Antje Schrupp im Netz

Vom Sinn der Pluralität: Was wir heute noch von Hannah Arendt lernen können

Vortrag am 14.10.2015 im ZiBB Gießen

Die Pluralität der Menschen ist der Kern des Politischen – das ist es, was ich vor allem aus der Lektüre von Hannah Arendts Texten gelernt habe. „Den Menschen“ gibt es nicht, sondern nur viele unterschiedliche Menschen, die in ihrer Verschiedenheit miteinander zusammenleben.

Die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen ist in der Geburt begründet, Hannah Arendt hat den Begriff der „Natalität“, der Gebürtigkeit, in die Politikwissenschaft eingeführt, ein Begriff, der auch in unserem „ABC des guten Lebens“ eine Schlüsselrolle hat. Und wir alle werden nicht in einen luftleeren Raum hinein geboren, sondern in ein „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, auch das eine Formulierung von Hannah Arendt. Ein Bezugsgewebe, das uns prägt, das uns beeinflusst, durch die Familie, die soziale Position, durch eine bestimmte Kultur und Geschichte. Gleichzeitig ist aber jede Geburt ein neuer Anfang. Denn unsere sozialen Bezüge determinieren uns nicht, sondern wir können in ihnen aktiv werden, mit unserer Einzigartigkeit und Verschiedenheit, wir müssen nie einfach so weiter machen, sondern können jederzeit einen neuen Anfang setzen.

Diese Grundsätze, für die Hannah Arendts politische Philosophie steht, sind heute wichtiger denn je. Dabei geht es einerseits um die Differenz, die die Frauen heute in einer historisch männlich geprägten Kultur machen können. Es geht aber auch um die Herausforderungen, die sich durch die Migration und damit das Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kontexten und Kulturen mit sich bringt. Und es geht um die Veränderungen, die sich zum Beispiel in technologischen Entwicklungen ausdrücken und zu Unterschieden zwischen verschiedenen Generationen führen.

Nie nie war die deutsche Gesellschaft so heterogen wie heute. Dadurch entstehen auch Konflikte, und alte Selbstverständlichkeiten müssen neu ausgehandelt werden. Hannah Arendts Politikverständnis hilft, solche Unterschiede und Differenzen nicht als Problem, sondern als Chance zu begreifen.

Aber bevor ich darauf genauer eingehe, möchte ich Ihnen einen kurzen Überblick über Hannah Arendts Leben und Werk geben, denn auch ihre politischen Ideen schweben natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern sind eingebettet in einen Kontext, in ihr persönliches „Bezugsgewebe“.

Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in der Nähe von Hannover geboren, aufgewachsen ist sie jedoch in Königsberg, wohin die Familie bald umzieht. Ihr Vater, Paul Arendt, stirbt früh, als Hannah gerade erst sieben Jahre alt ist. Umso enger ist die Verbindung zu ihrer Mutter, Martha Cohn. In ihr erlebt sie eine politisch aktive, gebildete Frau, die den Wissensdurst und die Eigenwilligkeit ihrer Tochter fördert und unterstützt.

Martha Cohn pflegt politische Freundschaften und engagiert sich in sozialdemokratischen Kreisen, und von klein auf erlebt Hannah Arendt eine diskussionsfreudige Kultur. Bücher gibt es zuhause genug, schon mit 14 liest sie philosophische Werke – Kant, Kierkegaard, Jaspers. Auch den deutschen Antisemitismus erlebt Hannah früh: Das Thema wird zuhause nicht tabuisiert, sondern offen diskutiert und durchdacht.

1924 beginnt Hannah Arendt in Marburg ihr Philosophiestudium bei Martin Heidegger, mit dem die 18-Jährige eine Liebesaffäre beginnt. Der damals 35 Jahre alte Professor war in jener Zeit eine Art Shooting-Star der unorthodoxen, neuen Philosophie. Die Affäre zwischen der jungen Studentin und dem verheirateten Familienvater ist so leidenschaftlich wie kurz. Nach einem Jahr geht Hannah Arendt – auf Anraten Heideggers, der seine bürgerliche Existenz nicht beschädigen will – nach Freiburg und ein Semester später nach Heidelberg, wo sie bei Karl Jaspers promoviert. Ihrem Lehrer und Mentor Jaspers verdankt Arendt in ihrem Denken am meisten, die beiden verbindet eine lebenslange Freundschaft. 1929 heiratet sie den philosophischen Schriftsteller Günter Stern, der später unter dem Pseudonym Günter Anders bekannt wird.

Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, ist Hannah Arendt weder überrascht, noch auch nur eine Sekunde im Zweifel darüber, dass die Situation bald unerträglich sein wird. Günter Stern muss Deutschland sofort verlassen, Arendt bleibt zunächst und wird politisch aktiv. Was ihr zu schaffen macht, sind dabei nicht so sehr die Nazis selbst – Feinde sind eben Feinde. Was sie wirklich entsetzt, ist die Haltung vieler ihrer Studienkollegen. Heidegger ist ja nicht der einzige, der damals den Nationalsozialismus rechtfertigt. »Zu Hitler fiel ihnen etwas ein!« erinnert sich Arendt später, »und zum Teil ungeheuer interessante Dinge! Das habe ich als grotesk empfunden.«

Hannah Arendt engagiert sich in der zionistischen Widerstandsbewegung, geht 1935 zusammen mit ihrer Mutter nach Paris und organisiert dort Unterstützung für Menschen, die vor den Nationalsozialisten fliehen. Sie lernt Walter Benjamin und andere kritische Denker kennen. 1936 trennt sie sich von Günter Stern und verliebt sich erneut – in Heinrich Blücher, einen kommunistischen Exilanten. Dies ist nun wirklich die große Liebe ihres Lebens: Bis zu Blüchers Tod im Jahr 1970 bilden die beiden eine enge und sich gegenseitig bereichernde Lebens- und Denkgemeinschaft.

1940, die Nazis haben Frankreich besetzt, werden Arendt und Blücher interniert, doch beiden gelingt die Flucht und gemeinsam mit Arendts Mutter die Ausreise in die USA, wo sie sich in New York niederlassen. Als sie 1943 von den nationalsozialistischen Vernichtungslagern erfahren, ist das ein Schock. Der Versuch, dieses Unfassbare zu verstehen, steht von nun an im Mittelpunkt von Arendts Denken. Schneller als Blücher gelingt es ihr, im Exil Fuß zu fassen, auch beruflich. Sie schreibt politische Artikel und Kommentare, arbeitet als Lektorin und veröffentlicht 1951 das Buch, mit dem sie bekannt wird: »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft«. Nach Deutschland, das sie 1949 erstmals wieder besucht, will sie nicht zurück, 1951 wird Arendt amerikanische Staatsbürgerin.

Hannah Arendt ist nun eine bekannte Persönlichkeit, sie erhält Lehraufträge und schreibt an ihrem philosophischen Hauptwerk »Vita Activa«, das 1958 erscheint und in dem sie die verschiedenen Weisen des Tätigseins analysiert, mit denen sich Menschen in das »Bezugsgewebe der menschlichen Angelegenheiten«, wie sie es nennt, einknüpfen können.

Doch die Aufarbeitung des Nationalsozialismus ist für sie nicht abgeschlossen. Als 1960 in Jerusalem der Prozess gegen den Holocaust-Organisator Adolf Eichmann beginnt, reist sie als Berichterstatterin für den »New Yorker« dorthin. Ihr anschließendes Buch »Eichmann in Jerusalem«, in dem sie die Theorie von der »Banalität des Bösen« entwickelt, bringt sie ins Rampenlicht der Öffentlichkeit: Heftige Angriffe, gerade auch von jüdischer Seite, hat sie zu verkraften.

Auch wenn diese Kontroverse um ihre Person Arendt sehr mitnimmt, bleibt sie ihren Standpunkten treu. Dabei kann sie sich auf wichtige enge Freundinnen und Freunde stützen – neben Blücher und Jaspers ist das vor allem die Schriftstellerin Mary McCarthy. Bis an ihr Lebensende ist Hannah Arendt als Unterrichtende, als Vortragende, als Schreibende aktiv. Sie stirbt am 4. Dezember 1975 an einem Herzschlag.

