Mystik/Spiritualität

Liebe zur Freiheit - Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik

Home ] Diskussionsforum ] Kapitel 1 ] Rezensionen und Zuschriften ] Veranstaltungen ] Die Autorinnen ] Der Prozess ] Literatur ] Links ]

Startseite

Affidamento
Alter/Generationen
Aktionen/Engagement
Angela Merkel und Co.
Autorität und Amt
Begehren
Big Brother
Bindung an Dinge
Cyberwelt
Dankbarkeit
Daseinskompetenz
Differenz
disfieri - Maschen aufziehen
Eigentum
Ende des Patriarchats
Ethik und Normen
Feminismus im Mainstream?
Flugschrift allgemein
Frauenbewegung
Frauen von...
Freiheit und Abhängigkeit
Geld
Gelingende Beziehungen
Geschlechterdifferenz
Globalisierung
Glück
Gurus unter Frauen
Handeln - tätig sein
Hausarbeit - Care
Herr und Gott
Homosexualität
Ideen
Illusionen
Institutionalisierung
IQ-Tests
Italienerinnen
Juristinnen
Macht
Das männliche Imaginäre
Mailingliste
Mystik/Spiritualität
Politik
Präsenz des Weiblichen
Schweizer Expo
Schweden
Sexualität
Sozialarbeit
Sozialstaat
Staat und Gerechtigkeit
Sprache und Theoriebildung
Symbolische Ordnung
Teilen
Terroranschlag
Verantwortung der Mütter
Verfassung
weibliche Identität
Väter
Zivilisation

 

 

Siehe auch: Nachlese zur Mystiktagung mit Luisa Muraro und Chiara Zamboni im Oktober 2000 in Frankfurt

 

Traudel Sattler:

Ich habe mich gerade kürzlich in die mailing-list eingeklinkt und möchte jetzt meine Eindrücke zu dem Seminar "Spiritualität und Politik" (am 14.Oktober in Frankfurt) und zu Euren Kommentaren äußern. Da Mystik und Spiritualität für mich ein nahezu unzugängliches Thema sind (wie den Teilnehmerinnen des Seminars an der VHS Wetzlar am 16.September sicher deutlich geworden ist), brauche ich ganz dringend den zweiten Teil: "und Politik", d.h. eine politische Übersetzung, eine Vermittlung, um mit diesen Mystikerinnen  heute etwas anfangen zu können. Ich war ja als Übersetzerin von Luisa Muraro dort (das war lediglich eine sprachliche Übersetzung). Und genau wie Fidi war ich der Auffassung, dass ich bei diesem Thema keineswegs erwarte, alles zu verstehen – natürlich musste ich in gewissem Sinne "verstehen", um den Text richtig zu übersetzen. "Verstanden"  im Sinne von "für mich aufnehmen Können" habe ich dann aber besonders die Teile von Luisas Referat, wo sie z.B. von den Schwierigkeiten eines Mannes spricht, "eines der besten damals", Jan Ruisbroec, die Freiheit im Denken und Sprechen einer Frau, nämlich Margareta Porete, aufzunehmen, und wie er sich angesichts dieser Schwierigkeiten an vorgefertigten Denkmustern festklammert. Das war für mich eine der  wichtigen Verbindungen zur Gegenwart. Ich weiß nicht, ob das auch für Antje und Fidi das der Punkt war, ihr gebt in Euren Kommentaren dem Unbehagen und dem Ärger viel mehr Raum als dem, was Ihr bei den "Italienerinnen" für euch rausgezogen habt ("spannend" bzw. die Referentinnen haben mit mir gesprochen). Was ich besonders interessant fand, war die Tatsache, dass in vier Vorträgen (Luisa Muraro, Chiara Zamboni, Milagros Rivera und Gisela Jürgens), die alle an verschiedenen Orten von verschiedenen Frauen geschrieben worden waren, so etwas wie eine Bezugnahme untereinander -  und auch zu mir - stattfand, und zwar in folgenden Punkten: die Zentralität von Beziehungen, das Politikmachen über Sprache, die weibliche Erfahrung als ein "Plus". Die Interpretationen des Lebens bzw. Schreibens so "ferner" Frauen wie der Mystikerinnen sind meiner Meinung nach gelungen, weil die Interpretinnen - wenn auch geographisch mehr oder weniger weit voneinander entfernt - eine Lesart hatten, die von einem politischen Denken und einer politischen Praxis ausgeht. Ich garantiere euch, ohne die hätte ich niemals einen Funken von Interesse für die Mystikerinnen aufgebracht. Diese Vermittlung hat also für mich in diesen Referaten stattgefunden. Thereas Wobbe hat über Edith Stein gesprochen, und sie weiß sicher sehr viel über sie. Ich bin absolut nicht damit einverstanden, das es ein Enzyklopädie-Wissen ist, wie Antje meint. Sie  sprach aus einer universitären Perspektive, und es stimmt, dass eine politische Interpretation erst durch eine politische Fragestellung aus dem Publikum angeregt werden kann. Genau das hat Luisa Muraro ja getan, als sie fragte, ob man das fragmentierte Leben von Edith Stein (in dem Theresa Wobbe ihre Modernität sah) nicht interpretieren könne als ständig neuee und immer wieder gescheiterte Versuche, ins männliche Symbolische vorzudringen und dort Anerkennung zu finden - was zeigt, dass solche Emanzipationsanstrengungen grundsätzlich ein "Massaker für den weiblichen Geist" bedeuten. Und das betrifft sehr stark unsere Gegenwart! Ansonsten hat's mich gefreut, dich Antje, kennengelernt zu haben und mit dir über die mailing list zu plaudern, weil wir hier in Mailand in der Libreria ja auch eine aufmachen wollen (19.10.00)

 

Ina Prätorius:

