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aus: Frauen Unterwegs, Januar 2003

 

Die Geschichte vom Gossenmädchen, das Präsidentin werden wollte

 

Es war einmal ein Mädchen, das wollte mehr vom Leben als einen ehrbaren Mann, ein paar nette Kinder und ein hübsches Häuschen auf dem Lande. Und manchmal werden Träume wahr. Mit Anfang dreißig war Victoria Woodhull Brokerin an der Wallstreet, Herausgeberin einer eigenen Zeitung, eine Anführerin der Frauenbewegung – und die erste Präsidentschaftskandidatin Amerikas.

 

Mit fünf Jahren hat das Mädchen Victoria seine erste Vision. Rachel, eine junge Frau aus der Nachbarschaft, ist ganz plötzlich gestorben. Victoria steht im Garten, geschockt von der Todesnachricht, als Rachels Geist zu ihr kommt. Die Tote nimmt das Kind an der Hand, und sie schweben gemeinsam einen hellen, spiralförmigen Weg entlang, bis sie in eine jenseitige Welt kommen. „Die Geister sagten mir“, erzählt Victoria Woodhull später, „dass ich in ihrem Dienst stehe, dass sie mich immer anleiten und für mich Sorge tragen würden.“

 

Die Geister stehen Victoria auch bei ihrem erstaunliche Aufstieg in das politische Amerika zur Seite. Zehn Jahre lang tingelt sie, teils in Gesellschaft ihrer vielköpfigen und chaotischen Familie, als Hellseherin und Wunderheilerin durch die Lande. „Hunderte, was sage ich, tausende von verzweifelten, todtraurigen Männern und Frauen meinen Rat. Sie kamen aus jeder Lebenssituation, vom verarmten Tagelöhner bis zur vornehmen reichen Dame. Die Horrorgeschichten, das erschreckende Unrecht, das mir dabei zu Ohren kam, hat meine Aufmerksamkeit geweckt für die Falschheit und Verkommenheit der Gesellschaft und mich dazu gebracht, darüber nachzudenken, ob Gesetze, die so viel Verbrechen und Elend hervorbringen, weiter bestehen sollten“.

 

Natürlich sollten sie das nicht. Und als sie dreißig ist, hat Victoria Woodhull erneut eine Vision: Ein Mann in einer weißen Toga, der Geist des antiken griechischen Redners Demosthenes, erscheint ihr und erklärt: „Deine Arbeit soll nun beginnen“. Victoria lässt sich nicht zweimal bitten, nimmt den Zug nach New York City. Und das Unwahrscheinliche gelingt: Schon ein Jahr später eröffnet sie, als erste Frau überhaupt, eine Brokerfirma an der Wallstreet. Noch ein Jahr später gründet sie eine eigene Wochenzeitung, in der sie in einer außergewöhnlichen Mischung aus Börsennachrichten, Feminismus und Esoterik ihre politischen Ansichten unters Volk bringt.

 

Bald steigt Victoria Woodhull auch zu einer Anführerin der Frauenrechtsbewegung auf. Schon seit Jahrzehnten versuchen die Frauenrechtlerinnen vergeblich, die Politiker in Washington vom Frauenwahlrecht zu überzeugen. Das Wahlrecht? – dafür hat sich Victoria bisher nicht sonderlich interessiert. Dass Frauen Geld verdienen können, schreibt sie einmal, dass sie nicht durch materielle Not oder engstirnige Konventionen gezwungen sind, mit gewalttätigen oder alkoholabhängigen Ehemännern zu leben, dass sei viel wichtiger als die Frage, ob sie wählen dürfen oder nicht. Außerdem ist Woodhull nicht der Typ, der Männer um etwas bittet und sich mit kleinen Fortschritten zufrieden gibt. Und so entsteht in ihrem Kopf bald schon eine ganz andere Vision: Wäre es nicht viel schöner, gewählt zu werden, als nur selbst zu werden?

 

Kurzerhand startet Victoria Woodhull eine Kampagne, in der sie sich selbst als Präsidentschaftskandidatin vorschlägt. Und wieder geschieht das Erstaunliche: Sie wird mit diesem Ansinnen keineswegs ausgelacht, sondern selbst angesehene Zeitungen wie der Herald loben ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Woodhulls Argumentation ist auch wirklich gar nicht so abwegig. Sie vertritt nämlich die Ansicht, dass Frauen das Wahlrecht längst haben, weil nämlich im Gesetzestext vom Geschlecht der Wahlberechtigten überhaupt keine Rede ist. Zwar gehen alle wie selbstverständlich davon aus, dass nur Männer gemeint sind – aber warum eigentlich? Victoria Woodhull stellt fest: Ich bin eine Bürgerin der Vereinigten Staaten, ich will wählen gehen, und wer mir das verbietet, der bricht die Verfassung. Sogar der Kongress in Washington lädt Woodhull, wieder einmal als erste Frau überhaupt, dazu ein, ihre Argumente zum Wahlrecht im Rechtsausschuss höchstpersönlich vorzutragen.

