Leseprobe

 

 

Antje Schrupp: Victoria Woodhull

 

( Ulrike-Helmer-Verlag, Königstein 2002, 18 €)) - zurück zur Startseite

 

 

 

Heiligabend im Jahr 1837, in einem kleinen Dorf namens Homer, Ohio, USA: Ein methodistischer Prediger hat am Ortsrand ein riesiges Zelt aufbauen lassen, er will die Menschen zu Christus bekehren. Das religiöse Erweckungs-Spektakel ist willkommen, denn es ist sonst nicht viel los auf diesem abgelegenen Fleckchen Erde. Der Prediger ist gut, die Stimmung aufgeputscht. Die Menge schreit, tanzt und lobt den Herrn. Mitten drin eine der enthusiastischsten Anhängerinnen des Predigers: Roxanna Claflin, genannt Annie. Sie ist vom vielen Schreien schon ganz heiser, sie fühlt sich Gott nahe. In solchen Momenten vergisst Annie ihre quengelnden Kinder, ihren cholerischen Mann, die anständigen Damen von Homer, die mit ihr, der verrückten Annie, nichts zu tun haben wollen. Irgendwann fällt die junge Frau in Trance, das passiert ihr häufig. Sie hat kaum noch eine Stimme, trotzdem schreit sie weiter „Halleluja, Halleluja“, bis sie schließlich entkräftet zu Boden fällt. In diesem Moment kommt Buck, ihr Ehemann, zieht sie hinter eine Bank, schiebt ihr den Rock hoch und dringt in sie ein. Rings herum sinken Menschen zu Boden, schreien, stöhnen und singen. Religiöse Ekstase und sexuelle Leidenschaft vereinigen sich zu einer gewaltigen Flamme der Lust – und genau so wurde, jedenfalls nach ihrer eigenen Darstellung, Victoria Woodhull gezeugt.

35 Jahre später kandidiert das Gossenmädchen aus dem kleinen Dorf in Ohio als erste Frau für das Amt der Präsidentin der Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist eine der erstaunlichsten Lebensgeschichten, die man sich denken kann. „Victoria Woodhull hat mehr für die Frauen getan, als jede andere von uns es gekonnt hätte“, schrieb die berühmte Frauenrechtlerin Elizabeth Cady-Stanton, „sie hat den Männern getrotzt und sie herausgefordert, und wurde dafür mit Schmähungen überschüttet, die eine Frau schaudern lassen. Sie hat es riskiert, auf eine Weise von Schande gezeichnet zu werden, die jede andere von uns, die man doch immer willensstark genannt hat, gelähmt haben würde. Sie wird so berühmt sein, wie sie berüchtigt war, ehrlos gemacht von unwissenden und feigen Männern und Frauen. In den Annalen der Emanzipation wird der Name Victoria Woodhull als der einer Befreierin verzeichnet sein“ .

Wie ein Flächenbrand überzog Victoria Woodhull mit ihren Aktionen das Amerika der frühen 1870er Jahre. Die Zeitungen übertrumpften sich gegenseitig mit Schlagzeilen. „Petticoats zwischen den Bullen und Bären der Wallstreet“ titelten sie, als Victoria Woodhull als erste Frau eine Brokerfirma gründete. Der berühmte Karikaturist Thomas Nast zeichnete sie als „Mrs. Satan“, die anständige Frauen auf Abwege führt. „Hiermit verkünde ich, dass die Frauen in Amerika das Wahlrecht haben“ teilte sie selbst in ihrer eigenen Zeitung der erstaunten Öffentlichkeit mit. Als erste Frau hielt sie 1871 eine Rede vor dem Rechtsausschuss des Kongresses und präsentierte dort ihr „Woodhull Memorial“ zum Frauenwahlrecht, womit sie der ganzen Frauenbewegung eine neue Richtung gab. Mit ihren Vorträgen über Feminismus, Kommunismus und freie Liebe füllte Victoria Woodhull Säle mit mehreren tausend Plätzen. 1872 gründete sie eine eigene Partei, und 600 Delegierte aus allen Teilen des Landes nominierten sie zu ihrer Präsidentschaftskandidatin. Und als sie die außerehelichen Affären des berühmten Predigers Henry Ward Beecher publik machte, löste sie einen Skandal aus, der die Medien über Jahre hinweg beschäftigte.