Eure post-Frankfurt-Debatte ist interessant. Gibts demnächst wieder eine "Frankfurter Schule"? Mich irritiert aber, dass bei diesem Thema "Mystik und Politik" fast immer vorausgesetzt zu werden scheint, dass Mystik eine Sache der Vergangenheit ist, die wir - mehr oder weniger gut - in unsere Gegenwart transponieren und mit unseren heutigen politischen Anliegen in Verbindung setzen. Das entspricht nicht meinem Jetzt-Gefühl. Für mich ist Mystik die pure Gegenwart, genau so wie Politik. Zwar habe auch ich das Gefühl, Transport-Arbeit zu leisten, aber ich transportiere nicht Erkenntnisse aus einer längst vergangenen fremden Epoche in eine vertraute Polit-Gegenwart, sondern eher Erfahrungen und Wissensbruchstücke aus der einen Kammer meiner Seele in die andere. Dabei habe ich oft das Gefühl, dass die Türen zwischen den verschiedenen Seelenkammern eigentlich - gefühlsmässig - offen stehen, das ses aber zu wenig Worte gibt, um diese Gefühle der Durchlässigkeit angemessen zu benennen. Meine Arbeit ist es, solche Worte zu (er)finden. Dabei sind mir Besuche bei lebendigen Klosterfrauen und Erkundungsreisen in unbenannt-unbemannte Praxisräume postpatriarchaler Spiritualität mindestens ebenso wichtig wie die "alten" Mystikerinnen. Ist das zu verstehen? (20.10.00)

 

Fidi Bogdahn:

Liebe Traudel, ich beneide dich!....jetzt willst natürlich wissen worum: du hattest das Referat von Luisa sicherlich schon vorher, um es durchzulesen; dann hast du es uns laut vorgetragen; und du bist sicher obendrein eine ganz kluge Frau - ich finde das toll, solch einen Zugang zu so einem Referat zu haben; also mein Neid ist kein neidender, sondern eher dich wahrnehmender. Und da möchte ich gleich anfügen: deine Art zu übersetzen war für mich sehr hilfreich, auch durch deine Weise immer wieder mit Luisa in klärenden Kontakt zu gehen, -danke! Ich habe mir während dieser Referate einige Sätze aufgeschrieben, die ich nun vor mir liegen habe, die mich locken weiter zu "forschen", und die mich erinnernd wachhalten, es wahrzunehmen, wenn diese Referate veröffentlicht mir zugänglich sein werden. Das ist meine Möglichkeit, mir Wissen zu schaffen -und diese meine "Wissenschaft" ist das, was für mich "politisch" bedeutet. Dazu gehört z.B., von Luisa zitiert: "Es ist möglich alles zu wollen, ohne verrückt zu werden -  dank der Liebe". Ich hatte auch die Rückseite des Programms gelesen. Dort stand u.a.: "Die Fragen, die wir uns stellen wollen, beziehen sich auf die Eigenständigkeit von Spiritualität und Politik und auf die Möglichkeiten ihrer Begegnung, nicht ihrer Verschmelzung." Das hatte mich stutzig gemacht, denn mich interessiert Mystik an sich nicht und Politik auch nicht. Aber wenn die zwei sich begegnen im Leben....dann entsteht doch was ganz Neuees, -um das geht es mir, und das kann ich nicht nur durch Denken erfassen. Die Dimension des Staunens, Ahnens und letztlich des Erfahrens...dieses war für mich in den drei letzten Referaten aus unterschiedlichen Gründen nicht zugänglich. Schön, dass du es hast anders erleben können. Und nun möchte ich nicht NEID wiederholen,  sondern mir sagen:  das ist eben DEIN Vermögen. Ich tröste mich mit einer Aussage von Simone Weil: "Sprache geht weiter als Intelligenz" und diese Aussage möge nun ganz und gar nicht zu einem sprachlichen Missverständnis führen... (20.10.00)

 

Antje Schrupp:

Meine Nachüberlegungen zu diesem Mystik-Seminar kommen vor allem daher, weil ich ja auch über "historische" Frauen schreibe und mir die Frage stelle, was das Interessante an ihnen ist bzw. warum ich eigentlich von anderen erwarten soll, dass sie das interessant finden. Und da bei diesen Vorträgen mir zwei sehr gut, zwei so mittelmäßig und einer überhaupt nicht gefallen hat, hab ich mir eben überlegt, warum das so war und was ich daraus lernen kann. Ich finde auch, dass es nichts damit zu tun hat, etwas von "damals" nach "heute" zu übersetzen und das Bild von den zwei "Kammern" von dir, Ina, gefällt mir gut. Die Frage ist: Hilft mir das, was ich von "historischen" Frauen höre, die Welt zu verstehen und mich in ihr zu bewegen? Damit das so sein kann, muss erst einmal die Rede sein, von dem, was diese Frauen dachten und wie sie die Welt vermittelten. Historische Informationen über ihr Leben etc. sind also nicht per se interessant, sondern nur dann, wenn sie zum Verständnis ihres Denkens beitragen. In dem Vortrag über Edith Stein und auch in dem von Terese von Lisieux erfuhr ich aber gar nichts über deren Denken, sondern nur über ihr Tun - und damit kann ich nichts anfangen. Ich bin in dieser Hinsicht aber auch besonders sensibilisiert, da ich mich durch massenweise Biografien über Victoria Woodhull z.B. gelesen habe, die nur von ihrem Leben erzählen ohne sich letztlich für ihr Denken zu interessieren. Und das Leben wird immer nur in Auseinandersetzung mit der Umwelt interpretiert, womit man ganz in den Maßstäben des "Patriarchats" verhaftet bleiben. Beim Vortrag über Edith Stein war es dann so, dass der "rote Faden" durch ihr Leben das dauernde Treffen von "unkonventionellen" Lebensentscheidungen war. Aber dass eine Entscheidung - nach herkömmlichen Maßstäben - konventionell oder unkonventionell ist, kann ja eben kein Kriterium sein, wenn wir diese Maßstäbe in Frage stellen. Das Gute an der Herangehensweise von Luisa und Chiara ist, dass sie über die Erkenntnisse von Margarete Porete bzw. Simone Weil gesprochen haben. Über die Erkenntnisse Margaretes z.B. im Hinblick auf die Verbindung zwischen Mensch und Gott - das ist ein Thema, das unabhängig von irgendwelchen Zeitbezügen immer aktuell ist. Und damit zur Wissenschaftlichkeit: Als Nicht-Margarete-Expertin kann ich nicht beurteilen, ob Luisas Interpretation von Margarete haltbar ist oder nicht. Das Gute daran ist, dass das aber auch völlig egal ist - es ist letztlich nicht wichtig, ob die Entdeckung der Kontingenz Gottes wirklich originär Margarete Porete ist, oder ob es eine Entdeckung Luisas ist, zu der sie durch das Lesen von Margaretes Texten inspiriert wurde. Wichtig ist, dass es eine Entdeckung ist, die mir etwas sagt, d.h., die mir einen neueen Blick auf das Thema - Verbindung Gott/Mensch - ermöglicht und woran ich selber weiterdenken kann. So versuche ich daher auch selber an meine Begegnung mit historischen Frauen heranzugehen: Wenn ich ihre Texte lese - was sagen sie mir, was lerne ich daraus, zu welchen Erkenntnissen führt mich das. Und dann muss ich das sagen, mich mit meiner Person hinstellen und sprechen. Damit stellt sich die Frage: Vermischt sich so nicht die Autorinnenschaft zwischen mir und der Frau, über deren Denken ich spreche? Und wenn es so wäre, ist das eigentlich schlimm? (22.10.00)

