch auf ihrem Kongress zu sprechen. Sie lagen Victoria zu Füßen. Und so stieg sie zum Star der amerikanischen Frauenbewegung auf. 

 

 

Allerdings war sie nicht unumstritten. Denn schon bald wurden Stimmen laut, die Victorias „Respektabilität“ in Frage stellten, vor allem aus dem bürgerlich-kirchlich-frommen Milieu, aus dem viele Frauenrechts-Aktivistinnen kamen.

Manche Frauenrechtlerinnen wollten Victoria unterstützten und versuchten, aus ihre eine bürgerliche Dame zu machen, ihr Tischmanieren und eine gewählte Ausdrucksweise beizubringen etwa. Ihre Gegnerinnen versuchten, sie als moralisch unsauber zu diffamieren. Futter genug für ihre Vorwürfe gab es. Zu allem Überfluss war nämlich inzwischen die gesamte Familie Claflin nach New York gekommen, um von dem sagenhaften Wohlstand ihrer Töchter zu profitieren. Die Zeitungen hatten ja die Nachricht von den reichen Börsenspekulantinnen im ganzen Land verbreitet, und so standen bald nicht nur Mutter und Vater, sondern auch zahlreiche Geschwister samt Partnern und Kindern und schließlich auch Victorias herunter gekommener Exmann Woodhull vor der Tür und wollten etwas abhaben. Victoria und Tennessee waren großzügig und nahmen alle auf. Es war, wie es in vielen Unterschichtsfamilien ist: Man streitet sich bis aufs Blut, aber man verträgt sich auch wieder. Mit vollen Händen wurde das Geld ausgegeben, aber Victoria und Tennessee störten sich nicht weiter daran – wozu sonst war Geld schließlich da?

Zu allem Überfluss stritten sich die Claflins nicht nur untereinander, sondern trugen ihre Streitigkeiten auch noch vor Gericht aus. Ausgerechnet im Mai 1871, als Woodhulls Karriere in der Frauenbewegung begann, verklagte ihre Mutter Annie Claflin Woodhulls Mann James Blood: Er habe einen Mordanschlag auf sie verübt. Der Vorwurf war unhaltbar und im Gerichtssaal fielen sich Mutter und Töchter wieder heulend in die Arme, aber das Ganze war natürlich ein gefundenes Fressen für die Zeitungen. Vor allem die Tatsache, dass die berühmte Woodhull mit zwei Ehemännern – einem aktuellen und einem Ex – gleichzeitig unter einem Dach wohnte.

 

S. 112:

Die Presse stand Woodhulls politischem Engagement sehr viel kritischer gegenüber als ihren unternehmerischen Aktivitäten. Gerüchte kamen in Umlauf über Bordelle, Scharlatanerie, dubiose Geschäftspraktiken und eine zwielichtige Vergangenheit. Der soziale Aufstieg der Schwestern aus der Unterschicht, ein Jahr zuvor noch eine amüsante Episode an der Wall Street, wandelte sich nun zu einer Diskussion über weibliche „Respektabilität“: Wie tugendhaft muss eine Frau sein, die sich politisch zu Wort meldet? Als Firmengründerin und Unternehmerin war es Victoria Woodhull erlaubt, exzentrische und ungewöhnliche Ansichten zu vertreten. Als Politikerin aber, als Frau, die eine führende Rolle in den amerikanischen Reformbewegungen beanspruchte, geriet sie auf den Prüfstand: War sie tragbar? War sie sauber? Man muss sich diese Diskussionen so ähnlich vorstellen wie 1998 die Aufregung über den amerikanischen Präsidenten Bill Clinton und seine Affäre mit einer Praktikantin. Wie bei Clinton gab es auch bei der Kontroverse um Victoria Woodhull solche, denen es tatsächlich um moralische Integrität ging, aber eben auch andere, die diese Vorwürfe für ihre eigenen Karrieren und politischen Absichten benutzten. Und es gab ja einige Punkte in Victorias Vergangenheit, aber auch in ihren politischen Ansichten, die sie angreifbar machten. Die radikalen, sozialistischen und anarchistischen Artikel des Weekly zum Beispiel, die bis dahin als exotische und unbedeutende Randnotizen geduldet worden waren, wurden nun zum Gegenstand der Polemik in großen Zeitungen und konnten herangezogen werden, um die Kritik an Woodhulls Person zu untermauern. Dass sie die klassischen Rollenmuster durchbrach, dass sie sich über angesehene Leute aus dem intellektuellen Amerika lustig machte, das konnte für eine exzentrische Unternehmerin noch angehen. Wenn sie daraus aber ein politisches Programm machen wollte, dann musste man sie in die Schranken weisen. Immer häufiger wurde Victoria Woodhull nun auch Ehrgeiz vorgeworfen, was für eine anständige Frau damals eine schreckliche Eigenschaft war. Männer kritisierten Woodhull, weil sie die männlichen Privilegien in Frage stellte, Frauen, weil sie sich weigerte, das zu verkörpern, was die Mehrheit der Frauen als „Weiblichkeit“ definierte und von ihresgleichen einforderte.

