Antje Schrupp im Netz

Getrennt und doch verbunden

Die Erfahrung des Todes ist so alt wie die Menschheit. Alle Kulturen haben Formen und Rituale für den Abschied von den Verstorbenen hervorgebracht. Sie helfen, den Verlustes zu verarbeiten.

Zwei Fotos, eine Kerze, im Sommer eine frische Blume – Annedore Bastian hat einen Ort der Erinnerung an ihren Mann geschaffen. Auf einem Schränkchen neben dem Sofa, auf er so oft gesessen hat. Zweieinhalb Jahre ist es her, dass er starb. Die 58jährige Ärztin hat für ihre Trauer Formen gefunden. Das macht es leichter, aber nicht leicht. Trauer braucht ihre Zeit und ihren Ort. Sie braucht Menschen, die beistehen, genauso wie Einsamkeit und Stille. Annedore Bastian hat zum ersten Geburtstag ihres Mannes – wenige Wochen nach seinem Tod – seine engsten Freunde und Freundinnen zu einem Essen eingeladen. »Ich hatte das Bedürfnis, gemeinsam mit anderen zu trauern. Dazu brauchte ich Menschen, die ihn gut kannten.«

Vielen Menschen fällt es schwer, das Abschiednehmen bewusst zu gestalten und sich dem Schmerz zu stellen. Christliche Bestattungsriten greifen deshalb die verschiedenen Phasen der Trauer auf und geben ihnen eine Form: die Erinnerung an den Verstorbenen in der Traueransprache. Dann der Abschied, das »Loslassen« am Grab, die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten im Gebet. Und schließlich der »Leichenschmaus«, die Bekräftigung, dass das Leben weiter geht. »Die Rituale wirken, auch wenn sie nicht bewusst vollzogen werden«, ist Wilfried Steller,Gemeindepfarrer in der Glaubenskirchengemeinde in Frankfurt-Fechenheim,überzeugt. »Beim Weg von der Trauerhalle zum Grab gehe ich zwischen dem Sarg und den Angehörigen. So ist schon etwas dazwischen.« Werfen die Angehörigen dann Erde auf den Sarg, wirken sie symbolisch am Begraben mit. »Sie erfahren das Loslassen körperlich, wenn sie zum Beispiel eine Blume ins Grab werfen.«

Früher waren die Bestattungsrituale viel komplexer, bezogen die ganze Nachbarschaft ein und dauerten mehrere Tage. Davon ist heute nur ein Rest geblieben, und der muss oft unter Zeitdruck absolviert werden: Im Halbstundentakt ist zum Beispiel die Kapelle des Frankfurter Hauptfriedhofs belegt, für die eigentliche Trauerfeier bleiben da mit Glück zwanzig Minuten. Einigen Trauergesellschaften ist das ganz recht, hat Pfarrer Steller beobachtet: »Manche wollen, dass es möglichst kurz und nüchtern über die Bühne geht. Sie erwarten nichts vom Ritual.« Soziologen sprechen von einer sich ausbreitenden »Unfähigkeit, zu trauern«. Die Endlichkeit der anderen – und damit auch die eigene – passt nicht ins Konzept der Leistungsgesellschaft und wird deshalb gerne ignoriert. Zu funktionieren scheint das nicht. Zehn Prozent aller Hinterbliebenen, schätzt eine Studie der evangelische Krankenhausseelsorge, werden durch den nicht verarbeiteten Verlust krank – das sind in Deutschland rund 200.000 Menschen im Jahr.

Wie aber trauert man richtig? »Wenn der Abschied bewusst vollzogen wird, verläuft die Trauer am günstigsten,«, sagt Andrea Klimm-Haag, Pfarrerin am Frankfurter Markuskrankenhaus. Schlagartige Verluste sind viel schwerer zu verkraften.« Wie »schlagartig« Menschen den Tod einer nahen Person empfinden, hängt auch damit zusammen, wie gestorben wird. Vier von fünf Menschen, so die evangelische Krankenhausseelsorge, sterben inzwischen im Krankenhaus oder im Pflegeheim, umgeben von Technik und medizinischem Gerät. Viele Angehörige lässt das bis zuletzt glauben, die Ärzte könnten bestimmt noch etwas machen. Bis der Betreffende »ganz plötzlich« tot ist.

Doch jeder Trend hat einen Gegentrend. Immer mehr Menschen stehen heute zu ihrem Bedürfnis, zu trauern. Im Markuskrankenhaus findet der sorgfältig gestaltete Andachtsraum große Resonanz. Hier können die Verstorbenen aufgebahrt werden, die Seelsorgerin begleitet die Angehörigen mit Gesprächen und auf Wunsch mit Ritualen. Kirchengemeinden bieten Trauergruppen an, private Trauerinstitute veranstalten Seminare und Workshops zum Thema. Und viele Menschen nehmen ihre Trauer einfach selbst in die Hand. Annedore Bastian zum Beispiel hat sich bewusst Zeit gelassen bei der Entscheidung, was mit den Sachen ihres Mannes geschehen soll. »Ich habe mich gefragt: Wie kann ich die Dinge in Ehren halten, die ihm sehr lieb waren? Was geschieht mit den Dingen, die uns verbinden? Dem Bild, das mich an eine gemeinsame Situation erinnert? Der gemeinsam gekauften Kleidung?« Etwa ein Jahr lang hat sie in großer Nähe zu ihrem verstorbenen Mann gelebt. »Aber danach habe ich wieder mehr nach draußen geblickt. Heute ist er mir noch nah, spielt aber in meinem Alltag keine Rolle mehr.«

Wichtig ist für das Abschied nehmen, sich nicht nur die guten Seiten des Verstorbenen in Erinnerung zu rufen, meint Pfarrer Steller. »Der Mensch soll so gesehen werden, wie er war, mit allen Ecken und Kanten, denn Gutes und Böses wird mit begraben.«

Auf welche Weise die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten im Bewusstsein gehalten wird, zeigt sich auch in der Grabkultur. In der Antike lagen die Gräber außerhalb der Stadtmauern. Im Christentum wurden die Toten lange Zeit in oder rund um die Kirche beerdigt, in der Nähe der Reliquien, den sterblichen Überresten der Heiligen. Mit der bürgerlichen Gesellschaft verlagerten sich die Friedhöfe weg von den Kirchen, wurden größer und die Grabstätten individueller. Jedes Grabmalgab auch Auskunft über soziale Stellung und Wohlstand der betreffenden Familie. Auch heute verändert sich die Grabkultur wieder. Berufliche und private Mobilität erschweren die herkömmliche Form der aufwändigen Grabpflege. Alternativen sind eine anonyme Bestattung ohne eigenes Grabmahl oder auch die so genannte Friedwald-Bestattung. Dort wird die Asche des Verstorbenen bei einem bestimmten Baum vergraben, der je nach Wunsch mit einer Namensplakette gekennzeichnet wird.

Für Pfarrer Wilfried Steller ist das ein zweischneidiger Trend. Vor allem die anonyme Bestattung sieht er kritisch: »Viele entscheiden sich dafür, weil sie niemandem zur Last fallen wollen, oder weil sie sich – in Zeiten zunehmender Armut – ein richtiges Grab schlicht nicht mehr leisten können.« Als Alternative schlägt er in den Rasen eingelassene Grabplatten mit Namen vor. Die benötigen keine Pflege, aber die persönliche Erinnerung an den Verstorbenen bleibt: »Das Nicht-Finden der Toten tut den Seelen der Lebenden nicht gut.«

aus: Echt, Nr. 3/2004.