 

Ina Prätorius:

Irgendwie hast Du schon recht mit Deiner Hermeneuetik. Auch wenn mir dabei das Urteil "radikaler Subjektivismus, hatten wir doch auch schon mal..." auf der Zunge liegt. Ich würde da irgendwo noch die Widerständigkeit des Historischen einfügen, damit sich die weiblichen Subjekte nicht gänzlich ineinander auflösen. Mir ist an "vergangenen" Frauen manchmal gerade ihre Unverständlichkeit und damit ihr Widerstand gegen Vereinnahmungen meiner-unsererseits wichtig. Das ist aber kein Widerspruch zum "Weiterdenken". Weiterdenken ist die Hauptsache, da stimme ich Dir zu. Aber das, was ich nicht weiterdenken kann, beim besten Willen nicht, möchte ich - manchmal - auch zur Kenntnis nehmen, als eine Art Geheimnis, das ich nicht lösen kann und das mir die Fremdheit des Anderen vergegenwärtigt. (22.10.00)

 

Traudel Sattler:

Meine Reaktion kommt vielleicht etwas spät - mittlerweile seid Ihr schon bei der Diskussion über die Juristinnen, ich muss mich wohl erst noch an die Schnelligkeit dieses Mediums gewöhnen: die mails können nicht wie unbeantwortete Briefe länger als eine Woche liegenbleiben... Ich wollte euch nur mitteilen, dass ich mich gefreut habe über eure Antworten auf meine mail. Sie haben mir auch gezeigt, dass eine Diskussion per mailing list durchaus "Tiefgang" haben kann, ich als "Neueling" fürchtete nämlich zunächst das Risiko, dass es bei sehr schnell hingeworfenen Statements bleiben könnte. Sehr wichtig war für mich Inas Hinweis, dass Mystik nicht nur eine Sache der Vergangenheit ist (da würde dir auch Luisa Muraro sofort zustimmen, sie zählt auch zeitgenössische Schriftstellerinnen wie Clarice Lispector und Cristina Campo zu den mystischen Schreiberinnen). Recht hat auch Fidi, wenn sie sagt, dass ich im Vorteil war, weil ich Luisas Text schon kannte (es stimmt, durch die Übersetzung konnte ich mich ganz langsam herantasten). Und eure Reflexionen über euer "Unbehagen" haben mir weiter geholfen als der pure Ausdruck desselbigen... Dadurch habe ich nämlich auch was über eure eigenen Forschungen erfahren! (30.10.00)

 

Ina Prätorius:

Ich hab nochmal eine Frage zum Thema der aktuellen Frauen-Mystik-Rezeption: Mir fällt auf, dass in diesem neueen feministisch-politischen Anknüpfen an die Mystik ebenso wie in der Flugschrift dieser ganze Bereich Mystik/Gottesliebe/Spiritualität etc. fast immer unter Absehung der konkreten geistlichen Praxis der (historischen und gegenwärtigen) Frauen abgehandelt wird. Dieser ganze Praxisbereich (Gottesdienst, Schweigepraxis, konkrete alltägliche Uebungen der Ordensregel, Gebet, geistlicher Gesang, Fasten,...) stellt hier gewissermassen einen blinden Fleck dar, jedenfalls in meiner Wahrnehmung. Dass ich das so wahrnehme bzw dass ich es vermisse, liegt vielleicht daran, dass meine alltägliche Praxis so eine Art postpatriarchal-klösterlich-geistliches Experiment ist: Ich schweige, bete, fürbitte etc. täglich, allein und in Gemeinschaft... jedenfalls sehr intensiv, nicht wirklich in der Kirche, aber sehr nahe dran, anschliessend an die kirchliche Tradition und ohne Berührungsängste ihr gegenüber. Und dabei merke ich, dass diese konkret-geistliche Praxis mein Verhältnis zur Welt und zum Politischen stark verändert/intensiviert. Ich nähere mich also der Mystik weniger durch Textstudium an, sondern dadurch, dass ich mich einer der (historischen) Frauenmystik vergleichbaren Praxis befleissige und sie so immer besser zu verstehen meine. Und dann frage ich mich: Kann jemand die Mystik überhaupt verstehen, der/die diese Praxisformen ausser Acht lässt bzw. die traditionell-antiklerikal-aufgeklärt-linken Berührungsängste ihnen gegenüber nicht in Frage stellt und bearbeitet? Ist Mystik verstehbar, wenn die Gottes- und Weltliebe dieser Frauen nur als ein "Denken" in Erscheinung tritt? Müssten wir nicht im Zuge der Aufhebung "falscher Alternativen" (vgl. Flugschrift passim) auch die nach wie vor sehr lebendige Spaltung zwischen "politischen" und "spirituellen" Frauen bearbeiten/aufheben, und zwar nicht einfach theoretisch, sondern auch in unserer Praxis? (5.11.00)