 

Victoria Woodhull ging diese Kontroverse um ihre Person völlig anders an, als Clinton. Sie leugnete nichts, sie beschönigte nichts, im Gegenteil: Je mehr sie angegriffen wurde, umso radikaler wurde sie. Sie ging nun zu den Themen über, die sie ohnehin viel interessanter fand, als das Wahlrecht: Die Freiheit der Frauen, nicht nur politisch mitbestimmen zu können, sondern in allen Lebensbereichen frei zu sein. Sie leugnete also nichts, sondern stand zu ihrem Lebensstil. Sie war der Meinung, dass es ihre Privatangelegenheit sei, mit wem sie zusammen lebte, und dass die Ehe ohnehin eine frauenfeindliche Institution war. Anstatt sich bedeckt zu halten und sich ein respektables Image aufzubauen, griff sie aktiv kontroverse Tabuthemen auf, wie Ehescheidung, die Rechte von Prostituierten und das Recht auf Verhütung und Geburtenkontrolle.

 

 

 

Sie engagierte sich – auch das zum Schrecken ihrer bürgerlichen Unterstützerinnen – auch in der Arbeiterbewegung, veröffentlichte in ihrer Zeitung die erste englischsprachige Übersetzung des „Kommunistischen Manifests“ von Marx und Engels und gründete sozialistische Zirkel. Sie wurde Vorsitzende des amerikanischen Spiritistenverbandes und organisierte Demonstrationen zur Erinnerung an die Opfer der Pariser Kommune.

Mit anderen Worten: Sie schürte den Skandal um ihre Person, anstatt ihn zu beruhigen. Im November 1871 kam dieser Skandal zu einem Höhepunkt, als sie in einer der größten Hallen New Yorks ihre berühmte Rede über die freie Liebe hielt. Tausende waren schon Stunden vorher herbeigeströmt, Hunderte mussten draußen blieben, weil sie keinen Platz mehr fanden.

 

 

 

Seite 148:

Sie bot dem Publikum den Skandal, den es haben wollte: „Wäre es nicht christlicher, wenn man einander nicht mehr liebt, zu sagen: Nun, da du mich nicht mehr liebst, geh deines Weges und sei glücklich; wäre das keine höhere, heiligere Liebe?“ – „Wenn alle Ehegesetze morgen abgeschafft würden, würde all das, was an der heutigen Ehe gut und lobenswert ist, weiter bestehen. Gesetze haben in Beziehungen, die auf Liebe gründen, nichts zu suchen.“ … – „Ja, ich bin eine Anhängerin der freien Liebe. Ich habe das unveräußerliche, verfassungsmäßige und natürliche Recht zu lieben wen ich will, so lang oder kurz wie ich kann, diese Liebe jeden Tag zu wechseln, wenn es mir gefällt, und niemand von euch und kein Gesetz hat das Recht, mir das zu verbieten. Was kann schrecklicher sein für eine zerbrechliche, sensible Frau, als gezwungen zu sein, die Gegenwart eines Ungeheuers in Männergestalt zu ertragen, der nichts anderes kennt als blinde Gier, zu der oft noch das Delirium der Trunkenheit hinzu kommt?“