Aber Victoria Woodhull war aber keine gewöhnliche Reformerin, wie es so viele gab im damaligen Amerika. Denn da ist immer auch noch eine andere Seite, eine, die die Verbindung hält zu der freizügigen und ekstatischen Annie Claflin, ihrer Mutter: Victoria Woodhull hat Visionen und sieht Geister, und sie betont immer wieder, dass sie es sind, die ihr in Trance ihre sozialen Theorien offenbaren. Dem Eisenbahn-Millionär Cornelius Vanderbilt sagt sie mit Hilfe der Geister die Börsenkurse voraus und lässt sich dafür gut bezahlen. Sie hat Verbindungen zum New Yorker Rotlichtmilieu, einige ihrer besten Freundinnen sind Prostituierte, und eine zeitlang hat sie selbst auf diese Weise ihr Geld verdient. Sie lebt freizügig, hat wechselnde Liebhaber und nicht zuletzt eine völlig chaotische Familie, die ihr überall hin nachreist und Streitigkeiten lautstark, häufig betrunken, und nicht selten sogar vor Gericht austrägt - zur Freude der Skandalreporter, aber zum Entsetzen der „anständigen“ Reformerinnen und Reformer.

Victoria Woodhull bleibt immer das Mädchen aus der Unterschicht. Und von da bezieht sie auch die Motivation, sich politisch einzumischen: „Als ich als Hellseherin gearbeitet habe“, schreibt sie, „suchten hunderte, was sage ich, tausende von verzweifelten, todtraurigen Männern und Frauen meinen Rat. Die Horrorgeschichten, das erschreckende Unrecht, das mir dabei zu Ohren kam, hat meine Aufmerksamkeit geweckt für die Falschheit und Verkommenheit der Gesellschaft und mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, ob Gesetze, die so viel Verbrechen und Elend hervorbringen, weiter bestehen sollten.“ Victoria Woodhull hat genaue Vorstellungen davon, was sich ändern müsste, damit die Welt besser wird. Und irgendwann fasst sie den Entschluss, ihr Wissen, ihre Lebenserfahrung, ihre Überzeugungen auf der politischen Bühne ihrer Zeit zu Gehör zu bringen.

Sie freundet sich mit einflussreichen Männern an, Philosophen, Journalisten, Wirtschaftsleuten, Politikern – und bringt sie dazu, ihre Ambitionen zu fördern und zu unterstützen. Sie greift die Themen auf, die in ihrer Zeit aktuell sind: das Frauenwahlrecht, die Abschaffung der Sklaverei, den Spiritismus, den Sozialismus. Und diese Themen füllt sie an mit ihren Erfahrungen, mit Beispielen aus dem Leben der einfachen Leute. Daraus entwickelt sie ihre ganz eigene politische Theorie: „Fortschritt, Gedankenfreiheit, Leben ohne Beschränkungen!“ ist ihr Wahlspruch. Das Schlimmste für Victoria Woodhull ist Heuchelei – und davon spürte sie selbst genug am eigenen Leib. Männer, die mit ihr ins Bett gingen, verleumdeten sie ungerührt als Prostituierte. Frauen, die ihr insgeheim anvertrauten, wie recht sie mit ihren Ansichten habe, distanzierten sich tags drauf öffentlich von der „skandalösen Woodhull“. Aber Victoria Woodhull ließ sich nicht entmutigen. „Das Wort Fehlschlag kommt in ihrem Wortschatz nicht vor“, schreibt einer ihrer Liebhaber, der bekannte Journalist Theodore Tilton bewundernd, „ihre Ambitionen sind erstaunlich, sie hält nichts für unerreichbar. Überzeugt, dass ihr Schicksal sie zu Großem bestimmt, schreitet sie mit unwiderstehlichem Fanatismus voran, um es zu vollenden. Weil sie so fest an sich glaubt (oder besser: nicht an sich selbst, sondern an ihre Helfer aus der Geisterwelt), lässt sie nicht zu, dass jemand an ihr oder an ihnen zweifelt. In ihrem Fall ist das alte Wunder wieder in Kraft gesetzt – der Glaube versetzt Berge.“

Dass Victoria Woodhull so selbstsicher, so mutig sein konnte, liegt zum großen Teil an der Unterstützung und Ermutigung, die sie von den weiblichen Mitgliedern ihrer Familie bekommen hat: Nicht nur Mutter Annie war davon überzeugt, dass ihre Tochter zu Großem bestimmt sei. Vor allem Victorias jüngere Schwester Tennessee war eine enge und rebellische Mitstreiterin. Aber auch ihre Tochter Zulu Maud hat selbst nie geheiratet, sondern war Victoria eine unersetzliche Mitarbeiterin und Gefährtin. Diese Stärkung und Bestätigung von ihren engsten Familienmitgliedern war die Basis, von der aus sie operierte. Die Meinung von Mutter, Schwester und Tochter waren ihr Maßstab und ihre Inspiration, und das machte sie unabhängig von den Kommentaren der Zeitungen und von den Konventionen ihrer Zeit.