 

Antje Schrupp:

das ist ein spannendes Thema, das du da ansprichst. Ich sehe das Defizit auch, aber gleichzeitig geht es mir ähnlich, wie Traudel, dass ich mich bei solchen spirituellen Veranstaltungen nicht wohlfühle. Es gibt eine Sperre in mir, die sich weigert, zum Beispiel zu "Beten" - zumindest in solchen Formen, die allgemein als Beten bezeichnet werden. Was ich kenne und also "praktiziere", sind solche Situationen des sich-treiben-lassens, der Tagträumerei, des Abhängens, aus denen ich gewissermaßen Kraft ziehe, weil der Verstand dabei zeitweise ausgeschaltet ist. Aber ist das "Spiritualität"? Für mich ist das Vorgehen von Luisa Muraro, die Erkenntnisse und "Erfindungen" der Mystikerinnen denkerisch anzugehen, sie also als Philosophie zu verstehen, sehr hilfreich, denn es erlaubt mir, meinen Verstand nicht als Gegensatz zu Mystik oder Spiritualität zu sehen. Ob daraus eine Praxis werden kann, weiß ich noch nicht Jedenfalls kann ich nicht diese Phase "überspringen" und einfach so an diesen spirituellen Veranstaltungen teilnehmen, die es gibt, und wo dieser Schritt noch nicht gemacht wurde. Es ist noch sehr notwendig, den instrumentellen Charakter zu kritisieren, den diese Versuche meistens haben - nach dem Motto, ich bete, meditiere etc. um dies oder jenes zu erreichen. Stattdessen gehe ich auch so vor, dass ich Transzendenzerfahrungen im "ganz normalen" Leben wiederfinde, weil ich sie mit Hilfe des Denkens von Muraro oder v.a. auch Chiara Zamboni erkenne, wenn sie stattfinden. Sehr richtig finde ich dabei nämlich Chiaras Beobachtung (in dem Aufsatz "Der Materialismus der Seele" in dem DIOTIMA-Buch "Die Welt zur Welt bringen"), wo sie sagt, die Transzendenzerfahrung ist nur möglich, wenn man sie immer wieder in neueen Formen ausprobiert. Wenn solche Erfahrungen zur Wiederholung werden, also ritualisiert werden, dann funktioniert's nicht mehr. Das entspricht auch meiner Erfahrung, aber es widerspricht natürlich der religiösen Praxis, für solche Dinge Rituale zu erfinden. Mich jedenfalls langweilen Rituale immer, und ich halte sie wenn überhaupt nur für sinnvoll, was die Organisation des menschlichen Zusammenlebens angeht, denn Rituale sind gemeinschaftsstiftend (zum Beispiel unser WG-Ritual, jeden Montag Akte X zu gucken oder jeden Dienstag zu kochen). Was eine spirituelle Praxis angeht, halte ich Rituale für kontraproduktiv und ich kann auch dem disziplinierenden Charakter nichts abgewinnen, die sie oft haben. Aber abgesehen von der persönlichen religiösen Praxis hat das Ganze für mich noch einen anderen Aspekt, nämlich die Frage, nach Aberglauben, "Unmöglichen" Geschehnissen usw. Auch da ist der Ansatz von DIOTIMA in gewisser Weise "domestizierend", Tranceerfahrungen, Visionen usw. werden schon bis zu einem gewissen Grad "wegerklärt", vom Denken einverleibt. Vielleicht nicht bei allen, aber bestimmt bei Luisa. Mir ist das etwa aufgefallen, als ich sie bei dieser Tagung neuelich auf den Spiritismus ansprach. Ich beschäftige mich doch derzeit wieder mit Victoria Woodhull, einer Feministin und Sozialistin aus dem 19. Jhd., die auch Spiritistin war, also Kontakt mit den Geistern verstorbener hatte, was zu der Zeit ziemlich verbreitet war (man hatte grade Elektrizität und Telegrafen erfunden und das war sozusagen die Parallele dazu). Jedenfalls fragte ich Luisa, ob sie sich schonmal damit beschäftigt hätte, oder eine kennen würde, die das tut (schließlich waren das auch hauptsächlich Frauen, genau wie bei den Mystikerinnen) und sie reagierte ziemlich vehement, das sei  ja wohl alles Humbug und Blödsinn. Also sie reagierte genauso, wie man hier vor 20 Jahren auf den Versuch reagiert hätte, die Mystikerinnen als Denkerinnen ernst zu nehmen. Wie auch immer, jetzt steh ich da und muss einerseits Victoria versuchen zu verstehen (die nämlich m.M. nach nicht einfach nur eine Scharlatanin war) und andererseits mit Luisas Urteil klarkommen (zumal ich aus Andreas neueem Buch wieder mal dran erinnert wurde, dass sich Autorität gerade dann bewährt, wenn die Betreffende anderer Meinung ist, als ich selbst :)). Diese Frage, wie ich Leuten begegne, die behaupten, sie hätten Kontakt zum "Jenseits" - nicht nur in ihrer sanften spirituellen Form, sondern auch in der harten spiritistischen, die wir normalerweise für Aberglauben halten - beschäftigt mich derzeit sehr, nicht nur bei Victoria, sondern auch in der Arbeit über Naturreligionen, insb. dem Candomblé in Brasilien (wen's interessiert: Das Manuskript zu einer Radiosendung, die ich drüber gemacht habe, steht frisch auf meiner homepage www.antjeschrupp.de) und ich bin noch nicht zu einem Ergebnis gekommen. (5.11.00)