„Es ist mir egal, wo sexueller Handel stattfindet, der auf der Macht des einen Geschlechts über das andere gründet, und ihn oder sie zwingt, sich unterzuordnen gegen die Instinkte der Liebe. Überall da, wo Hass oder Ekel im Spiel ist, sei es in den goldenen Palästen an der Fifth Avenue oder in der schmutzigen Umgebung der Greene Street, überall da ist Prostitution, und alle Gesetze, die tausend Parlamente verabschieden mögen, können daran nichts ändern.“ – „Ich kann keinen moralischen Unterschied sehen zwischen einer Frau, die heiratet und mit einem Mann zusammen lebt, nur weil er sie versorgen kann, und einer Frau, die nicht verheiratet ist, aber denselben Preis bezahlt, um versorgt zu sein.“ – „Das Gesetz kann zwei Menschen nicht dazu bringen, sich zu lieben. Das ist etwas, das nur die beiden angeht und keine andere lebende Seele hat irgend ein Recht, dazu etwas zu sagen. Wo keine Liebe ist, da sollte es auch keine Ehe geben.“

 

In diesem Stil ging es zwei Stunden lang weiter. Woodhulls Redemanuskript spielte schon längst keine Rolle mehr, die Worte strömten nur so von ihren Lippen. Hier sprach die authentische Victoria Woodhull, das Kind aus der Gosse, das redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Sie erzählte Geschichten aus dem prallen Leben, sprach von Sex, von Abtreibung, von Vergewaltigung. „Ich habe ein größeres Recht, über diese Themen zu sprechen“, sagte Victoria, „denn ich habe die freie Liebe mit allen ihren Licht- und Schattenseiten studiert.“ „Um eine Doktrin zu predigen“, sagte Victoria Woodhull, „musst du das Leben leben.“

 

An diesem Abend nahm der Begriff der „freien Liebe“ eine ganz neue Bedeutung an. Er blieb nicht länger ein theoretisches Konstrukt abgedrehter sozialistischer Schulen. Bei Victoria Woodhull war klar, dass sie solche Theorien nicht nur predigte, sondern auch praktizierte. Wenn sie von Geburtenkontrolle, weiblicher Sexualität, Geschlechtskrankheiten, Prostitution und ähnlichen Themen sprach, dann wusste das Publikum: Das hat sie sich nicht ausgedacht, sondern das hat sie selbst erlebt. …. Nach Woodhulls Rede wurde Amerika von einer Freie-Liebe-Panik erschüttert. Alle anständigen Frauen distanzierten sich nun von dieser skandalösen Frau. Der Herald schrieb am nächsten Tag von der „erstaunlichste(n) Doktrin, der jemals ein amerikanisches Publikum zugehört hat“, und Henry Bowen kommentierte im Independent: „Es war die schmutzigste Versammlung, die jemals in New York abgehalten wurde.“

 

 

Mit dieser Rede war der Skandal komplett. Und auch klar, dass Victoria Woodhull keine „ernstzunehmende“ Präsidentschaftskandidatin sein könnte. An ihr spalteten sich die Geister. Zwar stellten sich Teile der Frauenbewegung, der Arbeiterbewegung, der Anti-Sklavereibewegung und des Spiritismus auf ihre Seite: Im Mai 1872 kamen 600 Delegierte aus 22 Staaten nach New York, wo sie die Equal Rights Party gründeten und Woodhull offiziell zur Präsidentschaftskandidatin ernannten. Aber die Mehrheit aus den Reformbewegungen machte diese „Politik des Skandals“ nicht mit. Sie distanzierten sich von Woodhull und kehrten zurück zu ihrer Lobbyarbeit, wobei die einen bei den Republikanern, die anderen bei den Demokraten Verbündete suchten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Manche aber ließen es nicht bei diesen politischen Differenzen bewenden und gingen getrennte Wege, sondern starteten eine regelrechte Hetzkampagne gegen Victoria Woodhull. Federführend waren hier die Schwestern Catherine Beecher und Harriet Beecher-Stowe, beide Prominente, die der Frauenbewegung nahe standen.