Hannah Arendt ist eine von ganz wenigen Frauen, die im männlichen Kanon der politischen Philosophie ihren Platz gefunden haben. Sie gilt selbst in der männerzentrierten Wissenschaft als ihren männlichen Kollegen völlig ebenbürtig und musste nicht erst rückwirkend von der feministischen Geschichtsschreibung »entdeckt« werden, wie so viele andere Frauen. Vielleicht war gerade das der Grund, warum ich sie erst relativ spät schätzen lernte. Während meines Politikstudiums in den 1980er Jahren stand sie nämlich für mich auf der Seite der »anderen«: Sie war schließlich keine Feministin, schrieb nicht über Geschlechterdiskurse und stand der Frauenemanzipation höchst skeptisch gegenüber – und deshalb glaubte ich, sie sei für mich nicht sonderlich interessant.

In den deutschen und englischen feministischen Texten, die damals in der Frauenbewegung zirkulierten und die mich brennend interessierten, kam Hannah Arendt nicht vor. Vielleicht kein Wunder, hatte sie doch Sätze gesagt wie: »Ich bin eigentlich altmodisch gewesen. Ich war immer der Meinung, es gibt bestimmte Beschäftigungen, die sich für Frauen nicht schicken, die ihnen nicht stehen, wenn ich einmal so sagen darf. Es sieht nicht gut aus, wenn eine Frau Befehle erteilt. Sie soll versuchen, nicht in solche Positionen zu kommen, wenn ihr daran liegt, weibliche Qualitäten zu behalten.«

Es war deshalb für mich die Vermittlung einer anderen weiblichen Autorität notwendig, um mein Interesse an Hannah Arendt zu wecken. Und das waren die italienischen Philosophinnen und Feministinnen des Mailänder Frauenbuchladens und der Universität Verona, mit deren Denken ich Anfang der 1990er Jahre in Kontakt kam. Immer wieder zitierten sie in ihren Texten Hannah Arendt.

Deshalb begann ich nun auch, Arendts Texte selbst zu lesen – und war sofort in den Bann geschlagen. Ich kann mich noch an einen Strandurlaub erinnern, in dem ich die ganze »Vita acitva« verschlang, das Buch erschien mir so spannend, dass kein Krimi mithalten konnte. Da war kein gestelztes Bla Bla, kein unverständliches Kauderwelsch, nichts Altbekanntes, sondern vielmehr Denken in höchster Originalität, Wortwitz, eine beeindruckende Kenntnis der Traditionen und unglaubliche Klugheit. Kurz: Ich mutierte zum bekennenden Hannah-Arendt-Fan.

Zurück zu Hause besorgte ich mir das Video des legendären Interviews, das Günter Gaus im Oktober 1964 für das ZDF mit Hannah Arendt geführt hatte – das sollten Sie sich unbedingt einmal anschauen, wenn Sie es noch nicht kennen, man findet es im Internet. Was für eine Präsenz diese Frau hatte, mit welcher Sicherheit sie ihre Meinung verkündete, einer Sicherheit, die nicht aus Überheblichkeit oder Arroganz herrührte, sondern aus der Tatsache, dass sie nicht einfach daherredete, sondern über das, was sie sagte, vorher gründlich nachgedacht hatte und zu originellen Schlussfolgerungen gelangt war. Ich war hingerissen.

Hannah Arendts zentrale politische These, die sie in der Vita Activa entwickelt hatte, ist die von der Pluralität der Menschen als Grundlage politischen Handelns: Weil wir alle Geborene sind, als einzigartige Wesen in diese Welt getreten, gibt es jederzeit die Möglichkeit eines neuen Anfangs. Die Unterschiedlichkeit der Menschen, die in der Politik miteinander verhandelt wird, ist die Grundlage jeder menschlichen Gesellschaft und ihre wichtigste Ressource. Noch heute – fünfzig Jahre später – sind Arendts Analysen von höchster Aktualität, wenn sie etwa das bevorstehende Ende der Arbeitsgesellschaft beschreibt oder die innere Leere und Sinnlosigkeit einer Gesellschaft, die den Konsum zu ihrem Zentrum macht.

Laut Arendt geht es also im Bereich des Politischen nicht um Beweise oder unverrückbare »Wahrheiten«, sondern darum, dass die Verschiedenheit der Menschen eine gemeinsame Welt schafft, deren Zukunft nicht vorhersagbar ist. Dazu gehört, die eigene Meinung kund zu tun, und sich damit auch angreifbar und kritisierbar zu machen.