 

Ina Prätorius:

Es geht eigentlich um die Frage, ob die Mystikerinnen trotz oder wegen ihrer geistlichen Disziplin die geistige und politische Grösse entwickelt haben, die wir jetzt feststellen, oder ob geistliche Übung und Denken bei ihnen keinen Bezug haben, weil das Kloster eben die einzige Möglichkeit (und also ein notwendiges Übel) war, in dem weibliches Denken entstehen konnte. Zu fragen wäre auch, ob es bei den "modernen Mystikerinnen" (aufgrund welcher Wahrnehmungen kommt es überhaupt zu dieser Kategorie?) etwas gibt, das den geistlichen Übungen der mittelalterlichen FraÜn entspricht? Davon weiss ich zu wenig. Deine Vorbehalte, Antje, gegen all das, was üblicherweise unter Beten etc. verstanden wird, kann ich gut nachvollziehen. Weil ich sie jahrelang auch "praktiziert" habe - die Praxis bestand in einer für andere oft störenden Arroganz, mit der ich dann schliesslich selber nichts mehr anfangen konnte -, gehe ich jetzt einen neueen Weg. Nicht ganz freiwillig übrigens, und auch diese gewisse krankheitsbedingte Unfreiwilligkeit des geistlichen Lebens verbindet mich mit den Mystikerinnen, die ja meistens auch nicht gerade körperlich topfit waren: Ich lebe mit einer gewissen Disziplin so, dass es meinem Geist/Körper guttut und nenne die Praxisformen, die sich dabei entwickeln (vor allem regelmässges Schweigen, aber auch Singen und Beten) vorerst meine "unbenannte/unbemannte Spiritualität". Und dabei nähere ich mich wie vonselbst den alten Formen wieder an, ohne sie allerdings zwanghaft zum Massstab meines Tuns zu machen. (Dein Sich-Gehen-Lassen, Antje, von dem Du Dich fragst, ob es "Spiritualität" ist, war da gewissermassen der Anfang und ist auch jetzt noch ein sehr wichtiger Teil meines "geistlichen Lebens".) Und, wie gesagt: dadurch ändert sich das Denken und die Beziehung zur Welt, und zwar nicht zu knapp, was mich nun eben zu dieser Defizitwahrnehmung in der neueen Mystik-Rezeption führt. Übrigens bedeutet dieses Vermissen eines vermutlich wichtigen Aspekts keineswegs eine grundsätzliche Infragestellung dieser Art, die Mystik als Denken und Politik zu verstehen, das finde ich nach wie vor faszinierend, aber es fehlt halt noch was... (und irgendwie ist es natürlich logisch, dass ausgerechnet dies fehlt, weil es da ja eine berechtigte Abgrenzung gegen die lange Zeit dominante nur-religiöse Interpretation der Mystik gibt). Im übrigen gibt es ja bei Hannah Arendt diese vergleichbare Bewegung, die Weltsicht der jüdischen Religion in politisches Denken zu verwandeln. Diese Denkbewegung ist so bedeutungsvoll, dass ich es immer noch nicht ganz fassen kann. (6.11.00)

 

Alexandra Robin:

Für mich ist der gegensatz von verstand und spiritualität erstmal keiner. vom ansatz her bin ich  anhängerin einer befreiungsthealogie, die trennung von philosophie,  und spiritualität geht nicht an mich, das verbindende element ist hier sicherlich die psychologie. es handelt sich bei allen dreien um die betrachtung des menschen in wechselwirkung mit der umwelt- auf verschiedenen ebenen, die nebeneinander existieren. tranceerfahrungen sind ein uralter bestandteil menschlicher erfahrung, ich halte es mit felicitas goodman, die einen zusammenhang herstellt zwischen drogenmißbrauch und der menschlichen sehnsucht nach eben solchen erfahrungen . was die "spirituelle praxis" angeht, ist es sicherlich wichtig, "ritual" von "zeremonie" und "gewohnheit" abzugrenzen, ein ritual ist eine in symbol- und bildersprache übersetzte handlung, für ein ritual brauche ich eine klare zielvorstellung, insofern nutzt sich ein ritual nicht ab, es macht sich mit erreichen eines bestimmten zieles überflüssig. das, was landläufig mit ritual verwechselt wird, sind gewohnheiten, die sicherlich einem zweck dienen, das gemeinsame kochen mit der wg z.b.,ist durchaus gemeinschaftsstiftend -aber kein ritual. ob spiritismus (nicht spiritualität) jetzt blödsinn ist oder nicht mag erstmal dahingestellt sein- ich denke, solche -äh- zeremonien verraten mehr über die wünsche, sehnsüchte und inhalte der spiritistin als über die vorgänge im jenseits. (8.11.00)

 

Antje Schrupp:

Deine Definition von Ritual als Abgrenzung von Gewohnheit finde ich sehr hilfreich. Von da aus kommen wir dann auch schnell weiter zum Thema Autorität, denn es muss eine geben, die weiss, wieso das Ritual, das ich nicht verstehe, seinen Zweck erfüllt. Allerdings gilt das in gewisser Weise für meine Mutter genauso für eine Priesterin, mit dem Unterschied, dass im Fall meiner Mutter ich irgendwann erwachsen bin (das ist der Punkt, an dem ich das Ritual, z.B. Zähneputzen, kapiert haben muss und es von selber mache oder auch nicht) und im Fall der Priesterin wäre es meine eigene Initiation in den Kult oder so. Leere Rituale wären dann vielleicht die, deren Sinn überhaupt niemand mehr weiss und die man einfach nur macht, weil einem nichts besseres einfällt? Vielleicht ist das auch das Problem mit den üblichen kirchlichen Ritualen und meinem Unbehagen daran - nicht nur dass ich den Sinn nicht kapiere, sondern diejenigen, die sie zelebrieren, kapieren ihn selber nicht (oder vermitteln mir zumindest diesen Eindruck) Und dann, Ina, nützt es nämlich auch nichts, wenn ich selber einen Sinn da rein stecke oder mir einen neueen Sinn suche. Was da noch fehlt ist Autorität, glaub ich. (8.11.00)