 

 

 

Catherine Beecher war eine populäre Autorin von Ratgeberbüchern für Frauen, ihre „Abhandlung über Haushaltsökonomie“ stand praktisch in jedem Bücherregal. Harriet war noch berühmter, sie hatte nämlich den Anti-Sklaverei-Megabestseller „Onkel Toms Hütte“ geschrieben. Die Beecher-Schwestern machten ihr das Leben schwer, wo es ging: Schrieben polemische Zeitungsartikel, verhinderten, dass ihr Hallen vermietet wurden und so weiter.

 

Doch so leicht gab Woodhull nicht klein bei. Sie hatte erfahren, dass der jüngere Bruder der beiden, Henry Ward Beecher, seit Jahren eine uneheliche Affäre mit einer bekannten Frauenrechtlerin hatte – was auch kein großes Geheimnis war, aber unter der Decke gehalten wurde. Henry Beecher war ebenso berühmt wie seine Schwestern, als Pastor einer Kirche in Brooklyn war er so etwas wie ein religiöser Superstar. Victoria forderte Beecher heraus: Entweder die Schwestern würden ihre Angriffe einstellen und Henry Ward Beecher sich öffentlich an Woodhulls Seite stellen – denn offensichtlich praktizierte er ja längst die freie Liebe, die Woodhull einforderte – oder sie würde seine Affären öffentlich machen. Natürlich dachte Beecher nicht im Entferntesten daran. Woodhulls „Beecher-Story“, in der sie Details das Liebesleben des Predigers publik machte, wurde zur größten Mediengeschichte seit der Ermordung Lincolns.

 

Was sich nun anschloss, war eine Schlammschlacht ohnegleichen. Die Beechers hatten einflussreiche Freunde, sie brachten Victoria und Tennessee ins Gefängnis, über Monate hinweg beschäftigte die Angelegenheit die amerikanische Öffentlichkeit. Doch in den amerikanischen Reformbewegungen konnte Woodhull nun keinen Fuß mehr fassen.

 

 

 

Einige Jahre später wanderten Victoria und Tennessee nach England aus, wo sie beide reiche Männer heirateten. Victoria Woodhull starb vor 80 Jahren, am 9. Juni 1927, im Alter von 89 Jahren. In den USA war sie damals längst in Vergessenheit geraten.

 

Elizabeth Cady-Stanton und Susan Anthony hatten inzwischen ein mehrbändiges Werk über die Geschichte der amerikanischen Frauenbewegung geschrieben – es erschien am Ende des Jahrhunderts. Darin spielt Victoria Woodhull keine Rolle – und Generationen von Historikerinnen stützen sich bis heute auf ihre Darstellung. Das heißt, sie wissen auch nichts von Woodhull. Ida Harper, die Biografin von Susan Anthony, entfernte aus deren Tagebuch alle Seiten, die sich auf Woodhull bezogen, und vernichtete sie. Woodhull wurde also schlicht und greifend totgeschwiegen, mit Erfolg: Als Ende der 1990er Jahre im amerikanischen „Wer-wird-Millionär-Spiel“ nach dem Namen der ersten Präsidentschaftskandidatin gestellt wurde, war es die 250.000-Dollar Frage, also eine von denen, die normalerweise niemand beantworten kann.

 

Wrst in den letzten Jahren ist Woodhull in Amerika wieder entdeckt wurden. Ende der 1990er Jahre sind einige Biografien erschienen, und erst im Jahr 2002 wurde ihr ein Platz in der „Seneca Hall of Fame“ eingeräumt, wo an die Vorkämpferinnen der Frauenbewegung erinnert wird.