Im Interview hört sich das zum Beispiel so an: Günter Gaus stellt Arendt als Philosophin vor, sie widerspricht und sagt, ihr Beruf sei »politische Theorie«. Gaus erwidert, dass er sie aber dennoch für eine Philosophin halte. Und Arendt antwortet kurz: »Ja, also dagegen kann ich nichts machen, aber meine Meinung ist, dass ich keine Philosophin bin.«

Dies ist eine rhetorische Figur, die ich inzwischen in mein eigenes Sprechrepertoire integriert habe: Differente Meinungen nicht zu widerlegen, nicht zu versuchen, Beweise anzubringen, die die andere Meinung als falsch entlarven (im Sinne von: »Was du sagst, stimmt aber nicht, weil…«), sondern die Differenz zu benennen und festzuhalten: Ich bin anderer Ansicht, und zwar aus diesem und jenem Grund.

Noch eine andere Passage in diesem Interview hat mir auf ähnliche Weise die Augen geöffnet. An einer Stelle fragt Gaus nach Arendts Motivation, zu schreiben: Will sie damit etwas bewirken, etwas erreichen? Arendt erwidert: »Das ist – wenn ich ironisch werden darf – eine männliche Frage. Männer wollen immer furchtbar gern wirken; aber ich sehe das gewissermaßen von außen. Ich selber wirken? Nein, ich will verstehen. Und wenn andere Menschen verstehen, im selben Sinne, wie ich verstanden habe – dann gibt mir das eine Befriedigung, wie ein Heimatgefühl.«

Der Wunsch, zu verstehen, so wurde mir klar, ist auch das, was mein eigenes Denken antreibt und motiviert. Und zwar die Welt als solche zu verstehen – und nicht nur nachvollziehen zu können, was andere darüber gedacht und geschrieben haben. »Denken ohne Geländer« hat Arendt das genannt.

Dieser Wunsch, verstehen zu wollen, ist meiner Ansicht nach zentral für eine politische Praxis. Es ist ein völlig anderer Ansatz, als es üblicherweise verstanden wird, wenn Politik mit Macht gleichgesetzt wird.

Es gibt nämlich zwei grundsätzlich verschiedene Wege, die Welt zu verändern, also politisch Einfluss zu nehmen: Man kann versuchen, Macht zu bekommen und dann sozusagen „von oben herab“ – etwa durch Gesetze – die eigenen Ansichten durchzusetzen. Das Parteiensystem mit Mehrheitswahlen zum Beispiel beruht darauf. Der andere Weg ist, zu versuchen, andere zu überzeugen, in einen wirklichen Dialog zu treten. Das kann ich nur, wenn ich verstehe, warum etwas so ist, wie es ist, woher die Ansichten der anderen kommen.

Die beiden Wege stehen nebeneinander, sie sind grundsätzlich verschieden, auch wenn sie im realen Leben oft einander berühren. Wenn ich mich zum Beispiel in einer Partei engagiere, kann ich immer wieder von der einen auf die andere Ebene wechseln. Ich kann zum Beispiel den Bürgermeister, mit dem ich mich unterhalte, in seiner Machtfunktion sehen und versuchen, ihn auf meine Seite zu stehen, ihm ein Zugeständnis abzuringen, um so von seiner Macht zu profitieren. Oder ich kann ihn als Menschen mit einer anderen Meinung ansehen und wirklich in ein Gespräch eintreten.

Die Italienerinnen, von denen ich vorhin sprach, schrieben dazu ein Buch mit dem Titel „Macht und Politik sind nicht dasselbe“. Darin untersuchen sie im Detail und auf verschiedenen Ebenen diesen Unterschied von Macht und Politik, und dabei stützen sie sich stark auf Hannah Arend. Ich habe das Buch zusammen mit Dorothee Markert ins Deutsche übersetzt, und vielleicht können wir später in der Diskussion darauf zurückkommen.

Die Italienerinnen waren es auch, die die Erkenntnis, dass Pluralität im Zentrum der Politik steht, auf den Feminismus und die Frauenbewegung bezogen. Sie kamen darüber zu der Erkenntnis, dass es gerade die Differenzen unter Frauen sind, die den Feminismus fruchtbar und interessant machen. Denn auf diese Weise kann ein Austausch entstehen, kann die eine am „Mehr“ der anderen Frauen wachsen, wie ein Buchtitel von Dorothee Markert heißt.