 

Ina Prätorius:

Diese Unterscheidung von Ritual und Gewohnheit mache ich nun gerade nicht. Für mich ist das gemeinsame Essen oder das Zähneputzen ein Ritual, und für die geistliche Praxis im "engeren"(?)  Sinne verwende ich diesen Begriff gar nicht. Zwar scheinen mir Wiederholungen in einem bestimmten Sinne, den ich gegenwärtig zu entdecken versuche, auch für mein BetDenken wichtig, aber ich spreche dann lieber von "Liturgie". Liturgie heisst Weg. Und im Bild des Weges ist für mich das Zusammentreffen von Vorwärtsgehen und Wiederholen gut ausgedrückt: Ich mache viele ähnliche Schritte, die mich auf dem Weg weiterbringen, aber keiner ist genau gleich wie der andere, weil jeder an einem anderen Ort stattfindet. Ja, sicher ist auch in diesem Bereich, den wir gerade diskutieren, die Autorität ein, wenn nicht der Knackpunkt. Vor Jahren habe ich mal in Taize einen gemütlichen älteren Amerikaner getroffen, der unbedarft seine Einschätzung in die Runde warf, den Kirchen fehle heute "spiritual leadership". Daraufhin ging ein Aufschrei durch die mehrheitlich mitteleuropäisch besetzten Reihen. Dass die Zukunft der Kirche oder auch der Welt (u.a.) von besonderen Menschen und ihren besonderen Handlungen abhängen könnte, kam da absolut nicht in die Tüte - und dies ausgerechnet in Taize, das ja bekanntermassen von der Autorität eines dieser wenigen starken spiritual leaders lebt. Ja, ich finde Autorität auch sehr wichtig. Und genau aus diesem Grund reicht es mir nicht, meinen persönlichen Sinn in bewährte kirchliche Formen zu legen. Zusätzlich zettle ich z.B. auf dieser Liste eine Debatte über spirituelle Praxis an. Und ich lade in meinem Dorf dazu ein, mit mir zusammen zu schweigen und zu beten und dann darüber nachzudenken, was dabei passiert (und genau dazu brauche ich dann, aus ganz praktischen Gründen, die Wiederholung, weil nämlich die Leute sonst nicht wissen, wann sie wohin gehen sollen). Und weil Autorität ein Geschehen zwischen FrauenMenschen ist,  finde ich es auch problematisch, dass so viele Frauen lieber ihr eigener Privatguru werden wollen, statt sich in der Tradition anzusiedeln. Mein Glück ist vielleicht, dass ich der christlichen Tradition denkerisch genug abgewinnen kann, um mein unbemanntes Neuees dezidiert und überzeugt innerhalb der Kirche anzusiedeln. (8.11.00)

 

Alexandra Robin:

okay, ich denke, es ist sicherlich wichtig, sich in der tradition anzusiedeln. die frage ist, in welcher. und da ich denke, ist es mir nicht möglich, meine spirituellen wurzeln ausgerechnet in der des katholizismus zu versenken, die eigentlich die meinen sind. abgesehen vom -äh- spirituellen gehalt dieser institution existiert da noch eine politische seite, die ich nicht übersehen kann. die kirche als institution hat sich hervorgetan durch eine geschichte, die durchzogen ist von mord, ausbeutung und verbrechen gegen die menschlichkeit. in dem dorf aus dem ich komme, hat genau eine frau die inquisition und hexenverbrennung überlebt- auch das sind meine wurzeln. die vatikanbank ist eine der größten und mächtigsten geld-und sonst was konzerne, eine sollte glauben, daß damit die versorgung der katholiken weltweit mit den grundlegenden dingen wie z.b. nahrungsmitteln gesichert sein sollte- was bekanntermaßen nicht der fall ist.über die haltung der kirche zu frauen muß ich mich nicht weiter auslassen- ich weigere mich, meine wurzeln in einem verein zu versenken, der behauptet, ich sei  die erbsünde und somit an allem schuld. ich könnte das noch differenzierter ausführen, aber ich habe das gefühl, dann würde ich zwei tage brauchen. insofern denke ich, daß frauen gut daran tun, zunächst mal ihr privatguru zu sein, die autorität niemanden als sich selbst zuzugestehen und die dinge höchst denkerisch radikal- zur wurzel gehend- zu betrachten. nicht nur die kirchentradition sondern auch diese ganzen esoterikgeschichten, die teilweise haarsträubende inhalte haben. zumal unsere spirituelle anbindung und die geschichte dieser anbindung via sozialisation, also internalisierung von werten, einen großen einfluß auf kultur und damit politik haben. jung hat seinerzeit die existenz eines kollektiven unbewußten festgestellt, richtig spannend wird es dann, wenn eine die jungsche archetypen auf ihren patriarchalen gehalt überprüft...und das sind motivationen für handlungen von menschen in der gegenwart! (9.11.00)

 

Ina Prätorius:

