Antje Schrupp im Netz

Schwarz und Weiß

Ein Unterschied wie Tag und Nacht? Vielleicht ist es auch ganz anders.

Das Denken in Gegensätzen prägt weithin unsere Sicht der Welt. Ob Tag und Nacht, Körper und Geist, Gut und Böse, Mann und Frau – sobald sich Unterschiede zeigen, werden sie schnell als Alternativen interpretiert, zwischen denen man zu entscheiden hat: Entweder. Oder. Oder nicht?

Eigentlich ist es ein nur ein Trick, und zwar einer, den schon meine Mutter drauf hatte: »Willst du Wurst oder Käse auf dein Brot?« So, als wäre das die Alternative. Ich wollte natürlich Nutella – aber das war offenbar nicht im Angebot. Wurst oder Käse? Pah. Auch Politiker und Nachrichtensprecher wenden den Trick gerne an: SPD oder CDU wählen? Als ob es darauf ankäme – wo sich deren Programme doch kaum noch voneinander unterscheiden. Die Beispiele sind endlos. Wo wir auch hinblicken, überall werden wir vor scheinbar ultimative Entscheidungen gestellt. »Keine Alternative« sieht Gerhard Schröder zu seiner Politik des Sozialabbaus – was soll das heißen? Entweder wir machen es so, oder was? Die Welt geht unter?

Friss oder stirb. Nimm den 300-Euro-Minijob oder nage am Hungertuch. Entweder Kinder oder Beruf, beides geht nicht. Sicherheit oder Freiheit. Du musst dich entscheiden. Egal worum es geht, es geht immer nur eins, und zwar eins von genau dem, was dir zur Auswahl gestellt wird: Das Programm ist vorgegeben. Sicher, du hast die Wahl, du kannst schließlich hier oder da draufklicken. Aber nirgendwo sonst. Du musst Mann oder Frau sein; Kinder mit unklarem Geschlecht werden zurechtoperiert. Zwitter gab es mal im 18. Jahrhundert, Menschen, die sowohl Frau als auch Mann waren, oder weder noch, ein drittes, anderes Geschlecht. Heute, der Medizin sei dank, herrscht auch hier: Eindeutigkeit.

Männer und Frauen, Schwarze und Weiße, Gute und Böse – das ist doch alles ein Unterschied wie Tag und Nacht. Da steht die Helligkeit des rechten Weges gegen die Dunkelheit von Aberglauben und Verblendung. Man muss schließlich wissen, auf welcher Seite man steht, nichts ist verdächtiger als das Zwielicht, das gräulich Unentschiedene, wo sich – eben! – nur zwielichtige Gestalten herumtreiben, die nicht durchschaut werden wollen, bei denen man nicht weiß, woran man ist.

»Entweder – Oder!« mahnen auch die Verfechter eines reinen Protestantismus und schimpfen auf Bachblütenkurse in Frauengruppen oder gemeinsame Gebeten von Christen und Muslimen. Gott oder Allah! Da will man doch die Unterschiede nicht verwischen. Klar, man ist tolerant. Aber entscheiden musst du dich: Freund oder Feind! Schon Jesus sagte schließlich: Wer nicht mit mir ist, ist gegen mich. Aber warum eigentlich?

Der Dualismus, der die Welt als Ansammlung von Gegensätzen interpretiert, die einander ausschließen, geht auf den antiken persischen Philosophen Zoroaster zurück. Er war von einem unaufhebbaren Gegensatz zwischen Gott und Teufel überzeugt: Die gesamte Welt mit allen ihren Erscheinungen, so Zoroaster, sei geprägt von einem ewigen Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Schöpfung und Zerstörung. Alles muss deshalb vor dieser Folie interpretiert werden: Steht es auf der Seite Gottes oder des Teufels? Diese Weltanschauung hat auch das Judentum – und mit ihm das Christentum – stark beeinflusst. Allerdings gelten hier Gott und Teufel, Gut und Böse nicht als zwei gleichberechtigte Prinzipien, sondern Gott steht eindeutig an der Spitze. So kam zusätzlich noch eine Hierarchie ins Spiel: Gut steht oben, Böse steht unten. Eine Philosophie mit Folgen. Für Männer (oben, gut) und Frauen (unten, böse). Für Geist und Körper. Für Menschen mit heller Haut und Menschen mit dunkler Haut. Für Aufgeklärte und Dumme.

Die ganz platte Schwarz-Weiß-Malerei ist inzwischen natürlich aus der Mode gekommen. Sie gilt als politisch unkorrekt. Das Entweder-Oder-Denken ist aber trotzdem so populär wie eh und je. Es heißt heute bloß nicht mehr Gut und Böse, sondern Yin und Yang. Auch dieses Modell, das aus dem chinesischen Taoismus stammt, teilt die Welt nämlich in die bekannten Doppelpacks auf – Himmel und Erde, Männlich und Weiblich, Aggressiv und Erduldend. Nur dass diesmal die beiden Seiten sich nicht unversöhnlich gegenüber stehen, sondern als gegenseitige Ergänzung verstanden werden. Sie bedingen einander, wechseln sich ab, sind gleichermaßen wichtig. Zwischentöne sind ausdrücklich erlaubt: Frauen entdecken ihre männlichen Anteile, Männer ihre weiblichen. Das alte Denken in Gegensätzen wird dadurch aber nicht aufgebrochen, sondern nur ergänzt um ein Mehr-oder-Weniger. Schwarz und Weiß zugleich gibt es immer noch nicht, es gibt höchstens Mischlinge: Je heller meine Haut ist, desto weniger dunkel ist sie.