Mit den Ansichten einer anderen Frau nicht einverstanden zu sein, aber das, was sie zu sagen hat, dennoch inspirierend und faszinierend zu finden, ist das Wesentliche bei einer Autoritätsbeziehung – das hatte ich von den Italienerinnen gelernt. Denn es ist genau diese Auseinandersetzung, die zu neuen Erkenntnissen führen kann.

Zum Schluss möchte ich noch eine Unterscheidung erläutern, die Hannah Arendt in Bezug auf das Handeln vorgenommen hat, und den ich sehr bedeutsam und auch wichtig für heute finde. Und zwar den Unterschied zwischen dem „was“ wir sind und dem, „wer“ wir sind.

In der Politik wird sehr viel darüber gesprochen, „was“ Menschen sind: Frauen oder Männer, Einheimische oder Migrantinnen, homo- oder heterosexuell, Weiße oder Schwarze, Alt oder Jung und so weiter. Und natürlich ist es auch wichtig, über solche Unterschiede zu sprechen, weil sie ja auf Strukturen und Ungerechtigkeit hinweisen, wir können nicht einfach so tun, als wären wir alle „gleich“.

Aber diese Sichtweise führt dann eben leicht auch zu Klischees und Stereotypen. Wie, du trinkst Alkohol, du bist doch ein Muslim?

Aber das Wesen eines Menschen geht laut Arendt nicht darin auf, „was“ jemand ist, sondern darin, „wer“ jemand ist. Darin zeigt sich die Person, die Persönlichkeit, die sich eben nicht eins zu eins aus den äußeren Umständen und der Herkunft ableiten lässt, sondern die daraus entsteht, was jemand tut und sagt. Es geht darum, wie wir uns aktiv von anderen unterscheiden, welche Entscheidungen wir treffen, welche Urteile wir fällen.

Das betrifft ganz entscheidend auch den Feminismus und die Frage, was eigentlich eine Frau ist oder was Weiblichkeit ausmacht. Normalerweise geht der Streit hier um die Frage, ob Frausein in der Natur verankert ist – in den Genen, in der Gebärfähigkeit und so weiter – oder ob es eine soziale Konstruktion ist, durch Erziehung und Sozialisation geprägt.

Das Wesen des Menschen, sagt Arendt – und ich ergänze: Auch das Wesen der Frauen – ist aber nicht in der Natur oder in der Prägung durch äußere Umstände zu verankern, sondern im Handeln der Person. Deshalb lässt sich das Menschsein, und auch das Frausein, eben nicht objektiv erforschen, sondern nur handelnd mitgestalten.

In der Vita activa schreibt Arendt: »Im Gegensatz zur Bedingtheit des Menschen, über die wir, wenn auch noch so unzureichende Aussagen machen können, scheint das Problem des Wesens des Menschen unlösbar. Die Formen menschlicher Erkenntnis sind anwendbar auf alles, was »natürliche« Eigenschaften hat, und somit auch auf uns selbst, insofern die Menschen Exemplare der höchst entwickelten Gattung organischen Lebens sind; aber diese gleichen Erkenntnisformen versagen, sobald wir nicht mehr fragen: Was sind wir, sondern: Wer sind wir. Die Bedingungen menschlicher Existenz – das Leben selbst und die Erde, Natalität und Mortalität, Weltlichkeit und Pluralität – können niemals »den Menschen« erklären oder Antwort auf die Frage geben, was und wer wir sind, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil keine von ihnen absolut bedingt.«

Das heißt, es geht eben gar nicht darum, herauszufinden, was eine Frau ist , sondern welche Sinn es hat, vom Frausein zu sprechen und in welcher Weise. Dasselbe können wir auch mit anderen Attributen durchspielen: Es ist sinnlos, darüber zu diskutieren, was ein Muslim ist oder eine Deutsche oder Homosexualität und so weiter. Sondern die Frage ist, welche Bedeutung wir und andere handelnde Personen diesen Zugehörigkeiten geben, wie wir sie gestalten und also immer auch verändern.