Natürlich hast Du recht. Und ich komme jetzt auch nicht daher und behaupte, dass ich als Protestantin viel besser dran bin. Das ist alles zusammen eine ausgeleierte Geschichte. Wir waren aber von den Mystikerinnen ausgegangen und von der Frage, warum in der neueen frauenbewegten Mystikrezeption die Bedeutung geistlicher Praxis für das Denken zu wenig reflektiert wird. Antje und ich hatten uns nun, wenn ich das richtig sehe, aufgrund unseres gemeinsamen Anknüpfens ans Denken der Geschlechterdifferenz darauf geeinigt, dass einsames spirituelles Vorsichhinnödeln (Stichwort: Privatguru) des wichtigen Aspekts der Autorität entbehrt. Da fehlt nämlich die Vermittlung, das Weitergeben von Sinn an andere...Und meine Antwort auf dieses wichtige Problem hiess dann, dass ich meine Experimente postpatriarchaler spiritueller Praxis (gestern Abend habe ich z.B. mit sechs ganz verschiedenen Leuten aus meinem Dorf sehr intensiv über die Bedeutung des Schweigens nachgedacht) im Gespräch mit bewährten (aber in patriarchaler Sinn-Losigkeit steckengebliebenen) geistlichen Praxisformen der Kirche entwickle und mich dabei mit den Mystikerinnen verbunden fühle. Wenn Du nun daherkommst und von den allseits bekannten Schandtaten der katholischen Kirche berichtest, wen bringt das dann weiter? Irgendwie habe ich keine Lust, dauernd wieder in diese alten Kritikdiskurse zurückzufallen. (9.11.00)

 

Alexandra Robin:

Ina, du hast das in einer früheren mail so ausgedrückt: ich schweige (...), nicht wirklich in der kirche, aber sehr nahe dran,anschließend an die kirchliche religion und ohne berührungsängste ihr gegenüber" und:"kann jemand die mystik überhaupt verstehen, der/die diese praxisformen ausser acht läßt bzw. die traditionell- antiklerikal- aufgeklärt- linken berührungsängste ihnen gegenüber nicht in frage stellt und bearbeitet?" genau diese spaltung  zwischen "politisch" und "spirituell" kann ich -im vollbesitz meiner o.a. berührungsängste -nein, -unlust gegenüber der institution - nur aufheben, indem ich in meiner spirituellen praxis meine wurzeln woanders wähle. damit kann ich doch frauen (mystikerinnen) der geschichte in ihrem kontext sehen.ich habe versucht, dem denken ( der philosophisch-politischen seite) und der erfahrung (der spirituellen, mystischen seite) den angemessenen platz zuzuweisen, aber anscheinend habe ich mich nicht klar ausgedrückt.ich kann mich über einen kritischen diskurs hinausbewegen , aber es hat ihn gegeben und das beeinflusst die richtung, in die ich mich darüber hinausbewege. (9.11.00)

 

Antje Schrupp:

Die Frage, wo wir unsere Traditionen suchen - dass das wichtig ist, darüber sind wir uns ja einig - lässt sich sowieso nicht mit "in dieser oder jener Institution" oder "außerhalb davon" beantworten. Das ist ja grade eine dieser falschen Alternativen, über die wir in der Flugschrift geschrieben haben. Ich würde sagen, meine Tradition liegt in der weiblichen Liebe zur Freiheit, und die gab es eben in all diesen Institutionen ebenso wie außerhalb und gleichzeitig an allen diesen Orten auch nicht. Ich finde es wichtiger, drüber nachzudenken, was diese Tradition ausmacht und möchte dafür nochmal auf unseren bisherigen Gedankengang zurückkommen: Natürlich hat sich diese weibliche Liebe zur Freiheit erstens im Denken ausgedrückt, d.h. wir finden Ansatzpunkte in dem, was Frauen gesagt oder aufgeschrieben haben. Davon ausgehend haben wir weitergedacht: Ina hat, im Bezug auf die Mystikerinnen, nach einer Praxis gefragt, die nicht nur das Denken betrifft, sondern eben spirituelle Handlungen wie Beten, Meditieren, Visionen haben etc. (hattet Ihr schonmal Visionen? Darüber würd ich auch gern mal reden). Und ich hatte und Berufung auf Chiara Zamboni gesagt, dass wichtig dabei ist, sich für die Transzendenz zu öffnen, dass es also "Erkenntnisformen" gibt, die jenseits des Verstandes liegen und dass Rituale im Sinne von Wiederholungen dieser Öffnung vielleicht eher schaden. Alexandra hat dann auf einen Unterschied zwischen Ritual und Gewohnheit hingewiesen, den ich plausibel finde, Ina nicht so. Darüber sollten wir vielleicht nochmal nachdenken. Und darüber, was "Autorität" in dem Zusammenhang bedeutet. Mir fallen dabei zur Zeit halt immer die Candomblé-Priesterinnen ein, die ich in Salvador getroffen habe (übrigens, dazu hab ich grade einen Text auf meine homepage gestellt,  www.antjeschrupp.de :) - da äußert sich Autorität zum Beispiel auch darin, dass eine mit Autorität das Ritual ändern kann, eine ohne nicht. Also: Die Priesterin kann bestimmen, dass man heute mal davon abweicht. Diese Autorität macht sich natürlich in formal an ihrer Stellung fest, die sie aber vor allem durch die Länge der Initiation bekommt und nicht durch Charisma und Eloquenz , also durch persönliche Fähigkeiten (wie meiner Meinung nach viele dieser spirituellen Führer, die so medienerfolgreich sind - in dieser Hinsicht hatte ich auch bei deinen Beispielen von "spiritual leadership" einige Zweifel, Ina). Also in gewisser Weise entsteht ihre Autorität durch drei Teile: Erwählung durch die Gottheit, ihre eigene Geduld und die Ausdauer im spirituellen Leben, und durch die Anerkennung der Gemeinde, von der sie als Priesterin akzeptiert wird. Vielleicht ist genau diese Dreiheit notwendig: Gott, Ich und die Menschen, mit denen ich in Beziehung stehe. Eines allein reicht nicht, man braucht alles drei. (9.11.00)

 

Ina Prätorius:

