RoZ, Juni/Juli 2003 ( http://oldenburg.gay-web.de/roz/archiv/rosaprosa86-02.html )

Victoria Woodhull

Eine vergessene Vordenkerin der Frauen- und Arbeiterbewegung

Am 11. Januar 1871 trug Victoria Woodhull in Washington dem Rechtsausschuß des Kongresses der US ihr „Memorial“ zu Fragen des Frauenwahlrechts vor.
Damit war sie den bürgerlichen Frauenrechtlerinnen zuvorgekommen, die auf ihrem Frauenkongreß eben diese Fragen erörtern wollten. Die Frauen waren durch eine Pressemitteilung auf Woodhull’s Auftritt aufmerksam geworden und reagierten irritiert bis erschreckt. Die Meinungen waren sehr geteilt, ob es sinnvoll sei sich mit einer Frau zusammenzutun, die zwar die gleichen Ziele verfolgt doch womöglich einer nicht anständigen Familie entstamme, bzw. keine ehrbare Frau sei. Gleichzeitig erkannten sie, daß Victoria Woodhull mit ihrer spektakulären Aktion für Schlagzeilen sorgen würde, die sie für ihre Zwecke nutzen könnten.
Die Frauen beschlossen den Beginn des Kongresses einen Tag zu verschieben und bekundeten ihre Solidarität mit Victoria Woodhull, vor den Abgeordneten und der Presse, indem sie dem Rechts-ausschuß beiwohnten.
Wer war Victoria Woodhull und was bewog sie, so einen wichtigen Schritt im Alleingang und ohne den Rückhalt der Frauenbewegung zu wagen?
Victoria Woodhull wurde am 23. September 1838 als siebtes Kind in eine Familie geboren, die sozial am Rande der Gesellschaft stand. Die Eltern verdienten sich ihr Einkommen durch Betrügereien, Wahrsa-gerei kombiniert mit Erpressung, später auch Zuhälterei. Die Kinder wurden mit vermar-ktet und ausgebeutet; Victoria und ihre Lieblingsschwes-ter Tennessee wurden vom Vater gezwungen, sich am täglichen Geldverdienen zu beteiligen, nachdem sich ihre spiritistischen Fähigkeiten entwickelt hatten. Ihre Kindheit war geprägt von seelischer, körperlicher und sexueller Gewalt, doch die massiven Anfeindungen und Ausgrenzungen von außen schweißte die Familie - ein Leben lang - zusammen.
Victoria lernte früh ihr Leben selbständig in die Hand zu nehmen. Sie lernte, daß Leben Kampf bedeutet, Überlebenskampf. „Sie lernte, schlau zu argumentieren, sich bei Vorwürfen herauszureden und den eigenen Vorteil nicht aus den Augen zu verlieren. Sie lernte, sich von der Meinung anderer unabhängig zu machen, nichts für selbstverständlich zu halten, keine Gerechtigkeit von irgendwelchen Autoritäten zu erwarten und auf die eigenen Wünsche und Auffassungen mehr zu achten, als auf gesellschaftliche Konventionen und das Gerede der Leute.“
Ein Ausgleich zu ihrem harten Lebenskampf wurde ihr Zugang zum Spiritismus. Sie versetzte sich in Trance und hatte Visionen, die sie bei ihren Entscheidungen unterstützen und ihr „Wahrheiten“ offenbarten (Auch ihre politischen Texte später sollten angeblich zum Teil so entstanden sein.). Gleichzeitig erfuhr sie durch ihre Tätigkeit als Wahrsagerin und Heilerin von harten Schicksalen, unterschiedlichen Lebenszusammenhängen vieler Frauen; ein Erfahrungsschatz der später für sie als Reformerin die Basis für viele politische Argumente darstellte.
Victoria Woodhull war keine gebildete Frau im herkömmlichen Sinne, doch sie war klug und lebenserfahren und hatte ein natürliches Gespür für Ungerechtigkeiten und Halbwahrheiten, Doppelmoral und Heuchelei waren ihr verhaßt. Gleichzeitig erkannte sie ihre intellektuellen Grenzen, doch verstand sie es hervorragend ihre vielfältigen Kontakte zu nutzen, um ihre Ansichten und Erfahrungen theoretisch zu untermauern und formulieren zu können bzw. formulieren zu lassen.
So kam sie mit vielen Reformgedanken in Berührung, die damals vorrangig zwei große Ziele verfolgten: die Teilhabe der Frauen an den bürgerlichen Rechten der Männer und die Abschaffung der Sklaverei. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Theorien über Staat und Gesellschaft bestätigten ihre eigenen Erfahrungen und Einschätzungen und ließ sie eine für damals untypische feministische Position finden.
„Kurz gesagt könnte man den Unterschied vielleicht so beschreiben: Während die Frauenrechtlerinnen von dem ausgingen, was Frauen fehlte –Rechte, Bildung, Fähigkeiten-, ging Victoria Woodhull von dem aus, was Frauen haben: Energie, Durchsetzungsvermögen und vor allem den starken Wunsch, etwas zu erreichen, etwas zu verändern... Das eigentlich Interessante an dieser Debatte, so meinte sie, sei nicht die Frage, ob das Gesetz den Frauen das Wahlrecht zugesteht oder nicht, sondern die Tatsache, daß die Frauen dieses Recht jetzt ausüben wollen... Es geht also nicht darum, ob Frauen wählen dürfen oder nicht, sondern darum, ob sie wählen wollen oder nicht. Victoria Woodhull forderte die Frauen auf, ihr Recht auf politische Mitbestimmung in Anspruch zu nehmen und darauf zu bestehen, sich in die Politik einzumischen. Sie richtete sich mit ihrem Appell also nicht, wie die anderen Frauenrechtlerinnen, an die Männer (die den Frauen das Wahlrecht zugestehen sollen), sondern an die Frauen (die politische Verantwortung übernehmen sollen).“