Aber: Ist das nicht logischerweise so? Schließlich kann das doch nicht gehen: schwarz und weiß gleichzeitig! Tag und Nacht! Gut und Böse! In der Tat: Schwarz ist nicht Weiß, Tag ist nicht Nacht, und Mann ist nicht Frau. Die Frage ist nur: Was genau macht den Unterschied aus? Im herkömmlichen, dualistischen Modell, erklärt sich immer eins aus dem anderen. Man geht gewissermaßen davon aus, dass über allem ein irgendwie einheitliches Prinzip schwebt und man es im konkreten Fall nur mit Unterformen zu tun hat, die sich aus diesem allgemeinen Prinzip ableiten lassen: Der Mensch zum Beispiel. Oder die berühmte Medaille mit den zwei Seiten. Die konkreten Unterschiede, die man dann beobachtet, stehen niemals für sich, sondern hängen unweigerlich zusammen. Man kann sie als Gegensätze interpretieren, oder als wechselseitige Ergänzung. Oder als unbedeutend im Angesicht höherer Werte nach dem Motto: Letzten Endes sind wir doch alle gleich.

Hinter solchen Erklärungsmustern steht das Bedürfnis, die ganze Welt rational, logisch zu erklären. Die vielen unterschiedlichen, aufgesplitterten Einzelphänomene sollen auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, so oder so. Noch immer suchen Physiker wie Stephen Hawkins erklärtermaßen nach der Weltformel, mit der sich alles erklären lässt. Bislang haben sie sie zwar nicht gefunden. Trotzdem tun wir schon mal so, als ob es sie gäbe und nennen das – »Aufklärung«. Unter diesem sehr bezeichnenden Motto versucht die westlich-europäische Kultur seit einigen Jahrhunderten, das Licht der Erkenntnis in das Dunkel der Unwissenheit zu tragen.

Auslöser war die Konfrontation mit dem Anderen im Zuge der großen Entdeckungsreisen: Fremde Kontinente, fremde Völker, fremde Sitten, die so gar nicht zu den abendländischen Gewohnheiten passten. Mangels allgemeiner Weltformel, die alles auf einen Nenner bringt, brachten die Aufklärer alles Andere (wozu übrigens lange Zeit auch die Frauen gehörten) auf einen Nenner, der ihnen verfügbar war: Die Norm waren sie selbst. »Alles, was anders ist als ich«, philosophierte der weiße Mann, »ist mein Gegenteil«. Und schlussfolgerte: Frau sein bedeutet: nicht Mann sein. Schwarz sein bedeutet: nicht weiß sein.

Feministinnen ebenso wie schwarze Philosophen haben dieses Prinzip längst kritisiert – und andere Denkmöglichkeiten erfunden. Der US-amerikanische Religionswissenschaftler Charles Long zum Beispiel setzt dem Prinzip der Aufklärung, die alles durchschauen und transparent machen will, das Prinzip der Opazität entgegen, der Undurchsichtigkeit also. Seine These: Es ist nicht möglich, das Andere ganz zu verstehen, denn sobald ich anfange, es in rationale Kategorien zu fassen, werde ich es automatisch mit mir selbst vergleichen – und damit falsch liegen. Wir müssen es deshalb aushalten, dass wir das Andere – seien es andere Menschen, andere Kulturen und Religionen, oder auch das andere Geschlecht – niemals ganz verstehen können, dass es zumindest teilweise im Dunkeln bleibt. Denn das Andere ist nicht die Ergänzung unseres Selbst, es ist auch nicht unser Widerpart, unser Feind. Es ist einfach anders. Wie anders, das wissen wir nicht. Die Differenz bleibt undurchsichtig.

Was nicht bedeutet, dass wir uns von dem Anderen fernhalten müssen. Die Philosophin Luce Irigaray zum Beispiel spricht von einem »Zwischenraum«, der bei jeder Begegnung von Verschiedenem bestehen bleibt. Wenn beide Seiten sich treffen, entsteht eine Beziehung, in der die beiden Teile nicht verschmelzen, aus der sie aber verändert hervorgehen. Die Unterschiede bleiben bestehen, und dennoch ist Veränderung möglich. Zwischen mir und dem Anderen kann eine Beziehung entstehen, wir können miteinander reden, arbeiten, streiten, uns lieben – auch wenn wir uns gegenseitig nicht durchschauen und nicht völlig verstehen.

Unterschiede müssen also weder aufgehoben und angeglichen, noch als Gegensätze verstanden werden. Man kann einfach mit ihnen leben. Mit Schwarz und Weiß, mit Mann und Frau, mit Gott und Allah. Sogar mit SPD und CDU oder mit Wurst und Käse. Wenn Unterschiede aber als einander ausschließende Alternativen präsentiert werden, zwischen denen man sich angeblich zu entscheiden hat, dann ist das fast immer nur ein Trick, ein Fehler im Denken. Denn das Andere, die Alternative zum Herkömmlichen, bleibt undurchsichtig. Das heißt: Es gibt keine Gewissheit, restlose Aufklärung ist eine Illusion. Das heißt aber auch: Es gibt immer eine andere Möglichkeit. Es kommt nur darauf an, sie zu (er)finden.


aus: Frauen Unterwegs, November/Dezember 2004