Jetzt wollte ich Dich, Alexandra, gerade fragen, wo sich denn Dein schönes "Woanders" befindet, von dem aus Du so scharf und ungnädig benennen kannst, was falsch läuft... Antjes Mail macht diese Frage aber eigentlich überflüssig, denn ich meine, diese Beschreibung von (spiritueller wie denkerischer) Autorität beantwortet eben diese Frage, wie aus dem imaginären Kritik-Anderswo eine Wirklichkeit mit Bestand werden kann. Diese drei Elemente Dauer/Geduld - Vision - Anerkennung sind es, die uns aus privater Negativität in postpatriarchale Praxis führen können. Ich bete und schweige nun seit drei Jahren in dieser von mir privat angemieteten Wohnung nahe beim Pfarrhaus. Seit zwei Jahren lade ich öffentlich (und etwas widerwillig/irritiert unterstützt durch die lokale Kirchgemeinde) andere dazu ein. Am Anfang dachte ich, es müssten gleich die Massen strömen, was glücklicherweise nicht der Fall war. Inzwischen habe ich das Gefühl, immer mehr Zeit zu haben, je mehr Zeit ich mir lasse. Ob ich Visionen habe? Ja, zumindest die Vision, dass ich genau dieses und nichts anderes tun soll. (10.11.00)

 

Alexandra Robin:

was du sagst, Antje, kann ich nachvollziehen. es ist, denke ich, eine sache, wenn ich sage , ich lasse mich nicht auf die patriarchale logik ein, aber dann hab ich auch mit bestimmten strukturen nix am hut.  es ist meiner ansicht nach verkürzt zu sagen, eine abwendung von bestimmten traditionellen strukturen ist die bloße systemimmanente analyse / kritik und das motiv ist halbgar reflektierte berührungsangst. mystik und heilkunde haben traditionell enge berührung, es ist eine heidinnenarbeit, die traditionen wieder auszugraben, neu zu er-finden, zuviel ist verlorengegangen, eine masse wurde im christentum schlicht umgedeutet, pervertiert. und immer hat die struktur den inhalt beinflusst und umgekehrt. an der stelle bin ich unduldsam.ich versuche, einen anderen rahmen mit einer anderen religiösen praxis zu finden, einen, der sich "richtig" anfühlt, beim denken und beim tun,  der sich an die vorchristliche tradition anschließt. und das ist sehr schwierig, ich stoße immer wieder auf die patriarchalen prägungen, hier ist reflexion ausgesprochen wichtig. wie gesagt, ich rede von der praxis.  anscheinend machst du eine scharfe trennung zwischen alltag und (weiter)denken, ich bin da eher pragmatisch. (13.1.00)

 

Ina Prätorius:

Hallo Alexandra, irgendwie liest sich Dein Sprechen über Spiritualität so angestrengt: Heidinnenarbeit - Ausgraben - Kritisieren- Reflektieren – genau trennen... Ja, natürlich ist es schwierig, am Ende des Patriarchats eine stimmige "Spiritualität" zu (er)finden, wenn schon mal sämtliche Wörter - Spiritualität, Gebet, Meditation - verkehrt sind und in einem verkehrten Verhältnis zueinander stehen. Trotzdem: ich mache auch die Erfahrunng, dass es ganz einfach sein kann, wenn ich mal weiss, wo ich den Anfang setzen will und dass die Zeit (oder was auch immer, jedenfalls nicht "ich" allein) für mich den Sinn macht, den ich lange Zeit selber "machen" wollte. Ist das verstehbar? (13.11.00)

 

Claudia von den Choras:

Gebannt verfolge ich eure Diskussion und möchte nun etwas beisteuern, was vielleicht einen neuen Blick auf die Frage nach Glauben und Spiritualität für eine Frau in dieser patriachal geprägten Gesellschaft gibt. Denn es wird oft vergessen, dass unsere ersten Erfahrungen mit Religion eben über unsere Mütter geschehen.:Meine Freundin Andrea hat mir gestern einen Text gegeben in dem sie von "dem Glauben meiner Mutter" schreibt - einen Begriff, den sie von Luisa Muraro übernommen hat. In diesem Text betont sie, dass ihre Religiosität / Spiritualität etwas ist, was auf eine weibliche Vermittlung zurückgeht, nämlich ihre Mutter. Die Erfahrung, dass ihre Mutter eine pesönliche Gottesbeziehung hat, weckte in der Tochter das Begehren nach stimmiger und gelebter Spiritualität. Mit der Idee des "Weiblichen Gott" von Irigaray und der Praxis von Meditation und Gebet im Alltag hat sie einen Weg im Glauben gefunden, der die Abarbeitung an der symbolischen Ordnung der Amtskirche überflüssig macht. (15.11.00)

 

Ina Prätorius:

ich finde es sehr wichtig, dass Du in diesem Zusammenhang den Begriff der "Amtskirche" gebrauchst. Und was ist nun die Kirche, die nicht Amtskirche ist und über die - zumindest bei mir - oft die mütterliche Vermittlung läuft? Theologen nennen dieses "Andere Etwas" oft abschätzig die "Volksfrömmigkeit", und wenn sie nicht gerade eine Schwäche für Ethnologie haben, dann schweigen sie am liebsten drüber. Dass aber diese nichtamtskirchliche Frömmigkeit in der Realität stärker ist als die Amtskirche mit ihrer offiziellen patriarchalen Dogmatik, können wir zum Beispiel daran sehen, dass Weihnachten intensiver gefeiert wird als Karfreitag und Ostern. Dabei ist Weihnachten - das christliche Fest der Geburtlichkeit - theologisch ein "Nichts", das in keinem dogmatischen Lehrbuch ernsthaft behandelt wird. Trotzdem scheint allen klar zu sein, dass Weihnachten - jedenfalls im Westen und ganz besonders im deutschsprachigen Raum - das kirchliche Hauptfest ist. Die mütterliche Vermittlung (Weihnachten gilt als Kinder- und Familienfest ) ist also in der Realität stärker als die "Amtskirche" und das finde ich schön. Und ich bin auch schon eifrig dabei, so eine Art nichtamtskirchliche Weihnachtstheologie zu entwickeln, in der meine (Musikerin-)Mutter eine wichtige Rolle spielt. (15.11.00)

Home