 

Es sind natürlich nicht nur Geister, die Victoria beim Politik machen zur Seite stehen: Da ist vor allem ihre jüngere Schwester Tennessee, die sie bewundert und in ihren großen Ambitionen bestärkt. Da ist ihr Lebensgefährte James Blood, ein linker Intellektueller, der sie mit den politischen Theorien ihrer Zeit bekannt macht. Da ist der Eisenbahn-Unternehmer Cornelius Vanderbilt, der reichste Mann Amerikas, der sie zu seiner spiritistischen Beraterin macht und gut dafür bezahlt. Und da sind die radikalen Frauenrechtlerinnen Susan Anthony und Elizabeth Cady-Stanton, die hoffen, Woodhull könne zum Zugpferd für ihre angeschlagene Frauenorganisation werden.

 

Aber gerade unter den Frauenrechtlerinnen sind nicht alle über diesen neuen Star am feministischen Himmel begeistert. Es sind überwiegend wohlanständige Damen aus der Mittelschicht, Pfarrerstöchter, Lehrerinnen, von den moralisch höher stehenden weiblichen Tugenden überzeugt. Sie können nicht so recht aus ihrer Haut. Die meisten sind skeptisch gegenüber dieser dubiosen Unterschichtsfrau, die nicht auf duftendem Briefpapier schreibt sondern auf schlichten Zetteln, der man erst einmal die einfachsten Tischmanieren beibringen muss, und die in Hallen mit Tausenderpublikum über Dinge redet, von deren Existenz eine Dame nicht einmal etwas zu wissen hat: Abtreibung und Prostitution, Vergewaltigung und freie Liebe.

 

Doch es ist immer dasselbe: Das Publikum ist düpiert und geschockt, wenn Victoria Woodhull spricht, und trotzdem gibt es jedes Mal stehende Ovationen. In ihrer Zeit gibt es ein schönes Wort für so etwas: Magnetismus. Victoria Woodhull zieht ihre Bewunderer an, Journalisten, Wirtschaftsbosse, Politiker liegen ihr zu Füßen. In nur wenigen Jahren sammelt sie eine bunte Bewegung von Spiritistinnen, Sozialisten, Frauengruppen und Exzentrikern hinter sich und gründet 1872 eine eigene Partei, die „Partei für gleiche Rechte“. Und lässt sich offiziell zur Präsidentschaftskandidatin nominieren. Heute würde man sagen, sie hatte Charisma, aber das Wort ist viel zu schwach. Vielleicht war es das: der entschiedene Wille, glücklich zu sein – und andere glücklich zu machen. Und ein Selbstbewusstsein, das noch heute verblüfft.

 

Vieles, was Victoria Woodhull vor 130 Jahren forderte, war visionär und ist bis heute höchst aktuell: Die Abschaffung der Todesstrafe, Gesundheitsversorgung für alle, eine Reform der Ehegesetze, allgemeine Schulpflicht, Umverteilung von Wohlstand. Doch ihr Ruhm dauerte nur einige Jahre. Bald schon zogen die selbsternannten Tugendwächter und –wächterinnen Amerikas gegen Woodhull zu Felde. Mit Hilfe von bestochenen Richtern und an den Haaren herbei gezogenen Anklagen brachten sie sie wegen „Obszönität“ im Gefängnis.

 

In den folgenden Jahrzehnten tat man viel, um Woodhull aus der Erinnerung zu tilgen: Tagebucheinträge wurden herausgerissen, Protokolle gefälscht und Geschichtsbücher geschrieben, in denen ihr Name nicht vorkommt. Deshalb ist Victoria Woodhull, die zu ihrer Zeit ein Star war, heute so gut wie unbekannt. Aber die Zeiten ändern sich. Seit ein paar Jahren wird die unkonventionelle Powerfrau wieder entdeckt: Demnächst, so hört man, soll ihr Leben sogar in Hollywood verfilmt werden.

 

Antje Schrupp