Konsequent beanspruchte sie dieses Recht für sich und erklärte sich zur Präsidentschaftskandidatin. Damit entfernte sie sich noch mehr von den Frauen der Frauenbewegung, die es vehement ablehnten, aktiv an der Politik teilzunehmen, es könne den weiblichen Tugenden und Werten schaden. Victoria Woodhull stellte sich in ihrem Parteiprogramm als Arbeiterführerin dar, was ein deutlicher Seitenhieb gegen die Frauenrechtlerinnen war, die heftig mit den Gewerkschaften zerstritten waren.
Sie forderte den Achtstundentag, das Recht der Frauen auf Arbeit (Woodhull: „Daß Frauen Geld verdienen können, ist ein besserer Schutz gegen die Tyrannei und Brutalität der Männer, als daß sie wählen können.“), die Einrichtung eines sozialen Wohlfahrtssystems für die Armen, eine öffentliche Erziehung der Kinder, Abschaffung der Ehegesetze (Woodhull: „Es kann Prostitution in der Ehe geben und fairen Handel in einem Bordell... Wer sich über Prostitution moralisch entrüstet, muß zunächst die Freier kritisieren, die hier die Nachfrage schaffen, nicht die Frauen, die diese Nachfrage kritisieren.“), Abschaffung der Todesstrafe, Einrichtung eines internationalen Gerichtshofes zur Schlichtung von Konflikten zwischen verschiedenen Ländern mit einer internationalen Armee.
Wie bei all ihren Projekten wurde Victoria Woodhull angefeindet und beschimpft, bzw. unterstützt und bewundert. Sie bekam eine eigene Kolumne in einer Zeitung; da ihr das nicht genügte, verlegte sie eine eigene politische Zeitung. Geld hatte sie durch ihre Börsenspekulationen, die sie mit einer eigenen Firma betrieb. Mit ihren zündenden Reden und Auftritten, ihrer charismatischen Ausstrahlung, schaffte sie es ein großes Publikum zu begeistern, sie wurde ein Star und ihre Ideen und Visionen wurden bekannt und diskutiert.
Gleichzeitig sank die Popularität der alten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung stetig, da sie weiter bei ihrer kompromißlosen Ablehnung des Wahlrechts für afroamerikanische Männer blieben.
Zusammen mit einem Politikerfreund hatte Victoria Woodhull neue Argumente (juristisch spitzfindige) gefunden, um das Frauenwahlrecht einzufordern. So erklärte sie in ihrer Zeitung „Ich gebe hiermit bekannt, daß die Frauen der Vereinigten Staaten von Amerika ab sofort das Wahlrecht haben“ und erschien am 11. Januar 1871 vor dem Rechtsausschuß.
Die Petition wurde einstimmig abgelehnt, doch Victoria Woodhull wurde enthusiastisch von den meisten Frauenrechtlerinnen gefeiert. Sie waren überzeugt, „das der Himmel diese Frau geschickt hatte.“ Eine nicht kleine Rolle spielte dabei auch die großzügige Spende von 10.000 Dollar, die Victoria Woodhull bereithielt.
„Obwohl Woodhull nun eine führende Figur des Wahlrechtkampfes geworden war, ging es ihr nach wie vor nicht nur darum, für die Rechte der Frauen einzutreten, sondern ihr Ideal war eine Gesellschaft, in der die Individuen - Männer + Frauen, Arbeiter + Kapitalisten, Weiße + Schwarze- erkennen, daß sie letztlich gemeinsame Interessen haben.“
Es kam zu immer größeren Entfremdungen mit den Frauenrechtlerinnen nicht nur durch ihre kommunistische bis anarchistische Überzeugung, sondern auch vor allem durch ihr unkonventionelles Leben, ihre Skandalgeschichten (und die ihrer Familie!), ihre provozierenden Auftritte bei Prozessen. Sie griff immer wieder Themen auf, die nicht standesgemäß für bürgerliche Frauen waren: Freie Liebe, Vergewaltigung von Prostituierten, Doppelmoral der Männer, absolutes Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihr Leben.
Sie war nicht respektabel!
Sie starb am 9. Juni 1927 im Alter von 88 Jahren. Die letzten 50 Jahre verbrachte sie in England, in denen sie weiterhin durch radikale politische Publikationen zu Diskussionen anregte und sich einmischte.
„Mit ihren Vorträgen über Feminismus, Kommunismus und Freie Liebe füllte Victoria Woodhull Säle mit mehreren tausend Plätzen... (Doch) weil sie sich weigerte, zur Leitfigur einer bestimmten Bewegung zu werden, konnte das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Ideologien, nichts mit Victoria Woodhull anfangen. Im 21. Jahrhundert aber, dem Zeitalter der gescheiterten Ideologien und zerbrochenen Systeme, macht es Spaß, diese außergewöhnliche Frau, die in so vielerlei Hinsicht Pionierarbeit geleistet hat, wieder zu entdecken.

hilli (RoZ)

Antje Schrupp, Das Aufsehen erregende Leben der Victoria Woodhull, Ulrike Helmer Verlag, 245 Seiten, 18,- EUR