Die Aktualität ihrer Forderungen und Theorien ist erstaunlich. Vieles von dem, was Victoria Woodhull vor 130 Jahren schrieb und sagte, ist heute noch richtig und erscheint im Rückblick geradezu visionär. Etwa ihr Beharren darauf, dass rechtliche Gleichheit nicht das Hauptziel der Frauenbewegung sein kann, sondern dass es um weibliche Freiheit in einem weiteren Sinne geht. Oder ihre feste Überzeugung, dass eine Arbeiterbewegung, die sich auf den Kampf gegen das „Kapital“ versteift (der ihrem Zeitgenossen Karl Marx so wichtig war) zum Scheitern verurteilt sein würde. Oder die Mahnung, dass erzwungener Sex, auch in der Ehe, ein Verbrechen ist.

Trotzdem ist Victoria Woodhull heute völlig unbekannt. Sie wurde aus den Geschichtsbüchern getilgt, teilweise mit Absicht, teilweise aus Unkenntnis. Weder die Frauenbewegung noch die Arbeiterbewegung würdigten sie als eine ihrer Vordenkerinnen. Das liegt nicht nur daran, dass Victoria Woodhull ihrer Zeit um hundert Jahre voraus war, wie sie selber meinte. Historische Darstellungen wollen meistens eine bestimmte These, wenn nicht gar eine Ideologie vertreten. Deshalb ist es für sie eine wichtige Frage, ob eine bestimmte Person zu den Feinden oder zu den Freunden zu zählen ist. Victoria Woodhull war aber meistens beides – und deshalb konnte man sie nicht einordnen, hielt sie für flatterhaft, nicht ‚ernsthaft’ genug, um einen Platz in der Ahnenreihe der sozialen Bewegungen einzunehmen. 130 Jahre lang war der Skandal des Mädchens aus der Unterschicht, das Präsidentin werden wollte, und dem es für einige Jahre tatsächlich gelang, sich an die Spitze der amerikanischen Frauen- und Reformbewegungen zu stellen, zu unglaublich, als dass er Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hätte.

Nur wenige ihrer Zeitgenossen haben Victoria Woodhull verstanden, und bei ihren Zeitgenossinnen sah es nicht viel besser aus. Ob sie Victoria Woodhull nun bewunderten oder verdammten (letzteres war weitaus häufiger der Fall) – ihre Originalität als politische Denkerin sahen nur wenige. Denn Victoria Woodhull passt in keine Schublade. Sie lässt sich im Rahmen herkömmlicher politischer Bewegungen nicht einordnen, kein „-ismus“ wird ihr gerecht. War sie Kapitalistin oder Kommunistin? Feministin oder Prostituierte? Intellektuelle oder Geistheilerin? Immer scheint die eine Seite ihres Wesens der anderen zu widersprechen. Aber es geht hier gar nicht um ein entweder – oder. Denn wer sagt eigentlich, dass Kapitalismus und Kommunismus nicht zusammenpassen? Wer behauptet, dass eine Prostituierte nicht „respektabel“ sein kann? Und wieso sollte eine Präsidentschaftskandidatin keine Geister sehen?

Victoria Woodhull war keine Spinnerin, wie war nicht einfach nur exzentrisch. Sie schuf und lebte eine soziale Theorie, die in sich stimmig ist. Sie war eine scharfe Denkerin, eine kluge Strategin und eine engagierte Politikerin, aber sie blieb immer auch die Tochter ihrer Mutter. Sie machte ihre eigene Lebenserfahrung zur Grundlage der Politik – und Lebenserfahrungen passen nun einmal nicht in theoretische Schablonen. Victoria Woodhull war nicht einerseits Kommunistin, andererseits Kapitalistin, einerseits Frauenrechtlerin, andererseits Prostituierte, einerseits Politikerin, andererseits Geistheilerin – sie war all das gleichzeitig, und für sie gehörte das auch alles zusammen. Genau wie im wirklichen Leben.

Weil sie sich weigerte, zur Leitfigur einer bestimmten Bewegung zu werden, konnte das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert der Ideologien, nichts mit Victoria Woodhull anfangen. Im 21. Jahrhundert aber, dem Zeitalter der gescheiterten Ideologien und zerbrochenen Systeme, macht es Spaß, diese außergewöhnliche Frau, die in so vielerlei Hinsicht Pionierarbeit geleistet hat, wieder zu entdecken. Sie könnte ein Symbol sein für die weibliche Liebe zur Freiheit, die das Risiko eingeht, sich der Welt und ihrer Widersprüchlichkeit zu stellen und sie dadurch zu verändern. Erste Anzeichen gibt es bereits: Für einen Hollywood-Film über Victoria Woodhull, so heißt es, existiert bereits das Drehbuch.

 

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