Antje Schrupp im Netz

Die Pariser Kommune war schlechter als ihr Ruf

in: Graswurzelrevolution Nr. 387, März 2014

Kürzlich stellte ich zufällig fest, dass die Pariser Kommune von 1871 den unverdienten Ruf hat, eine Vorkämpferin für das Frauenwahlrecht gewesen zu sein. Sieben Jahre lang stand nämlich in der deutschen Version des Online-Lexikons Wikipedia im Artikel zum Frauenwahlrecht der Satz: „1871 führte die Pariser Kommune das Frauenwahlrecht ein. Mit der Niederschlagung durch die französischen Regierungstruppen im selben Jahr wurde jedoch auch dieses neue Recht wieder aberkannt.“ Und viele, viele schrieben es ab.

Schön wär’s. Richtig ist, dass viele Frauen während der Kommune sehr aktiv waren, sie gründeten Vereine und Clubs, pflegten Verwundete auf den Schlachtfeldern, kämpften auf den Barrikaden. Das Wahlrecht aber war damals kein Thema – kein Wunder in einem Land, dessen Arbeiterschaft stark von proudhonistischer Frauenfeindlichkeit geprägt war. In den Dekreten der Kommune ist zwar permanent vom „suffrage universel“ die Rede, also vom allgemeinen Wahlrecht, aber damit war nur das allgemeine Männerwahlrecht gemeint.

Nein, die Kommune war keine feministische Veranstaltung. Dass die Frauen dort eine so prominente Rolle spielten, liegt allein am Engagement und am Aktivismus der Frauen selbst, die die Dinge in die Hand nahmen. Von Seiten der rein männlich besetzten Kommuneregierung hingegen waren Frauen ausschließlich als Ehefrauen und Witwen im Blick. Ihre Veröffentlichungen sangen durchgehend das Lied vom Wert der Familie als Keimzelle der Gesellschaft, mit einer treusorgenden Ehefrau und Mutter im Zentrum. Gegen Frauen, die diesem Bild einer guten Revolutionärin und Familienmutter nicht entsprachen, wurde gehetzt. Die Kommune verbot Prostitution und verfolgte Frauen, die im Verdacht standen, diesem Gewerbe nachzugehen. Ebenso gab es Forderungen, „bourgeoise Frauen“ aus der Stadt zu verjagen, vor allem dann, wenn Sie Betriebe führten, die man enteignen konnte.

Mir ist der Fehler mit dem angeblichen Frauenwahlrecht der Kommune rein zufällig beim Googeln aufgefallen, und ich habe den entsprechenden Satz dann aus Wikipedia gelöscht. Was auch unproblematisch ging, weil es für den ursprünglichen Eintrag keinerlei Belege gab. Nachforschungen ergeben, dass der Satz 2007 von einem User namens „Spitzl“ eingefügt worden war. Bei der Diskussion jetzt gab er an, die Information damals aus der englischen Wikipedia übernommen zu haben. Dort gibt es auch keinen Beleg, und so hinterließ ich noch einen entsprechenden Hinweis auf der Diskussionsseite zum Artikel „Women’s Suffrage“, derzeit steht die Falschinformation dort aber noch.

Eine interessante Erfahrung bei alldem: Ich erlebte, wie stark der Sog ist, eine Behauptung, die man „schwarz auf weiß“ im Internet findet, für wahr zu halten. Als ich die Behauptung vom Frauenwahlrecht der Kommune auf Wikipedia zum ersten Mal sah, war mein spontaner Impuls noch: „Was ein Quatsch”. Ich weiß es ja besser – ich habe mich für meine Dissertation schließlich intensiv mit der Pariser Kommune beschäftigt, und von einem Frauenwahlrecht war mir dabei nichts untergekommen.

Mein zweiter Gedanke war aber: „Und wenn ich mich bisher geirrt habe?” Dieser zweite Gedanke wurde noch stärker, als ich „Pariser Kommune + Frauenwahlrecht” googelte und auf all die vielen Seiten stieß, wo genau diese Behauptung drinsteht. Darunter nicht nur zahlreiche Blogs und Forumseinträge, sondern auch seriöse journalistische Seiten, wie etwa Frauennet.ch oder die österreichische Zeitung Der Standard.

Meine spontane Reaktion, dass ich angesichts all dieser sichtbaren „Belege” an dem zu zweifeln anfing, was ich doch sicher weiß, hat mich überrascht. Theoretisch weiß ich natürlich, dass man nicht alles glauben darf, was im Internet steht. Und die Referenzen waren so nah am Wikipedia-Eintrag, dass eigentlich klar war, dass alle nur dort abgeschrieben hatten. Aber das Gefühl „Ich kann doch nicht Recht haben, wenn überall im Internet steht, dass es anders war” war sehr stark, ich musste mich mit rationaler Anstrengung und strikter Logik erst wieder selber davon überzeugen, dass ich tatsächlich Recht habe.

Dieser Impuls des Zögerns ist zwar eigentlich lobenswert, aber letztlich fand ich es unterm Strich doch beängstigend. Denn es handelte sich hier ja nicht um die gedankenlose Weiterleitung irgendeiner Spekulation, sondern darum, öffentlich zu sagen, was ich weiß. Trotz all meiner Forschungen zum Thema ließ ich mich, jedenfalls kurzzeitig, von einer Menge, die unbelegte Wikipediabehauptungen copypastet, verunsichern.

Bei den Diskussionen, die ich zu dem Vorfall auf Twitter und in meinem Blog führte, fiel mir ein weiterer Mechanismus auf. Viele schrieben zum Beispiel etwas ähnliches wie „Ich könnte mir gut vorstellen, dass es in der Kommune das Frauenwahlrecht gegeben hat, weil es zu ihrer allgemeinen Richtung gepasst hätte.“ Diese Art von Zirkelschluss ist nur allzu verständlich – wir sind eher geneigt, das für wahr zu halten, was wir uns vorstellen können. Aber unter den Bedingungen von „copy and paste“ führt das eben sehr schnell zur Ausbreitung von Falschinformationen.

Mir wurde an diesem Beispiel auch klar, dass es in Bezug auf Medienkompetenz im Internet nicht nur darauf ankommt, vorsichtig zu sein mit Behauptungen, die man nicht selber verifiziert hat. Sondern dass es andersrum genauso wichtig ist, Vertrauen in sich selbst zu haben und in das, was man weiß oder selbst erlebt hat. Auch wenn die „Massen” das anders sehen.